Europaparlament - Konterrevolution in der EU

Vor fünf Jahren galt Angela Merkel noch als die Königin europäischer Politik. Nach der Europawahl 2019 starteten die Regierungen jedoch die Konterrevolution mit Emmanuel Macron an der Spitze. Eine Komissionspräsidentin Ursula von der Leyen ohne Machtbasis spielt ihnen in die Hände

An der Spitze der Konterrevolution machte sich Emmanuel Macron daran, die „Königin“ zu entmachten / picture alliance
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Frank Lübberding ist freier Journalist und Autor.

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Vor fünf Jahren war die Welt zwar nicht in Ordnung, aber wenigstens in der EU die Machtfrage geklärt. Die deutsche Kanzlerin galt als die ungekrönte Königin der europäischen Politik. Die Bundestagswahl hatte Angela Merkel phänomenal gewonnen. Die Eurokrise schien eingedämmt, nicht zuletzt wegen der faktischen Entmachtung der Bundesbank. Die Europäische Zentralbank unter ihrem Präsidenten Mario Draghi machte das Gegenteil von dem, was deutsche Ökonomen in ihrer überwältigenden Mehrheit für richtig hielten.

Griechenland und andere Krisenstaaten wurden zwar mit einer rigiden Austeritätspolitik überzogen, aber dafür interessierte sich kaum ein Wähler im prosperienden Deutschland. Trotzdem hatte es die AfD als Vereinigung orthodoxer Ökonomen nicht in den Bundestag geschafft. Die FDP erlitt das gleiche Schicksal, wenn auch aus anderen Gründen. Außerdem war Frankreich unter seinem Staatspräsidenten François Hollande wieder in den alten Krisenmodus zurückgefallen, was seine europapolitische Position empfindlich schwächte. Die Welt war zwar nicht in Ordnung, aber aus der Perspektive der Bundeskanzlerin bemerkenswert gut sortiert.

Die Idee des Spitzenkandidaten

Vor diesem Hintergrund fanden 2014 die Europawahlen statt. Mit José Manuel Barroso gab es seit zehn Jahren einen schwachen EU-Kommissionspräsidenten, der kaum mehr war als der Erfüllungsgehilfe der Bundeskanzlerin. Einen ähnlich farblosen Nachfolger zu finden, lag in ihrem machtpolitischen Interesse. Im europäischen Rat als Organ der Mitgliedsstaaten hätte sie niemand daran hindern können.

Nun ist die europäische Politik mit ihrem institutionellen Aufbau für Außenstehende weitgehend unverständlich. Die EU-Kommission ist als Hüterin der europäischen Verträge keine Regierung und damit nicht dem Parlament verantwortlich. Letzteres kann lediglich die Kommission auf Vorschlag des Rates bestätigen oder ablehnen. So fragten sich findige Menschen in den Hinterzimmern des Parlaments, wie man seine Rolle machtpolitisch aufwerten kann. Es entstand die Idee des Spitzenkandidaten für den Kommissionspräsidenten. Martin Schulz (Sozialdemokraten) und Jean-Claude Juncker (EVP) brachten in dieser Rolle zwei machtpolitische Voraussetzungen mit: Ihre Fraktionen hatten im Parlament eine solide Mehrheit – und beide standen nicht in Verdacht, Erfüllungsgehilfen der Bundeskanzlerin zu sein.

Merkel musste den Aufstand fürchten

Die EVP wurde trotz Stimmenverluste zur stärksten Fraktion. Damit galt Juncker als designierter Kommissionspräsident. Es fehlte lediglich noch die formelle Nominierung durch den Rat. Dort versuchten es die Regierungen mit der bewährten Obstruktionspolitik. Der Philosoph Jürgen Habermas bewertete in einem FAZ-Interview den Widerstand gegen Juncker als „Symptom der Verunsicherung.“ Die Bundeskanzlerin wolle zudem „das Fenster, das sich mit der frischen Luft der Europawahl für einen solchen Politikwechsel geöffnet hat, möglichst schnell wieder schließen.“

Schließlich sprach sich noch Matthias Döpfner in der Bild-Zeitung unmissverständlich für Juncker als Kommissionspräsidenten aus. Mit dieser Intervention des einflussreichsten deutschen Medienmanagers war dieser Streit im fernen Brüssel endgültig in der deutschen Innenpolitik angekommen. Angela Merkel musste den Aufstand im Europäischen Parlament fürchten. Schließlich hatten EVP und Sozialdemokraten selbst ohne die deutschen EVP-Abgeordneten eine Mehrheit. So akzeptierte Merkel angesichts einer drohenden Niederlage notgedrungen den früheren Luxemburger Premierminister. Im Machtkampf zwischen Parlament und Rat schien eine Zeitenwende angebrochen zu sein.

Mustereuropäer Emmanuel Macron?

