Die Zukunft Russlands - „Zwang ist das Herzstück des russischen Machtsystems“

Mit dem Überfall auf die Ukraine hat Putin seinem territorialen Machtanspruch Taten folgen lassen und sein Land gleichzeitig vom Westen isoliert. Im Interview spricht der Russland-Biograf Orlando Figes über die mögliche Zukunft des Riesenreichs – abgeleitet aus Vergangenheit und Gegenwart.

Der russische Präsident Wladimir Putin spricht während der Feierlichkeiten anlässlich der Eingliederung der ukrainischen Regionen in Russland auf dem Roten Platz in Moskau / picture alliance
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Autoreninfo

Thomas Speckmann ist Historiker und Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität Potsdam.

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Orlando Figes kam 1959 in London zur Welt und lehrt dort als Professor für Geschichte am Birkbeck College. Er zählt zu den renommiertesten Historikern Großbritanniens und ist Verfasser international hochgelobter Bücher zur russischen Geschichte, darunter das Standardwerk „Die Tragödie eines Volkes“. Soeben erschien „Eine Geschichte Russlands“ im Verlag Klett-Cotta (448 Seiten, 28 Euro).

Herr Figes, ist Russland mit dem Westen im Krieg?

Ja, das ist es. Ich glaube aber nicht, dass es bei dieser Aussage allein darum gehen sollte, ein Gefühl der Bedrohung zu erzeugen, um die Bevölkerung im Westen zu mobilisieren. Ich glaube, diese Aussage trifft zu, da sich Russland ideologisch gesehen mit dem Westen im Krieg befindet. Es liegt an den Ideologien, die ich versucht habe, in meinem neuen Buch zur Geschichte Russlands zu erklären – im Sinne dessen, woher die Russen kommen, in Bezug auf die Mythologie, die historischen und die religiösen Ideologien. Sie sind alle dem Westen gegenüber antithetisch.

Auch Putins Version des Slawophilismus ist dem Westen gegenüber feindselig, da sie ihn als eine existenzielle Bedrohung fürchtet. Dabei glaube ich jedoch, dass Russland heute mit dem Westen nicht im Krieg wäre, wenn nach 1991 eine andere Haltung gegenüber Russland geherrscht hätte, wenn ein neues Sicherheitsarrangement für Europa, wie es Gorbatschow formulierte, vom Atlantik bis zum Ural geschaffen worden wäre. Dass es anders gekommen ist, hat zu einer mächtigen Mythologie und Ideologie des antiwestlichen Nationalismus geführt, der nicht nur Russland gegen den Westen aufbringt, sondern auch nach Allianzen für China, Iran, Indien, Lateinamerika und alle anderen sucht, die die gleichen Beschwerden gegenüber dem Westen empfinden.

Wird der Westen von Russland angegriffen? Und wenn ja, seit wann und wodurch?

Die Russen sehen das nicht so. Sie sagen, sie verteidigen sich lediglich. Sie befinden sich in einem Krieg mit dem Westen, der eine Art nicht erklärter Krieg ist. Aber er existiert. Und in ihm ist praktisch alles eine Waffe: Energie, Finanzen, kriminelle Kryptowährung, um die russische Kriegführung zu finanzieren, Flüchtlinge. Das haben die Russen bereits in Syrien versucht. Jetzt ist es Teil ihrer militärischen Planung, dass die Zerstörung der Infrastruktur der meisten ukrainischen Städte eine massive Flut von Flüchtlingen in den Westen auslösen soll. Und all das basiert auf der Vorstellung, dass der Westen darauf aus ist, Russland zu zerstören, weil er imperial wäre oder Nazicharakter hätte, ein kapitalistisches System, das von Amerika dominiert werde. Russland hingegen hätte höhere geistige Werte, die verteidigt werden müssten.

Hat der Kalte Krieg eigentlich jemals geendet? Oder ging er auch nach dem Fall der Mauer weiter?

