
- Warum zieht es Frauen aus dem Westen in den Islamischen Staat?
Linda W. ging offenbar aus Sachsen in den Nahen Osten, um sich dem IS anzuschließen. Die Miliz hat ein Propaganda-System aufgebaut, mit dem junge Frauen ihren Altersgenossinnen paradiesische Versprechungen machen. Doch die Desillusion folgt meist schnell
Und dann siegte doch nicht das Kalifat, sondern das Heimweh. „Ich will weg aus dem Krieg, weg von den vielen Waffen, dem Lärm“, sagte Linda W. laut NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung, nachdem sie in Mossul gefasst worden war. Inzwischen ist das 16-jährige Mädchen aus Sachsen weltberühmt geworden. Freiwillig war sie vor gut einem Jahr in den Nahen Osten gezogen. Dort wurde sie mit einem Kämpfer des sogenannten Islamischen Staates verheiratet. Noch in Deutschland hatte sie sich radikalisiert. Doch wie konnte es überhaupt dazu kommen? Wieso drängt es junge Frauen aus den Westen in das entbehrungsreiche Leben des Dschihad?
Frauen locken Frauen
„Nur nachdem Du die Frau eines Mudschahed (Dschihad-Kämpfer) geworden bist, wird Dir bewusst, warum der Lohn dafür so hoch ist“ – so lautet ein Tweet von Aqsa Mahmood. Dass dies tatsächlich ihr Name ist, dass sie aus dem schottischen Glasgow stammt, dort Medizin studierte und sich wahrscheinlich 2013 dem IS anschloss – all das wurde erst bekannt nachdem sie über mehrere Jahre unter dem Namen Umm Layth Propaganda für die Terrororganisation gemacht hatte. Es gilt als sehr wahrscheinlich, dass sie drei weitere Mädchen aus London nach Syrien gelockt hat. Wie viele es tatsächlich sind, lässt sich kaum nachprüfen. Insgesamt gehen Untersuchungen von mehr als 200 Frauen aus, die aus westlichen Ländern in die Gebiete des IS gekommen sind.
Doch eines scheint klar: Aqsa Mahmood war Teil eines Systems, dessen Ziel es war, junge Frauen aus dem Westen in den Islamischen Staat zu bringen. Eine US-amerikanische Frau namens Huda Muthawny schien für Mädchen aus den USA zuständig zu sein. Eine, von der wir nur den Vornamen Bushra kennen, konzentrierte sich offenbar auf Italienerinnen, von Saudi-Arabien aus macht sie Propaganda auf italienisch. Die berühmteste Anwerberin war die ehemalige britische Punk-Rockerin Sally Jones. 2013 heiratete Jones den IS-Hacker Junaid Hussain und lockte fortan Mädchen über soziale Medien in die syrische Terrorhochburg Rakka. Zudem ließ sie sich unter den Namen Umm Hussain al-Britani in Nonnentracht und mit Pistole fotografieren und soll eine Truppe von IS-Kämpferinnen ausgebildet haben, wie der britische Telegraph berichtete.
Gedichte, Kochtipps und Emoticons als Lockmittel
Das Londoner Institut für strategischen Dialog (ICSR) hat die Online-Aktivitäten mehrerer Frauen überprüft und ausgewertet und daraus mehrere Dossiers zusammengestellt (zum Beispiel diese). Die Forscherinnen Erin Marie Saltman und Melanie Smith zeigen darin auf, dass die IS-Frauen komplexe Netzwerke über die verschiedenen Online-Plattformen etabliert haben. Wurde ein Konto geschlossen oder gesperrt, tauchte kurz darauf ein neues auf. Die Werberinnen wie Aqsa Mahmood oder Huda Muthawny nutzten verschiedene Propagandamittel. Dazu gehören Fotos von Sandstürmen oder gefährlichen Episoden bei der Einreise, die wohl die Abenteuerlust wecken sollten; verklärende Gedichte, da die Poesie in arabischen Ländern einen hohen Stellenwert hat („Nein! Sagt nicht: Wir brauchen keinen Jihad. Denn es gibt kein gutes Leben, ohne dass wir unser Blut opfern“, schreibt eine Syrerin, die sich Ahlam al-Nasr nennt, „Träumerin des Sieges“); und Alltagstipps, etwa wie man im „Kalifat“ leckere Mahlzeiten zubereiten kann und wie sich die komplizierte Einreise nach Syrien bewerkstelligen lässt.
