
- Ein demokratischer Affront
Die Suche nach einer neuen Spitze der EU-Kommission entwickelt sich zum puren Chaos. Weil die Parteien im Parlament und die Regierungschefs im Europäischen Rat sich bekriegen, verhindern sie die beste Lösung für Europa. Stattdessen soll nun ausgerechnet Ursula von der Leyen kommen
Selten dürften sich die Bürger der Europäischen Union derart vereint fühlen, wie in diesen Tagen: Es herrscht paneuropäische Verwirrung. Zwar werden alle fünf Jahre die neuen EU-Ämter auf ähnlich undurchschaubare Weise ausgehandelt. Doch in diesem Jahr wirkt das Hickhack besonders unübersichtlich. Nach nächtelangen Diskussionen soll nun ausgerechnet die derzeit hoch umstrittene deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen neue EU-Kommissionspräsidentin werden. Donald Tusk wird sie dem Europäischen Parlament vorschlagen.
— Donald Tusk (@eucopresident) July 2, 2019
Beobachter reiben sich erstaunt die Augen, war von der Leyen doch bislang maximal als EU-Kommissarin gehandelt worden. Dass sie nun aber an die Spitze der EU-Kommission gewählt werden soll, zeigt, wie schlecht die EU-Verfahrensweisen insbesondere für Außenstehende nachzuvollziehen sind.
Mindestens vier wichtige Posten waren neben den EU-Kommissaren neu zu vergeben: Wer wird hoher Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik? Wer Präsident des Europäischen Rates? Wer wird neuer Präsident der EU-Kommission? Wer wird Präsident des Europaparlaments? Wer wird Chef der Europäischen Zentralbank (EZB)?
Die Vergabe dieser Ämter soll möglichst ein Kräftegleichgewicht zwischen den 28 Mitgliedsländern widerspiegeln. Doch nach Kategorien mit gewissen Zielkonflikten: Ost- und Westeuropa? Nord- und Südeuropa? Wirtschaftskraft? Bevölkerungszahl? Männer und Frauen? Regierungserfahrung? Parteizugehörigkeit? Um es gleich vorwegzunehmen: Es ist nicht möglich, alle zufriedenzustellen. Im Gegenteil, irgendein Land, irgendeine Partei hätte sich im Proporz-Poker übervorteilt gefühlt – egal wie es ausgegangen wäre. Zu Recht und zugleich zu Unrecht, denn für Fatalismus gibt es keinen Grund. Die EU, trotz dieses schwierigen Prozesses, existiert, prosperiert und ist nach wie vor einer der wichtigsten und wohlhabendsten Wirtschaftsräume der Welt.
Die unbekannten Spitzenkandidaten
Neben all den eben genannten Kriterien, die bei der fünffachen Postenvergabe beachtet werden, war ein weiterer Punkt besonders wichtig. Der neue EU-Kommissionspräsident sollte „Spitzenkandidat“ gewesen sein. Das Prinzip ist offengestanden eine ziemlich deutsche Erfindung. Es entspricht dem der Kanzlerkandidaten hierzulande. Auch diese können jeweils nur in ihren Wahlkreisen direkt gewählt werden. Ins Amt kommt am Ende. wer durch eine Mehrheit im Parlament gewählt wird. Auch Timmermans, Weber oder Vestager konnten nicht europaweit direkt gewählt werden, aber dann vom Parlament. Dieses auf die EU übertragene System ist so deutsch, dass im Französischen, wie im Englischen nicht mal ein eigenes Wort dafür verwendet wird. Es ist von „le/la Spitzenkandidat“ oder „the Spitzenkandidat“ die Rede.
Die Idee dahinter, auch bei der Europawahl: Das Spitzenkandidatenprinzip sollte mehr demokratische Identifikation stiften. Die Annahme: Die Bürger wüssten beim Ankreuzen im Wahllokal, welchen Spitzenkandidaten sie damit indirekt unterstützen. Die weitere Annahme: Sie würden auch erwarten, dass tatsächlich nur einer der Spitzenkandidaten auch EU-Kommissionspräsident werden könne. Während im Bundestagswahlkampf aber Angela Merkel und Martin Schulz in ganz Deutschland plakatiert wurden, war von den EU-Spitzenkandidaten auf den Wahlplakaten europaweit ziemlich wenig zu sehen. Wo sah man in Deutschland oder Italien etwa einen Frans Timmermans? Wo in Portugal oder Polen einen Manfred Weber? Und wo bitte sah man eine Ursula von der Leyen?