Es kam zu einer Atempause. Es kam zu Gelegenheiten, mit Russland neue Sicherheitsvereinbarungen zu schließen. Es kam in den frühen Putin-Jahren nach 9/11 zu einer Zusammenarbeit im „Krieg gegen den Terror“. Die russische Wirtschaft wuchs – sie wurde immer stärker in das westliche System integriert. Es gab also viele Arten von Möglichkeiten, den Kalten Krieg zu beenden. Aber die Sichtweise im Kreml wird wahrscheinlich sein, dass der Kalte Krieg nie wirklich endete, weil es nicht wirklich einen Platz für Russland im Westen gab. Es wurde klar, dass Russland nicht Mitglied in Nato und EU und damit nicht Teil des Westens werden würde. Und es gab sicher viele Leute in Putins Umgebung, die schon in den frühen 2000er Jahren Rache für das nehmen wollten, was der Westen im Kalten Krieg getan hatte.

Wurde dies nur nicht wahrgenommen in der westlichen Öffentlichkeit, die ihre Friedensdividende möglichst ungestört genießen wollte?

Ich halte das für möglich – vor allem in Bezug auf die angesprochene Feindseligkeit aus Russland. Man war im Westen ziemlich weit weg von der russischen Perspektive, dass der Kalte Krieg nicht wirklich zu Ende war. Man träumte von einer Welt, in der dies geschehen war. Ein Teil der Friedensdividende war die Einbeziehung von Mittelosteuropa in die westliche Sphäre mit all den Vorteilen, die auch die Arbeitsmigration in den Westen brachte. Dort wurde Russland nicht mehr als Bedrohung gesehen, noch nicht einmal mehr als Macht, die vor wichtigen Entscheidungen zu konsultieren war. Daher wurde dann die westliche Kosovo-Intervention zum Brennpunkt. Russland fühlte sich ignoriert, abgewertet, verachtet. Dabei hatte es einen langen historischen Weg mit Serbien. Hinzu kam, dass die Übernahme dessen, was Russland zu bieten hatte, vor allem in Form von Energie und wertvollen Mineralien, im Westen als selbstverständlich angesehen wurde.

Was halten Sie von der These, dass große Mächte wie Russland nicht wirklich friedlich koexistieren können mit anderen großen Mächten? Dass sie zu groß, zu stark sind dafür? Dass nur kleinere und mittlere Mächte wie die Mitglieder der EU dazu in der Lage sind? Dass imperiale Mächte wie Russland kaum eingebunden werden können in multilaterale Strukturen und Kooperationen?

Das war auch das Argument gegen eine Nato-Mitgliedschaft von Russland. Seine Grenzen haben sich im Laufe der Jahrhunderte endlos verschoben. Seine Unsicherheiten machen es zu einem problematischen Partner, zu einem problematischen imperialen Staat aus vielen historischen Gründen heraus: 1917 zum Beispiel hätte es sich ganz anders entwickeln können – Russland als Teil einer losen Föderation anstatt einer Sowjet­union. Es hätte in seiner Geschichte auch eine größere asiatische Konföderation werden können.


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Aber es liegt in der Natur des russischen Staates, dass er aufgrund seiner geografischen Lage, der Verteilung seiner Ressourcen und seiner militärischen Bedürfnisse leider zentralisiert ist. Und der Bolschewismus war eine Superzentralisierung. Gorbatschow hatte dann eine Struktur für die Sowjetunion im Sinn, die der EU ähnlich gewesen wäre. Es hätte die Anzahl der imperialen Syndrome verringert, mit denen Russland immer noch lebt – seit Beginn seiner Geschichte. Aber die Ukrainer wollten 1991 raus aus der Sowjetunion. Es gab hier keine Tränen. Das ist ganz klar.

Russland wirkt von Beginn seiner Geschichte an unruhig und aggressiv. Das Land scheint sich bis heute in permanenter Umwälzung zu befinden – von der ersten Revolution 1905 über die Oktoberrevolution, den Bürgerkrieg, die Kollektivierung, den Großen Terror, den Zweiten Weltkrieg und den alten und nun neuen Kalten Krieg. Woher kommt das?

