Boris Palmer in Ungarn - „Vor der eigenen Türe kehren!“

Der Tübinger OB Boris Palmer wurde für seinen Vortrag am Deutsch-Ungarischen Institut am Mathias Corvinus Collegium (MCC) scharf kritisiert. Mit der Budapester Zeitung sprach er über Meinungsfreiheit, Cancel Culture und das deutsch-ungarische Verhältnis.

Boris Palmer bei seinem Vortrag am Mathias-Corvinus-Collegium in Budapest / dpa
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Jan Mainka ist Chefredakteur und Herausgeber der Budapester Zeitung.

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Am 6. September war Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer zu Besuch in Budapest, um einen Vortrag beim Mathias-Corvinus-Collegium (MCC) zu halten. Die Reise war von mehreren deutschen Medien wegen der Nähe des MCC zur Orbán-Regierung skandalisiert worden. Palmer hatte daraufhin mitgeteilt, er habe bei der Universität Tübingen nachgefragt, ob das MCC „satisfaktionsfähig“ sei, was ihm positiv beschieden wurde. Allerdings habe sich später herausgestellt, dass die Universität das Mathias-Corvinus-Collegium mit der Corvinus-Universität verwechselt hatte. In einem Gespräch mit der Budapester Zeitung bezieht Boris Palmer nun ausführlich Stellung zu seiner Ungarn-Reise – aber auch zu Fragen der deutsch-ungarischen Beziehungen, zur deutschen Debattenkultur und zu seinem Verhältnis zu den Grünen. Wir dokumentieren das Interview in voller Länge. 

Herr Palmer, was sind Ihre wichtigsten Eindrücke von Ungarn? 

Die Atmosphäre … Budapest jetzt bei schönstem Wetter ist ganz wunderbar. Da merkt man, man ist mitten in Europa mit ganz viel Geschichte und Kultur. Ich war auch im Parlament. Dieses Gebäude hat mich zutiefst beeindruckt. Die politischen Gespräche fügen sich erst allmählich zu einem Puzzle zusammen. Mein Haupteindruck ist bisher aber: Es herrscht sehr viel Offenheit. Ich erhalte echte Antworten auf meine Fragen. Das habe ich sehr geschätzt. Aus Ländern, die weiter weg sind, bin ich anderes gewohnt … Man reist ja als Oberbürgermeister auch in Länder, in denen man die politischen Verhältnisse kaum noch begreift. Ich fand das Programm wirklich sehr erhellend. Hauptsächlich muss ich aber feststellen, dass ich über eins besorgt bin, und das ist der Zustand der deutsch-ungarischen Beziehungen. Das ist für mich vielleicht die wichtigste Botschaft, die ich mit nach Hause nehme. 

Wie kann an diesem Zustand etwas geändert werden? 

Ich war überrascht, dass mir selbst die deutsche Seite bestätigte, dass die neue Bundesregierung eine Politik des Kontaktabbruchs betreibt. Deutsche Regierungsvertreter und ihre Institutionen sind gehalten, in Ungarn am besten gar nicht aufzutreten und keine gemeinsamen Veranstaltungen durchzuführen. Das war mir neu. Ich hätte nicht vermutet, dass es so etwas geben könnte. Ich finde das zutiefst bedauerlich. Wir könnten innerhalb von Europa in eine Situation der systematischen Sprechunfähigkeit geraten.

Aber zurück zu Ihrer Frage, was wir tun sollten. Zunächst einmal: miteinander reden. Nichts wird besser, wenn man sich komplett anschweigt und inhaltlich nur bestrebt ist, sich ständig der eigenen Überzeugung zu vergewissern, wozu auch die Überzeugung gehört, dass die jeweils andere Seite komplett im Unrecht ist. Es gibt ein schönes deutsches Sprichwort: Zum Streiten gehören immer zwei. Es ist ganz selten, dass einer an allem schuld ist und umgekehrt. Deswegen mein Ratschlag: Beide Seiten sollten zunächst einmal vor ihrer eigenen Tür kehren. Sie sollten sich überlegen, was sie auf ihrer Seite ändern könnten, um den Dialog wieder produktiv zu machen. Es ist fast so wie in jeder Ehe: Wenn man etwas ändern will, dann bringt es nichts, einfach nur den Partner ändern zu wollen. Man kann eigentlich nur bei sich selbst anfangen. 