Warum haben die Parteien, die jetzt so auf dem Spitzenkandidatenprinzip beharren ihren Wahlkampf inkonsequent geführt? Jetzt fordern sie vom Europäischen Rat ein, er dürfe nur einen der Spitzenkandidaten vorschlagen. Mit welchem Erfolg ist nun zu sehen. Dabei wollten die gewählten Abgeordneten doch ein stärkeres Gewicht gegenüber dem Europäischen Rat der Regierungschefs haben, die qua Statut den Kandidaten vorschlagen dürfen. Denn tatsächlich steht nirgends rechtlich verbindlich geschrieben, dass die Regierungschefs einen der Spitzenkandidaten vorschlagen müssen. Das Problem: Das Parlament muss am Ende trotzdem zustimmen. Dennoch hat der Rat dieser Forderung nun nicht entsprochen. Wie ist es in dieser komplexen Gemengelage nun zu diesem Chaos gekommen?
Jeder gegen jeden
Mitschuld an Ursula von der Leyen haben auch die Parteien im Parlament. Von Seiten der EVP hieß es stetig, Manfred Weber (CSU) müsse EU-Kommissionspräsident werden, weil seine Partei die meisten Stimmen bekommen hat. Zum Vergleich: Die meisten Stimmen hatte auch der CDU-Quereinsteiger Carsten Meyer-Heder bei der jüngsten Senatswahl in Bremen bekommen. Bürgermeister wird er trotzdem nicht. Denn Rot-Grün-Rot kann mehr Stimmen auf sich vereinen. Außerdem war schnell klar, dass im Rat zu viele gegen Weber sind. Von Seiten der europäischen Sozialdemokraten hieß es dann, der Niederländer Frans Timmermans müsse neuer EU-Kommissionspräsident werden. Denn er würde im Parlament eine Mehrheit zustande bekommen. Doch die vielen EVP-Regierungschefs im Europäischen Rat waren natürlich dagegen ihn. Insbesondere jene aus den östlichen Visegrád-Staaten wollten ihn verhindern, weil Timmermans unter anderem Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen geführt hatte. Was allerdings weniger an persönlichem Groll, sondern an seiner Funktion als Vize-EU-Kommissionspräsident lag.
Um das Chaos zu komplettieren: Die ebenfalls diskutierte, mögliche dänische Kompromiss-Kandidatin und bisherige EU-Kommissarin für Wettbewerb, Margrethe Vestager, wurde insbesondere von den Grünen angegriffen, weil sie keine „echte“ Spitzenkandidatin gewesen sei. Tatsächlich war sie aber für ihre liberale Fraktion Alde, die wie die Grünen deutlich hinzugewonnen hat, Teil eines Spitzenkandidaten-Teams. Das sei „Verrat am Wähler“, unkten auch erstaunlich viele Journalisten, die jetzt kein Problem mit Ursula von der Leyen haben. Wer sich an den Wahlkampf erinnert: Beim einzigen TV-Schlagabtausch war Margrethe Vestager als Spitzenfrau ebenso zugegen wie Frans Timmermans, Manfred Weber oder Ska Keller. Keineswegs also wäre die Dänin aus dem Nichts gekommen. Die Argumentation gegen sie war insofern nicht nur kleinlich, sondern schlichtes partei- und nationalpolitisches Geplänkel um Macht. Was aber auch stimmt: Kaum ein Bürger kannte diese Spitzenkandidaten. Aber deswegen das Prinzip aufgeben, statt es auszubauen?
Mit aller Gewalt nun Ursula von der Leyen
Tatsächlich konnte das heilige Spitzenkandidaten-Prinzip bislang nur deshalb funktionieren, weil Sozialdemokraten und Christdemokraten im Europaparlament eine grokoartige Mehrheit bilden konnten: der einen Partei den Kommissionsvorsitz, der anderen Partei der Job des Parlamentspräsidenten. Aber, wie Wolfgang Schäuble es nicht besser sagen könnte: Isch over! Es gibt keine so leicht zu organisierenden Mehrheiten mehr. Demokratisch legitimiert ist, wer die meisten Stimmen bekommt und nicht nur die stärkste Fraktion. Es bleibt abzuwarten, ob von der Leyen eine Mehrheit für sich finden kann. Es ist jedenfalls bezeichnend, wie schnell insbesondere der EVP das Spitzenkandidatenprinzip egal zu sein scheint, wenn sie keine Mehrheiten finden.