Vielleicht geht es hier um die Aggression, die in der imperialen Aggression liegen soll. Man kann es so sehen. Schon die Russophoben des 19. Jahrhunderts haben gesagt, das aggressive Expansionsstreben der Russen sei von Natur aus angelegt, um ihre Selbstermächtigung zu erhalten. Ich teile diese Ansicht nicht wirklich. Ich denke, es ist sinnvoller, die russische Aggression im Hinblick auf die Unsicherheit der Landesgrenzen zu betrachten, die sehr schwer zu verteidigen sind. Das bedeutet, dass sich Russland als Imperium für seine Sicherheit immer darauf verlassen hat, die Nachbarstaaten im Auge zu behalten, sie neu aufzuteilen, wie mit dem Osmanischen Reich im 19. Jahrhundert oder mit der Ukraine im 20. Jahrhundert. Sie haben immer wieder interveniert – vor allem im Westen und im Süden, aus Angst vor feindlichen Angriffen.

Warum ist die Geschichte Russlands auch nach innen so voller Gewalt – gespiegelt in Verhaftungen und Prozessen, Deportation und Versklavung, Zwangsarbeit und Mord in den Gulags, Straflagern und Umerziehungslagern?

Das ist die große Frage erneut. Russland ist ein sehr großes Land, hat sich im Osten sehr schnell erweitert. Aber die Bevölkerung ist sehr spärlich, und die Zahl der Menschen, die in der Lage sind, das Land zu verwalten, winzig. So hat es sich seit dem 16. Jahrhundert nach der Mongolenherrschaft entwickelt, als eine Art Tributsystem, ein wenig wie das Mongolenreich selbst. In der Folge war und ist Zwang das Herzstück des russischen Machtsystems – ob beim Eintreiben von Steuern oder beim Einziehen von Männern zur Armee. So wurden und werden die Dinge von oben nach unten geregelt – unter Anwendung von Gewalt. Sie ist institutionalisiert bis in die lokale Verwaltung hinein.

Warum hat sich in Russland nach zwei Weltkriegen mit ungeheuren Verlusten nicht eine Aversion gegen militärische Gewalt entwickelt wie im übrigen Europa?

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das militärische Ethos in einer Weise Teil des Staatssystems, wie es das zur Zeit des Ersten Weltkriegs noch nicht gewesen war. Als Quelle des Nationalstolzes war der Sieg über Hitler die entscheidende Legitimation für die Inhaber der Sowjetmacht. Aus ihrer Sicht hatte alles, was Stalin an sich erreicht hatte, den Sieg ermöglicht. Es ist kein Zufall, dass Stalin immer Militäruniform trug. Militärschulen wurden immer wichtiger, Militärpropaganda, Militärfilme. Eine endlose Militarisierung der Gesellschaft durch Propagandafilme. Bis heute sind viele russische Buchläden voll mit militärischem Zeug – gerade jetzt wieder.

Warum hat man in Russland nicht allmählich genug vom Töten, vom Morden, vom Vergewaltigen, vom Plündern? Obwohl man Opfer wie Täter im Krieg war. Obwohl man immer wieder Tod, Zerstörung, Elend, Flucht, Vertreibung, Deportation durch andere erlebte oder selbst anderen brachte.

Es wäre zu einfach, den Zweiten Weltkrieg, den Kalten Krieg und nun den Krieg in der Ukraine in dieselbe Kategorie zu packen. Es handelt sich nicht um dieselben Aggressionen, dieselben Gräueltaten, dieselben Gewalttaten gegen Zivilisten. Die Szenerie jetzt in der Ukraine ist etwas anderes als all das zuvor. Es ist auch kein Genozid, wie die Ukrainer argumentieren. Aber es ist eine Art postimperiales Syndrom, in dem die Russen – in ihrer Geschichtsschreibung, durch ihre Folklore, durch ihr Glaubenssystem, jedoch vor allem durch die imperiale Historiografie, die Putin aufgebaut hat – sich selbst als den Ukrainern überlegen sehen, mit abfälligen Bezeichnungen wie die „großen“ Russen gegen die „kleinen“ Russen. Dieses ohnehin bereits vorhandene Gefühl der Überlegenheit hat Putin dann noch mit der Behauptung vergiftet, die Ukrainer würden von Nazis angeführt. In Wirklichkeit aber ist es die Gewalt des Imperialisten, der die Kolonie bestrafen will.