Das alles wurde in einer Sprache vermittelt, die auf die Teenager abgestimmt ist. Eine Mischung aus Slang, der einen oder anderen islamischen Weisheit und vor allem jeder Menge Emoticons. Das hauptsächliche Lockmittel war aber die Ideologie. Wer sich als Frau den IS-Kämpfern anschloss, der wird ein sicherer Platz im Paradies und die Teilhabe an der Konstruktion einer utopischen Gesellschaft versprochen. Ein frommes Leben, frei von den Zwängen der westlichen Konsumgesellschaft und sogar eine verquirlte Form der Selbstverwirklichung als Frau.
Warten auf den IS-Ehemann
All das sollte vor allem durch die Heirat eines IS-Kämpfers erreicht werden. Zwar gab es für einige Frauen die Möglichkeit, aktiv an dem Heiligen Krieg teilzunehmen, indem sie Mitglied der weiblichen Khansaa-Brigade wurden. Deren Aufgabe war es, in den Straßen der nun von einer internationalen Allianz zurückeroberten einstigen IS-Hochburgen wie Rakka und Mossul die religiöse Tugendhaftigkeit der Frauen zu bewachen. Vor allem aber ging es darum, dass die Frauen möglichst schnell heirateten und die ihnen zugedachte „fundamentale Rolle“ als Ehefrau und Mutter erfüllten. Auch wenn sie sich zum Teil gar nicht mit ihrem Mann verständigen konnten. Solche weltlichen Hindernisse seien zu vernachlässigen, wenn es Allahs Wille zu folgen gelte, schrieben die Werberinnen.
Tatsächlich scheint die Verkupplung einem streng geregelten Selektionsprozess gefolgt zu haben. Die Frauen wie Lisa W. konnten, im Gegensatz zur Scharia-Auslegung, ohne männlichen Begleiter in das IS-Gebiet einreisen. Dort wurden sie zuerst in einer Art Wohngemeinschaft, der Makar, untergebracht. In der Makar warteten sie dann auf die IS-Kämpfer, die kamen, um sich ihre Frauen auszusuchen. Einige Frauen behaupten, dass sie frei entscheiden konnten, ob sie einem Antrag annehmen oder nicht.
Der Emir sucht zuerst aus
Aber ob das der Realität entsprach, ist zweifelhaft. Vielmehr scheint es, als wären die Frauen den Kämpfern strikt nach deren Status zugeteilt worden. Das erste Zugriffsrecht hatten die Emirs, dann folgten ausländische Kämpfer. Die örtlichen, einfachen Kämpfer waren am Ende der Kette. Umso wichtiger der Ehemann ist, umso größer ist sein Haus und umso mehr besitzt auch seine Frau.
Auch verschwiegen wurde, was passiert, wenn der Ehemann stirbt. Zwar gilt es als höchst ehrenhaft und erstrebenswert, Witwe eines Märtyrers zu sein. Aber trat dieser Fall tatsächlich ein, ging es für die Frauen zurück in den Makar zwecks Wiederheirat. Nur diesmal sind sie keine Jungfrauen mehr und nicht annährend so wertvoll als Ehefrau. Kein Wunder, dass bei vielen Frauen genau an diesem Punkt die Desillusion einsetzte.
Leben wie ein Huhn im Käfig
Davon berichtete eine andere deutsche Dschihad-Braut dem Telegraph schon vor einigen Monaten. Die 28-Jährige, die sich Umm Aisha nennt, schrieb der Zeitung über Whatsapp: „Wenn dein Ehemann tot ist, oder die Situation gefährlich geworden ist, wirst du zu Häusern gebracht, wo viele Frauen zusammenwohnen. Man lebt wie ein Huhn im Käfig. Die Frauen werden sehr schlecht behandelt, sie sind wie Sklaven ohne Freiheit, nicht einmal das Haus dürfen sie verlassen.“ Und: Umso mehr das vermeintliche Kalifat zusammenfalle, desto brutaler würden die Frauen behandelt.
Statt einen hohen Lohn zu empfangen, mussten die Frauen für ihre Entscheidung, sich dem Dschihad anzuschließen, einen hohen Preis zahlen. Das gilt für Linda W und ihr Leben auch nach dem Islamischen Staat. Die irakische Justiz schließt nicht aus, dass ihr noch vor Ort der Prozess gemacht werden könnte. Mindestens wegen illegalen Grenzübertritts, vielleicht sogar wegen Terrormitgliedschaft. Sollte Linda W. nach Deutschland zurückkehren, muss sie sich wohl vor einem deutschen Gericht verantworten.