Überall war zu lesen, wie Angela Merkel in all dem Chaos doppelt verloren oder sogar deutsche Interessen verspielt habe. Zuerst habe sie den EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber preisgegeben und dann sei auch noch ihr Vorschlag Frans Timmermans von der eigenen EVP-Partei abgeschmettert worden. Tatsächlich hat sie die deutsche Verteidigungsministerin erfolgreich platziert, auch wenn Emmanuel Macron sie vorgeschlagen haben soll, auch wenn sie sich aus Koalitionsräson bei der Abstimmung enthalten hat. Geschickt gemacht. Fällt von der Leyen im Parlament durch, hat die Bundeskanzlerin zumindest weder Ja noch Nein gesagt. Wenn aber alles nach Plan läuft, könnte das deutsche Gewicht sehr stark sein. Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin und nicht zu vergessen: eines der wichtigsten und einflussreichsten Ämter hat bereits ein Deutscher inne: Martin Selmayr ist Generalsekretär der Europäischen Kommission.
Gerade weil das biologische Geschlecht der Kandidaten keine Rolle spielen sollte, könnte man zwar nun trotzdem rufen: Endlich eine Frau als Präsidentin der neuen EU-Kommission! Aber von der Leyen entspricht nun am allerwenigsten jenem SpitzenkandidatInnen-Modell, wie das Parlament es einforderte. Kurz gesagt: Der Vorschlag ist ein demokratischer Affront – legitimiert durch demokratisch legitimierte Regierungschefs, aber gegen die paneuropäische parlamentarische Demokratie. Es ist demnach nicht ausgeschlossen, dass das Parlament ihr die Zustimmung verweigern wird. Hochrangige Vertreter von SPD und Grünen lehnen bereits ab. Selbst in den Reihen von CDU und insbesondere CSU rumort es gewaltig. Die EU-Abgeordneten haben es nun in der Hand, die von ihnen eingeforderte demokratische Glaubwürdigkeit zu verteidigen. Ansonsten schwächt sich das Parlament höchst selbst.
Margrethe Vestager wäre die beste Lösung
Statt Margrethe Vestager zu bekämpfen, hätten sich inhaltlich sowohl die Grünen, als auch die SPE und EVP hinter ihr vereinen können. Wenn sie denn ihren Stolz und Proporz hätten überwinden können. Selbst ins erzkonservative Lager hinein hätte die Dänin mit ihrer streng marktwirtschaftlichen Sichtweise integrieren können. Auf nationalstaatlicher Ebene genießt sie ebenfalls mehr Vertrauen als Frans Timmermans oder Manfred Weber: im Norden, Süden, Osten und im Westen. Ihr hartes Vorgehen gegen Kartellrechts- und Wettbewerbsverletzungen der großen US-amerikanischen Digitalkonzerne Amazon, Google, Apple oder Facebook, brachte ihr außerdem Respekt ein, selbst beim US-Präsidenten Donald Trump, der sie deswegen schon als „Feind“ bezeichnete. In seinem Game heißt das so viel wie höchste Anerkennung. Vestager hat sich auf jenem Feld bewiesen, auf dem die EU die größte Kompetenz hat: dem Feld der Wirtschaft.
Doch wie es nun aussieht, drohen die Beteiligten auch diese Chance für Europa zu verspielen. Zu groß ist der Proporz der Parteien und der Nationalstaaten. Die Regierungschefs der Visegrád-Staaten können sich zumindest zuhause als große Macher und Verhinderer von Weber und Timmermans aufspielen. War es das wert? Was hoffen lässt: Die zahlreichen und oft diskutierten Geburtsfehler der Europäischen Union haben bislang nie dazu geführt, dass sie nicht mehr funktioniert. Aber die nächsten fünf Jahre werden kein Selbstläufer. Die Zeiten haben sich geändert: Die Globalisierung, die Digitalisierung und mit den USA und China zwei völlig konträre und aggressiv konkurrierende Systeme werden die Europäische Union dominieren und schließlich unterminieren, wenn sie nicht geeint und selbstbewusst auftritt. Vestager hat mehrfach bewiesen, dass sie das kann. Von der Leyen mag europfreundlich und liberal sein, aber sie rettet sich zunächst von einer Berateraffäre und einer maroden Bundeswehr in die nächste Behörde. Es ist die höchste und wichtigste auf diesem Kontinent.