Ist es denkbar, dass das imperiale, revisionistische Russland Putins eine militärische Niederlage in seinem Krieg gegen die Ukraine akzeptieren wird? Den Rückzug der russischen Truppen hinter die ursprüngliche russische Grenze? Und die Ukraine erneut in ihren Grenzen von 1991 – den Grenzen vor 2014? Kann Russland dies akzeptieren, ohne direkt wieder für einen neuen Krieg zu rüsten?

Unter Putin: Nein. Die einzige Möglichkeit, diesen Krieg zu beenden, ist das Ende des Putinismus. Wenn ukrainische Truppen versuchen sollten, die Krim zurückzuerobern, und damit alles, wofür Putin steht, in Gefahr wäre, würde das Risiko, dass er taktische Atomwaffen einsetzt, stark steigen. Dieses Risiko ist zu hoch für den Westen, um es mitgehen zu können. Aber bei einem russischen Rückzug aus allen anderen Gebieten, die seit 2014 besetzt wurden, wäre es eine andere Entwicklung.

Die Krim war schon einmal Schauplatz eines Konflikts zwischen Russland und den Westmächten Frankreich und Großbritannien sowie dem Osmanischen Reich – Sie haben über den Krimkrieg von 1853 bis 1856 ein Standardwerk verfasst. Damals verloren annähernd eine Million Soldaten und zahllose Zivilisten ihr Leben. Es wurde mit außergewöhnlicher Grausamkeit und erschreckender Inkompetenz gekämpft. Nach der russischen Niederlage war das bis dahin enge Verhältnis zwischen Russland und dem Westen nachhaltig gestört. Was können uns dieser Krieg und seine Folgen für den heutigen Konflikt lehren? Sehen Sie Parallelen zur Gegenwart?

Es gibt viele Parallelen: Damals wie heute zieht man gegen den Westen in den Krieg. Man spricht davon, dass Russland eine geheime Pflicht habe, russischsprachige Menschen zu schützen. Und es gibt eine Warnung aus der Geschichte, die wir beherzigen sollten – mit Blick auf die Nachkriegssituation: Der Westen muss sich davor hüten, den Fehler zu wiederholen, den er nach dem Krimkrieg gemacht hat – den Russen einen zutiefst demütigenden Frieden aufzuzwingen und sie auf eine Art und Weise zu bestrafen, die ihre Politik nur noch mehr vergiftet. Es muss vielmehr darum gehen, den Putinismus zu beseitigen und Russland dabei zu helfen, eine demokratischere Gesellschaft in Frieden mit seinen Nachbarn aufzubauen.

Ist nach dem heutigen Krieg, wenn er mit einem ukrainischen Sieg enden sollte, eine konventionelle Abschreckung Russlands durch die Ukraine denkbar, die nachhaltig wirkt? Oder müsste Kiew dazu erneut in den Besitz von Atomwaffen gelangen oder zumindest unter den nuklearen Schutzschirm der Nato?

Wir befinden uns in einem neuen Kalten Krieg mit Russland. Deshalb ist die alte Politik der Eindämmung wahrscheinlich die Art und Weise, wie es funktionieren muss, wenn man konventionell abschrecken will. In der Ukraine würde das ein Netzwerk von Militärbasen bedeuten, die bereit wären für schnelle Reaktionen auf jede weitere Aggression Russlands.

