EU-Migrationsgipfel - Beschlüsse ohne Fahrplan

Die Europäische Union hat sich auf eine Verschärfung der Migrationspolitik geeinigt. Ob das nur eine unverbindliche Absichtsbekundung oder eine grundlegende Änderung ist, wird sich zeigen müssen. Vor allem Deutschland lehnt zahlreiche Maßnahmen ab.

Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni sieht die Beschlüsse als „großen Sieg“ / dpa
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Thomas Jäger ist Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.

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Wäre Präsident Selenskyj nicht auf dem EU-Gipfel aufgetreten, hätte das eigentliche Thema des Treffens der Regierungschefs viel mehr Aufmerksamkeit erfahren. So unrecht dürfte es ihnen aber gar nicht gewesen sein, dass ihre Beschlüsse zur Migrationspolitik ein wenig hinter der Prominenz des ukrainischen Präsidenten verschwanden. Denn seit nunmehr sechs Jahren bemühen sich die EU-Staaten, eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik zu beschließen. Sie war eines der Schwerpunktthemen, als Präsident Macron zu Beginn seiner ersten Amtszeit die besonders wichtigen europäischen Vorhaben skizzierte. Das war im September 2017, und die letzten beiden Jahre hatten nach dem Massenzustrom über die südosteuropäischen Außengrenzen der EU nicht nur einzelne Staaten an den Rand ihrer Handlungsfähigkeit gebracht, sondern auch offenbart, wie zerstritten die EU-Staaten bei diesem Thema sind. Im Grundsatz ist das bis heute so geblieben.

Ein Grund dafür ist die unterschiedliche Betroffenheit zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Asylsuche und Migration. Da sind auf der einen Seite diejenigen Staaten, die an den Außengrenzen der EU liegen, andererseits die Binnenländer. Das ist aber nicht die einzige unterschiedliche Betroffenheit, denn Asylsuchende konzentrieren sich dann innerhalb der EU auf einige Staaten, während andere eher als Durchreiseländer fungieren. Schließlich gibt es eine Gruppe von Staaten, die die Ursprungsländer der Migration mit harten Bedingungen zur Rücknahme derer bringen wollen, deren Asylantrag abschlägig beschieden wurde, während andere hier zurückhaltend reagieren. Aufgrund dieser unterschiedlichen Interessen ist es in den letzten Jahren zu keiner Einigung gekommen.

Für Grenzzäune gibt es keinen Konsens

Nun gab es Beschlüsse, und sie werden unterschiedlich bewertet. Während viele Beobachter darauf hinweisen, dass die Unentschiedenheit und Unstimmigkeit nur ein weiteres Mal durch freundliche Absichten kaschiert wurde, meinen andere, in den Beschlüssen stecke eine grundlegende Änderung der Migrationspolitik. Denn der Rat hat beschlossen, „Maßnahmen der Mitgliedstaaten zu finanzieren, die unmittelbar zur Kontrolle der EU-Außengrenzen beitragen“. Genannt werden Infrastruktur und Überwachungstechnologie. Das heißt, die EU-Kommission wird Infrastruktur an den Grenzen finanzieren, Grenzgebäude, Überwachungsinstrumente, auch zur Luftüberwachung und Infrastruktur. Wieviel Geld hierfür bereitgestellt wird, ob es Millionen oder Milliarden sind, wird mit über die Ausgestaltung der Umsetzung entscheiden.

Grenzzäune werden nicht genannt. Aber sie sind genau das, was diejenigen Staaten fordern, die stark von der Migration betroffen sind. Weil es dafür keinen Konsens gibt – Deutschland und Luxemburg sind dagegen – und die EU-Kommission diese deshalb nicht bezahlen will, könnte jetzt ein budgetärer Ringtausch angelegt sein: Die EU-Kommission finanziert Maßnahmen des Grenzmanagement aus den nationalen Haushalten, und in diesen werden dann Mittel für Grenzzäune frei. Ob der Gipfel also auf diese Weise die Wende im Sinne dieser Staaten erbracht hat, wird sich erst in den nächsten Jahren erweisen. In den letzten zehn Jahren wurden die befestigten Grenzanalagen an den Außengrenzen der EU von 300 auf 2000 Kilometer erweitert. Sie werden wohl weiter ausgebaut werden.

 

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Der Handlungsdruck wird von den Staaten als unterschiedlich hoch eingeschätzt. In Griechenland, Italien und Bulgarien gilt er als sehr hoch. Über 330.000 Menschen kamen im letzten Jahr irregulär in die EU. Das sind deutlich weniger als 2015 und 2016. Die hohe Zahl von vier Millionen Geflüchteten aus der Ukraine, vertrieben von den Bomben Russlands, die das Leben dort bedrohen, bringen Kommunen, in denen die Menschen aufgenommen werden, an den Rand des Leistbaren – und mancherorts darüber hinaus. Die EU-Staaten sind aber unterschiedlich betroffen. Der österreichische Bundeskanzler, der besonders vehement auf konkrete Maßnahmen drang und einen Beitritt Bulgariens zum Schengenraum der Grenzübertritte wegen verhindert, hat dabei im Blick, dass die Zahl der Asylanträge in Österreich im letzten Jahr um 172 Prozent gestiegen ist. Das sticht selbst aus den Staaten heraus, die mehr Asylanträge zu verzeichnen hatten: In Spanien stiegen sie um 79 Prozent, in Italien um 54 Prozent. Im Vergleich dazu war es in Deutschland nur ein Anstieg von 19 Prozent.

Die EU-Staaten sind nicht zu zielgerichtetem Handeln in der Lage

Auch bei den Rückführungen gibt es keinen Konsens, wie weiter vorzugehen ist. 2021 haben von 340.000 abgelehnten Asylsuchenden lediglich 70.500 die EU verlassen. Eine Mehrzahl von Staaten will die Herkunftsländer unter Androhung des Entzugs von Unterstützung dazu bringen, hier kooperativer zu sein. Restriktive Visamaßnahmen werden in der Erklärung genannt. Insbesondere Deutschland lehnt dies eigentlich ab und dringt auf größere Anreize für die Rückkehr als auch Druck.

Beide Vorgehensweisen aber werden die irreguläre Migration nicht eindämmen, denn die Anziehungskraft der EU-Staaten wird zukünftig ebenso bestehen bleiben wie die Gründe, die Herkunftsstaaten zu verlassen. Die demographische Entwicklung des geographischen Umfelds der EU ist ja seit vielen Jahren bekannt. Die Bevölkerung in diesen Staaten wird in den nächsten Jahrzehnten sehr stark ansteigen. Aber wie bei anderen Herausforderungen auch beließen es die Regierungen dabei, sich darauf nicht vorzubereiten. Ob der Gipfel nunmehr eine Änderung des Managements der EU-Außengrenzen bedeutet, wird sich bei der Umsetzung zeigen. Der Handlungsdruck einiger besonders betroffener Staaten scheint dies hervorzubringen. Das bedeutet aber, dass die EU-Staaten auch auf diesem Gebiet – wie etwa auch auf dem der äußeren Sicherheit – nicht zu zielgerichtetem Handeln in der Lage sind. Das ist angesichts der neuen Lage in Europa – und der Konkurrenz mit Russland im geopolitischen Umfeld der EU – keine positive Nachricht. Denn die Destabilisierung der EU-Staaten, auch über irreguläre Migration, bleibt ein Mittel Russlands, seine Ziele in Europa zu erreichen.

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