Deutschland und Russland - Die Warnsignale nicht gesehen

An der Universität Potsdam wurde über die deutsche Russlandpolitik seit 1990 diskutiert. Die meisten Experten auf dem Podium ließen kein gutes Haar daran. Einzig der stellvertretende Botschafter der Ukraine zeichnete ein differenzierteres Bild.

War man im Auswärtigen Amt zu naiv? Frank-Walter Steinmeier in seiner Zeit als Außenminister mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow / dpa
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York Herder ist ausgebildeter Journalist und hospitiert derzeit bei Cicero.

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Bei schwülen 30 Grad und praller Sonne füllten gut 50 bis 60 Leute einen kleinen Hörsaal der Universität Potsdam. Am Neuen Palais, der einstigen Hauptresidenz von Wilhelm II., diskutierten der Historiker Bastian Matteo Scianna, der Politikwissenschaftler Joachim Krause, Mitherausgeber der Zeitschrift für Strategische Analysen (SIRIUS), der ehemalige Wehrbeauftragte und jetzige Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik, Hans-Peter Bartels, und der stellvertretende Botschafter der Ukraine, Maksym Yemelianov, über die Verfehlungen der deutschen Russlandpolitik. Die aus einer Lehrveranstaltung heraus initiierte Veranstaltung solle „ein Beitrag zum Diskurs sein“, so der Universitätspräsident Oliver Günter in seinem Grußwort.

In einem kurzen Impulsvortrag zeigte der Historiker Sönke Neitzel die Unterschiede zwischen Analysten und Kommentatoren bei diesem „emotionalen Thema der deutschen Russlandpolitik“ auf, zu der jeder eine Meinung habe. Aufgabe der Analysten, also des Podiums, sei es zu trennen: „Was wissen wir, was glauben wir zu wissen, und was wissen wir nicht.“ Die Historiker müssten dafür das „Hinterland“ beleuchten, um genau das herausfinden zu können.

Diesem Auftrag kam der Moderator Dominik Geppert nach, der die Runde mit der Frage eröffnete, ob es „die deutsche Russlandpolitik“ seit 1990 überhaupt gibt oder ob sie aus verschiedenen Traditionen bestanden hat. Wobei der Lehrstuhlinhaber für die Geschichte des 19./20. Jahrhunderts anfänglich Schwierigkeiten hatte, den Talar abzulegen und in die Rolle des Moderators zu schlüpfen.

Joachim Krause konstatierte, dass die Ostpolitik während des Kalten Krieges „damals sehr realistisch war“, aber nach dem Ende des Ost-West Konflikts insbesondere durch die Sozialdemokratie idealisiert wurde. Die Christdemokraten hätten diese Idealisierung seit der Jahrtausendwende mitgemacht, anstatt sich dem Westen weiter anzunähern. Dass nach dem Ende der Sowjetunion weiterhin, wie in den 70ern mit Moskau gesprochen wurde, um für Entspannung in Zentral- und Osteuropa zu sorgen, ohne zu erkennen, dass das aufgrund der nun unabhängigen Staaten nicht mehr funktionierte, zeige, dass die deutsche Außenpolitik der Regierungen Schröder und Merkel gegenüber Russland „in einem Paralleluniversum stattgefunden“ habe.

Der Fokus der Ostpolitik auf Russland bestand nicht schon seit 1990

Ganz ähnlich sieht es Hans-Peter Bartels, für den das Jahr 1990 eine „Wasserscheide“ darstellt, an der sowohl in Russland eine Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit als auch in Deutschland eine Veränderung der Ostpolitik hätte passieren müssen. Statt aber eine Änderung in der Russlandpolitik vorzunehmen, hätten die Deutschen weiterhin versucht, für Entspannung in den Beziehungen zu Moskau zu sorgen und über Russland auf die anderen Länder in Mittel- und Osteuropa einzuwirken. Denn dem imperialen Druck Russlands nach außen habe man weder die starke Einbindung in den Westen noch die eigene Stärke der Bundeswehr nach dem Vorbild der 70er und 80er Jahre entgegenhalten können.

Das Credo, „kämpfen zu können, um nicht kämpfen zu müssen“, sei zugunsten der Friedensdividende aufgegeben worden. Bartels wies darauf hin, dass man in Deutschland nach wie vor ein Äquidistanz-Denken beobachten könne. Die gefühlte Nähe zum „Nachbarn“ Russland und gleichzeitige Ablehnung des Westens, insbesondere der Vereinigten Staaten, herrsche noch bei vielen Deutschen vor. Das führe unter anderem zu einem Misstrauen gegenüber Deutschland unter den Verbündeten und Partnern, so Scianna. Man frage sich nicht nur in Polen und im Baltikum, auf welcher Seite Deutschland stehe.

 

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Doch wo lagen die Probleme der deutschen Russlandpolitik? Der Gesandte der ukrainischen Botschaft, Maksym Yemelianov, gab zu bedenken, dass in den letzten Jahren zwar oft über Ostpolitik gesprochen wurde, Deutschland damit aber nur die Russlandpolitik meinte.