Welche Zukunft Putins ist wahrscheinlich, wenn Russland den Krieg in der Ukraine militärisch verlieren sollte? Weiterhin Herrscher im Kreml? Oder angeklagt und verurteilt wegen Angriffskrieg und Kriegsverbrechen vor dem Internationalen Strafgerichtshof – wie Serbiens gestürzter Präsident Slobodan Milošević? Oder sogar getötet vom eigenen Volk – wie Libyens Diktator Muammar al Gaddafi? Was wäre typisch für die russische Geschichte? Eine zweite Oktoberrevolution? Die Niederlagen im Ersten Weltkrieg brachten den damaligen Zaren zu Fall. Wird es Putin ebenfalls so ergehen?

Krieg ist per Definition extrem unsicher und unvorhersehbar. Und ich denke, wir sind weit entfernt von einer Niederlage Russlands. Aber wenn es einen Zusammenbruch der russischen Front mit den neuen Wehrpflichtigen geben sollte, könnte es eine Revolution geben. Auch sie passieren manchmal schnell und unerwartet. Und das könnte eine Kugel in Putins Kopf bedeuten.

Oder sind all dies nur Wunschträume im Westen? Wird Russland erneut unterschätzt? Napoleon war schon in Moskau – zurück nach Paris kam er ohne seine Grande Armée. Die damals größte Streitmacht der Welt ging in Russland zugrunde; Hitler kam nur bis Moskau. Bereits 1941 scheiterte er an Stalin – obwohl die Wehrmacht der Roten Armee Niederlagen beibrachte, die in der internationalen Wahrnehmung als tödlich für die Sowjetunion eingestuft wurden. Doch am Ende eroberte Stalin Berlin – und nicht Hitler Moskau. Auch Schweden, Finnland und Polen haben vielfältige Erfahrungen mit der Durchhaltefähigkeit des russischen Militärs – trotz immenser Verluste. Wiederholt sich hier Geschichte – wenn auch unter nicht oder nur schwer vergleichbaren Vorzeichen?

Ich glaube nicht, dass der entscheidende Faktor für die russische Moral ist, sich bis nach Kiew durchzukämpfen. Die Russen haben einen niedrigen Lebensstandard und sind daran gewöhnt, sich aus dem Schrebergarten zu ernähren. Die russische Regierung hat noch einen weiten Weg vor sich, wenn es um die Mobilisierung dieser Menschen geht. Dennoch glaube ich, dass eine weitere Einberufung von Reservisten auf dem Weg ist.

Woher stammen die Kultur und Tradition in der russischen Armee, ohne Rücksicht auf Verluste Schlachten zu schlagen? Und woher kommt die Bereitschaft in der russischen Bevölkerung, militärische Niederlagen zu ertragen, große Verluste hinzunehmen, eine Opferbereitschaft zu zeigen, die in ihrer Unbedingtheit in den westlichen Demokratien undenkbar ist?

Schon Peter der Große behauptete, dass man nur einen Willen brauche, dass man am Ende siegen werde, wenn man genug Menschen in die Schlacht werfe – trotz all der logistischen Probleme, die das verursacht. Auch das sowjetische System war so angelegt, nicht nur im militärischen Bereich, sondern ebenso bei den Fünf-Jahres-Plänen, bei denen es darum ging, ein Ziel zu erreichen, manchmal unter allen Umständen. Stalin befahl Schukow, Berlin vor den westlichen Alliierten zu erreichen, auch wenn das bedeutete, 300.000 Soldaten mehr zu verlieren. Aber es war Stalin wichtig, dieses Ziel zu erreichen. Ebenso war für die Industrialisierung der Sowjetunion der Gulag ein wichtiger Faktor. Er war die Möglichkeit, die wertvollen Ressourcen für die Industrialisierung an Orte zu bringen, an die niemand freiwillig gehen würde. Aber so wurde es getan.
 

Russland-Biograf Figes / picture alliance

Seit den 1990er Jahren hat es immer wieder große Protestbewegungen in Russland gegeben; auch gegen Putin gingen viele Menschen auf die Straße. Warum hat sich nach dem Zerfall der Sowjetunion in Russland keine Opposition entwickelt, die ein dauerhafter Machtfaktor ist? Warum hat hier die jüngere Geschichte in Russland einen auffallend anderen Verlauf genommen als bei den europäischen Nachbarn im Westen? Warum gilt im heutigen Russland: eher Emigration als Revolution?