Die ging schneller vorbei als gedacht. Fünf Jahre später gab es wieder Wahlen mit den Spitzenkandidaten der großen europäischen Parteienfamilien. Die kannte zwar kaum ein Wähler, was aber schon im Jahr 2014 niemanden stören musste. Sozial- und Christdemokraten sind heute nach dem Verlust ihrer absoluten Mehrheit im Parlament die großen Wahlverlierer. Während deren Abgeordneten noch ihre Wunden leckten, schritten die Regierungen zur Konterrevolution. 

An die Spitze der Bewegung setzte sich Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron. Er gilt zwar in Deutschland wegen einiger pathetischer Reden als Mustereuropäer, bewegt sich aber realpolitisch offenbar in der Tradition eines Charles de Gaulles. So kaperte er zuerst mit seiner Macron-Partei das liberale Parteienbündnis Alde. Anschließend machte er sich an das Werk, die Königin zu entmachten. Da störte das Beharren auf einen Spitzenkandidaten als zukünftigen Kommissionspräsidenten. Für einen Macron sind Parteien und Parlamente nur Erfüllungsgehilfen. Das sieht er nicht anders als die alt gewordene Monarchin.

Personalmenü mit Ursula von der Leyen als Hauptgang

So drohte er sogar, einen Hardliner aus den Brexit-Verhandlungen als Kommissionspräsidenten zu nominieren. Ob Macron mit einem Michel Barnier glücklich geworden wäre, ist zwar zu bezweifeln. Aber dessen Inthronisierung war auch nicht das Ziel, sondern einen Kommissionspräsidenten mit eigener Machtbasis zu verhindern. Das konnten lediglich die beiden Spitzenkandidaten Manfred Weber (CSU) und der Niederländer Frans Timmermans (PvdA) sein. Macron fand günstige Rahmenbedingungen vor. Die Amtszeit der Bundeskanzlerin geht unwiderruflich zu Ende und die Selbstentmachtung der SPD ist unübersehbar. Einen deutschen Juso-Vorsitzenden verspeist ein französischer Staatspräsident machtpolitisch zum Frühstück. Zudem ist für die Salvinis und Orbans im Rat ein schwaches Parlament mit einer schwachen Kommission ein gefundenes Fressen.

So kam es, wie es kommen musste. Die Regierungen einigten sich auf das Personalmenü mit Ursula von der Leyen als Hauptgang. Sie erfüllt alle machtpolitischen Voraussetzungen: Ohne Machtbasis in Brüssel oder Berlin gilt sie als das Geschöpf der Bundeskanzlerin. Nach deren Abgang ist von von der Leyen wenig zu erwarten. Timmermans und die aus Dänemark stammende Alde-Spitzenkandidatin Margrethe Vestager werden mit einem Vizepräsidentenposten vertröstet. Und Weber könnte notfalls EU-Gesandter in Bayern werden, falls er zur Mitte der Legislaturperiode noch nicht einmal Parlamentspräsident werden sollte.

Biedere Berufseuropäer

So ist das Fenster wieder geschlossen, das Habermas vor fünf Jahren diagnostizierte. Nicht für eine andere Politik, sondern für eine Machtverschiebung im Institutionengefüge der EU zugunsten des Parlaments. Es gab die Chance, das Vorschlagsrecht des Rates zur europarechtlichen Fassade werden zu lassen. Vergleichbar mit den Wahlmännern in den Vereinigten Staaten, die bis heute formal den amerikanischen Präsidenten wählen. Es aber nie wagen, das Wählervotum zu missachten: Noch nicht einmal bei einem Donald Trump. Dafür hätte man im Parlament die machtpolitische Kaltschnäuzigkeit eines Macron oder der früheren Merkel haben müssen. Deren Lust am Hinterzimmergeklüngel und die Bereitschaft, notfalls wie Macron mit Populisten zu dinieren.

Stattdessen diskutieren wir über die angeblich fehlende Qualifikation der bisherigen Verteidigungsministerin. Andere fragen sich ernsthaft, ob das Ergebnis ein letzter Triumph der Kanzlerin sei. Außerdem ist die SPD beleidigt, weil sich niemand mehr für sie nach der Proklamierung eigener Irrelevanz interessiert. Dafür bedauern immerhin Leitartikler mit europapolitischen Pathos den vermeintlich gebrochenen Wählerwillen.

Als wenn es sich bei den Spitzenkandidaten nicht um biedere Berufseuropäer, sondern um begeisternde Charismatiker gehandelt hätte. Tatsächlich kannte sie kaum ein Wähler. Dagegen wirkten Juncker und Schulz vor fünf Jahren fast schon wie ein Traumduo. So sind die Konterrevolutionäre im Rat die Sieger. Das Parlament hatte diesen Machtkampf schon verloren bevor er überhaupt begonnen hatte. Es darf die kommenden fünf Jahre am Katzentisch speisen. Trostloser geht es wirklich nicht.

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