Für ein aktuelles Projekt forscht Bastian Scianna im Archiv des Kanzleramts zur deutschen Russlandpolitik nach 1990. Dafür hat er Akteneinsicht bis 1998 bekommen. Der Historiker von der Universität Potsdam ist deshalb sehr gut über die Geschehnisse in der Bundesrepublik nach 1990 informiert. Er zeigte auf, dass diese Gleichsetzung des Ostens mit Russland nicht sofort nach dem Zerfall der Sowjetunion begann.

So sei die Regierung Kohl zusammen mit dem Vereinigten Königreich die treibende Kraft für die EU-Osterweiterung und später auch für die Erweiterung der NATO gewesen. Man wollte sich mit Freunden umgeben und exportierte funktionierende Institutionen – ein klassisches Mittel deutscher Außenpolitik. Dass der Fokus auf Russland in der Ostpolitik nicht seit 1990 bestand, zeige sich auch im Umgang der Bundesrepublik mit der deutschen Vergangenheit. Erst ab 2010 sei vor allem Russland in den Mittelpunkt der deutschen Aufmerksamkeit beim Gedenken an die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs gerückt worden.

In der Gedankenwelt des Kalten Krieges hängengeblieben?

Doch woher kam diese Änderung? Joachim Krause sieht als treibende Kraft Frank-Walter Steinmeier. Dieser habe mit einer großen Blauäugigkeit Warnsignale nicht wahrgenommen. Als Krause 2015 selbst eine Einschätzung für Steinmeier schrieb, dass Russland die Konfrontation mit dem Westen suche, habe das Auswärtige Amt darauf nicht reagiert. Ihm sei lediglich über Dritte der Vorwurf gemacht worden, dass er in der Gedankenwelt des Kalten Krieges hängen geblieben sei.

Diese Politik Steinmeiers sei durch die wirtschaftlichen Interessen der Industrie, insbesondere der BASF, befeuert worden. Diese habe „die deutsche Ostpolitik mitbestimmt“, da der Chemiekonzern als großer Gasverbraucher durch die Energiepolitik der rot-grünen Regierung von 1998 an auf billiges Erdgas gesetzt habe. Das beförderte die Politik von Schröder und Steinmeier, die darauf abzielte, gute Beziehungen mit Russland zu haben, ohne die eindeutigen Warnsignale sehen zu wollen. Dass Russland zu einer Autokratie wurde, „die dann in eine Kleptokratie umschlug“ und mit Hilfe von Staatsfirmen auch in Deutschland agierte, habe man nicht sehen wollen.

Bartels forderte, dass es jetzt wichtig sei, aus der jüngeren Geschichte zu lernen und strategischer zu denken. Denn die Fehler, die seit 2014 gemacht wurden, also die Verstärkung der Energieabhängigkeit von Russland durch Nord Stream und das Mantra, dass es keine Sicherheit gegen Russland geben könne, hätten sich mit dem Überfall auf die Ukraine 2022 als Illusion herausgestellt.

Das unterfütterte Scianna mit dem deutschen Wunschdenken gegenüber den Minsker Abkommen, die als großer Erfolg für den Frieden verkauft wurden, obwohl in der Ukraine weitergekämpft wurde. Nach Sciannas Auffassung sei man im Auswärtigen Amt davon ausgegangen, dass die Verhandlungen in Minsk zu einer Lösung führen würden, obwohl Moskau weiter auf Aggression gesetzt habe. Das Auswärtige Amt sei naiv gewesen. Man habe gedacht, „wir unterschreiben ein Abschlussdokument, und dann gibt es Frieden“.

Bei dieser Kritik an den deutschen Diplomaten sprang der stellvertretende ukrainische Botschafter für seine Kollegen in die Bresche. Deutschland habe viel investiert, um der Ukraine Frieden zu bringen und mit dem Normandie-Format und den Minsker Abkommen einiges versucht, nur sei das an Putins Willen gescheitert, die Ukraine zu unterwerfen. Zudem habe die deutsche Diplomatie seit Kriegsbeginn von den anfänglich 5000 Helmen einen großen Sprung zu einer tatsächlichen Unterstützung der Ukraine gemacht und mehr als 1,3 Millionen Ukrainer aufgenommen, wofür man sehr dankbar sei.

Erst bei der letzten Frage, ob Deutschland geostrategisch denken solle, klaffte das Panel auseinander. Während Joachim Krause und Bastian Matteo Scianna die Frage bejahten, sah Hans-Peter Bartels für eine Geostrategie keine Notwendigkeit. Man sehe in Frankreich und den USA, dass eine Geostrategie nicht immer erfolgreich sei. Immerhin seien die Entwicklungen mit der Nationalen Sicherheitsstrategie und der Zeitenwende auf einem richtigen Weg.

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