Die Positionen von Ampel und Orbán-Regierung sind bei immer mehr Fragen sehr weit voneinander entfernt und sehr verhärtet … 

Ob die Seiten über ihren Schatten springen können, weiß ich natürlich nicht. Wenn man etwas Gutes an dieser Situation finden könnte, dann vielleicht, dass man für die eigene innenpolitische Diskussion feststellt: Es gibt noch ganze Länder, in denen die große Mehrheit und auch deren Regierung eine Position vertritt, die man im eigenen Land eigentlich gar nicht mehr akzeptieren will. Eine deutsch-ungarische Annäherung könnte also den positiven Nebeneffekt haben, vielleicht auch wieder in der Innenpolitik mit Blick auf abweichende Meinungen gesprächsfähiger zu werden. Ohne allzu viel zu riskieren, könnten beide Seiten also außenpolitisch etwas üben, wovon sie auch innenpolitisch profitieren könnten. Wenn man die Macht hat, dann besteht immer die Gefahr, dass man sie maximal ausreizt. Klugheit würde hingegen bedeuten, auch mal etwas, was man eigentlich tun könnte, nicht zu tun. Einfach um des friedlichen Miteinanders willen und weil man letztlich doch immer ein wenig aufeinander angewiesen ist.

Man kann freilich diese Differenzen aufblasen oder auch einen äußeren Feind nutzen, um im Inneren stärker zu werden. Diese politische Technik gibt es seit Jahrhunderten und wird innenpolitisch bis zum heutigen Tage mit Erfolg angewendet. Man kann freilich auch versuchen, Differenzen realpolitisch zu überwinden. Ich habe bei meinem Vortrag versucht, ein realpolitisches Argument in die deutsch-ungarische Debatte einzubringen, und das lautet schlicht: Wir sind nicht stark genug, um uns diese internen Streitereien leisten zu können. Dafür lastet momentan viel zu viel Druck auf dem europäischen Wertemodell. Denken wir nur an den Krieg in der Ukraine, die aufsteigende chinesische Wirtschaftsmacht oder unsere Demographie. In einer solchen Situation können wir es uns einfach nicht leisten, so zu tun, als wären die Deutschen oder die Ungarn unsere ärgsten Feinde auf der Welt – jetzt einmal etwas überspitzt formuliert. 

Im Vorfeld gab es eine dpa-Meldung, die offensichtlich das Ziel verfolgte, Ihren Besuch in ein schlechtes Licht zu rücken, wenn nicht gar zu verhindern. Viele Online-Portale von großen deutschen Zeitungen übernahmen bereitwillig diese Meldung, obwohl sie so gut wie keinen echten Nachrichtenwert besaß. Hat Sie die Kampagne gegen Ihren Ungarn-Besuch überrascht? 

Sie hat mich aus dem einfachen Grund überrascht, weil ich dachte, dass ich dagegen abgesichert bin. Ich hatte mich ja bei der Universität Tübingen zunächst einmal vorab erkundigt, ob die einladende ungarische Institution überhaupt „satisfaktionsfähig“ sei. Nachdem mir genau das bestätigt worden war, dachte ich, dass jetzt nichts mehr passieren könne. Dass die Universität ihr Urteil dann aber nachträglich revidierte, weil sie die Corvinus-Universität mit dem Mathias-Corvinus-Collegium (MCC) verwechselt hatte, schuf eine neue Situation. Vor diesem Hintergrund war dann auch die Reaktion einiger deutscher Medien weniger überraschend. Das ist bei denen mittlerweile Standard. Als kleine Einschränkung sei aber hinzugesagt: Es waren lediglich Online-Medien, die die erwähnte dpa-Meldung aufgriffen. Ganz einfach, weil sie zu Recht annahmen, dass dies Klicks bringt. Keine einzige Redaktion hat nach meinem Wissen im Tenor der dpa-Meldung einen eigenen Artikel produziert. Wir haben es also mit unterschiedlichen Qualitätsniveaus zu tun. 

Sicher aber auch mit der Frage von journalistischen Standards … 

Die eigentliche Frage ist doch, inwieweit sich Journalisten bei ihrer Arbeit vom sogenannten Clickbaiting leiten lassen, also von der Maximierung von Klicks beispielsweise durch den Einsatz von bestimmten Reizwörtern. Im Fall der dpa-Meldung waren das etwa Orbán, Palmer, Ungarn, Grenzzaun und rechtsreaktionär. All das sind Begriffe, die die Leute in Wallung bringen und daher für Klicks sorgen, was sich wiederum positiv auf die Werbeeinnahmen der Medien auswirkt. Das kann man alles verstehen. Wir haben es hier einfach mit einer kapitalistischen Form der Nachrichtenverwertung zu tun. Dabei geht es sowohl um den gezielten Einsatz von Reizwörtern, aber auch um das Bedienen von Feindbildern. Diese Zusammenhänge sind für mich wenig überraschend. Ich finde es beruhigend, dass sich im konkreten aktuellen Fall Journalisten, die mit ihrem Namen für ihr Produkt einstehen, nicht an der Kampagne gegen meine Reise beteiligt haben und sich erst jetzt mit eigenen, sachlichen Artikeln über meinen MCC-Vortrag zu Wort melden. Gemessen an der großen Erwartungshaltung, die vor meinem Besuch geschürt wurde, sind diese geradezu unspektakulär. 