Ich glaube nicht, dass wir den Russen vorwerfen können, dass sie keinen Widerstand leisten. Wenn du heute mit einem Protestplakat auf die Straße gehst, kannst du für 15 Jahre in einem Arbeitslager landen. Wenn du keine Zukunft für dich in Russland siehst, wenn du ein IT-Spezialist bist und übertragbare Fähigkeiten hast oder wenn du Englisch sprichst, dann ist Emigration ein Ausweg. Aber es ist zugleich die Schwäche der russischen Zivilgesellschaft, dass sie einen Autoritarismus wie das Putin-System nicht verhindern konnte, das sich nun in eine brutale Diktatur verwandelt hat. In der russischen Geschichte gab es bislang nur kleine Zeitfenster, in der sich Institutionen und lokale Selbstverwaltungen entwickeln konnten. Dann kam meist eine Revolution. Alles wurde weggefegt. Und eine neue Diktatur begann. Daher gibt es nicht viel Erfahrung mit dem Aufbau von Institutionen. Als Ergebnis hat Russland auch keine politischen Parteien, die sich in Regierung und Opposition abwechseln. Es gibt nichts oder nur sehr wenig von dem, was eine demokratische Gesellschaft ausmacht.

Kann sich Russland überhaupt vor dem Hintergrund seiner Geschichte von einer Diktatur in ein im westlichen Sinne „normales“, freiheitliches Land verwandeln?

Das ist höchst unwahrscheinlich in unserer Lebenszeit.

Doch selbst wenn Putin bis zum Ende seines Lebens der neue Zar bleiben sollte: Wer könnte ihm nachfolgen? Wen hat er selbst im Blick? Und wer hat sich selbst im Blick in seiner Umgebung?

Niemand kann diese Frage beantworten. Alles, was ich sagen kann, ist: Es wäre Wunschdenken, wenn man annehmen würde, dass dort nach Putin jemand sein könnte, der mehr demokratische Forderungen stellen würde oder stärker prowestlich wäre. Wahrscheinlicher ist, dass es jemand sein könnte, der weniger demokratische Forderungen stellen würde.

Ist Russlands Integration in eine Gemeinschaft demokratischer Nationen Europas dennoch vorstellbar? Was wäre dazu notwendig?

Russland müsste eine demokratische Nation werden. Doch es ist weder demokratisch noch eine Nation – es sieht sich als ein Imperium, es denkt imperial. Manche sagen, schon allein die Beziehung zwischen den Russen und den Nichtrussen innerhalb der Russischen Föderation mit mehr als 100 Nationalitäten mache Russland selbst zu einem Imperium. Dem stimme ich zwar nicht zu, aber wenn Russland ein starkes imperiales Bewusstsein hat, dann spricht das dagegen, ein Nationalstaat in Frieden mit seinen Nachbarn zu werden, wegen all der damit verbundenen Probleme, über die wir gesprochen haben: die offene Landmasse, die schwierige Grenzsicherung, die Unsicherheit innerhalb der Regime, weil sie eine so große Gesellschaft wie Russland nicht wirklich kontrollieren können und Angst vor einer fünften Kolonne haben, also vor dem Einfluss von Ausländern auf ihr Volk.

Daher wird Russland immer anders sein. Wir können von westlicher Seite aus nicht mehr davon ausgehen, dass sich Russland nach unseren Werten entwickeln wird. Wir müssen es in seinen eigenen Werten verstehen. Das bedeutet, dass wir verstehen müssen, wie die Russen ihre eigene Geschichte sehen – nicht um sie zu rechtfertigen, sondern um zu verstehen, woher sie kommen. Denn solange wir nicht verstehen, woher sie kommen, haben wir keine Chance, mit ihnen richtig umzugehen, geschweige denn, ihnen zu helfen, sich in eine konstruktivere, friedlichere Richtung zu entwickeln. 

Das Gespräch führte Thomas Speckmann.

Dieser Text stammt aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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