Ja, der große Skandal ist irgendwie ausgeblieben … 

Ich weiß nicht, was einige Leute erwartet hatten. Dass ich der Ausbreitung „rechtsreaktionärer Thesen“ Vorschub leisten würde? Dass ich Orbáns Politik legitimieren und den Fidesz stärken würde? Dass meine Integration in die europäischen Rechtsextremen jetzt dokumentiert werden kann? Nun, wer solche hochgesteckten Erwartungen hegte, scheint meine politischen Überzeugungen nicht zu kennen und ist jetzt logischerweise maßlos enttäuscht. 

Hätten Sie die Einladung auch angenommen, wenn es kein Missverständnis gegeben hätte? 

Nach den Gesprächen ist mir schon deutlicher geworden, wo das Problem liegt. Es liegt noch nicht einmal beim MCC, sondern daran, dass die staatlichen Universitäten in Stiftungen überführt worden sind, um damit direkten politischen Einfluss zu gewinnen. Ich halte es in der Tat für eine sehr bedenkliche Entscheidung, wenn eine Zweidrittelmehrheit macht, was sie will, weil sie es halt kann. Rechtlich wird an dem Ganzen nichts zu beanstanden sein. Meiner Meinung nach wird damit aber der Bogen legitimen Handelns überspannt. Es geht um die Infragestellung der Freiheit der Wissenschaft oder wenigstens um den Anschein direkter politischer Einflussnahme durch politische Besetzungen von Stiftungskuratorien… 

Genau das wurde ja revidiert. Sämtliche Regierungs- oder regierungsnahen Mitglieder in den Kuratorien haben geschlossen ihr Mandat niedergelegt … 

Ja, auf Druck der EU … 

Durch die personellen Änderungen soll sich bezüglich der Zusammenarbeit zwischen den Unis und ihren Trägerstiftungen substanziell kaum etwas geändert haben. Von Seiten der Unis werden hingegen weiterhin die Vorteile der neuen Struktur gewürdigt, so etwa eine gewachsene Autonomie und eine schnellere Entscheidungsfindung, was etwa bei Kooperationen mit Unternehmen von großer Bedeutung ist. Im Übrigen gibt es Trägermodelle durch Stiftungen auch in westlichen Ländern … 

Man wird sicher für vieles Rechtfertigungen finden, aber meine Meinung ist: In einem Staat, in dem erkennbar das Eingreifen der Regierung in immer mehr Felder des öffentlichen Lebens stattfindet, ist es eine höchst bedenkliche Entwicklung. Und das ist auch nicht einfach mit irgendeiner beliebigen Stiftungsuniversität vergleichbar. Zumal das neue Modell in Ungarn ja das gesamte staatliche Universitätswesen umfasst. Das halte ich wirklich für bedenklich. Deswegen verstehe ich auch, dass es da massive Kritik daran gibt. 

 

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Hätten Sie die Einladung nach Ungarn auch angenommen, wenn es für alle Beteiligten klar gewesen wäre, dass diese nicht von der Corvinus-Universität, sondern vom MCC stammte? 

Das kann ich nicht sagen, weil ich ja nicht weiß, was mir die Universität Tübingen dann geraten hätte. 

Sie hätten sich also dem Urteil der Universität unterworfen? 

Ganz offen gesagt: an der Stelle schon. Ich selber verfolge hier keinerlei private Agenda. Ich finde Dialog wichtig. Aber wenn mir die eigene Universität sagen würde, eine einladende Institution habe einfach keine Reputation für eine Diskussion und sei nur eine rechtsreaktionäre Propagandainstitution … Solche Einrichtungen gibt es ja auf der Welt … 

Haben Sie beim MCC Indizien für derartiges gefunden? 

Nein, habe ich nicht. Aber Ihre Frage war ja, ob ich mich dem Urteil unterworfen hätte … Da ich nicht weiß, was mir die Universität geraten hätte, kann ich Ihnen keine Antwort darauf geben. Ich hätte mich aber einer Empfehlung, da nicht aufzutreten, bestimmt angeschlossen. Schon allein, weil ich gar nicht die Zeit gehabt hätte, noch einmal auf eigene Faust zu recherchieren, um eventuell zu einem begründeten anderen Urteil zu kommen. Wenn es eine Entscheidung wäre, die die Stadt Tübingen direkt betrifft, dann stütze ich mich nicht auf externe Ratschläge, ohne diese selber so weit zu überprüfen, dass ich sie zu meinen eigenen Überzeugungen machen kann. Aber wenn es um eine Reise geht, die für die Stadt Tübingen einfach nicht „lebensnotwendig“ ist, warum sollte ich mich dann über eine solche Empfehlung hinwegsetzen? Dazu hätte es keinen Grund gegeben. 

Wie auch immer … Der „Fehler“ ist geschehen. Sie sind hier in Ungarn. An der Wiege vieler guter Erfindungen oder Entwicklungen standen Fehler … Vielleicht folgen jetzt auch andere deutsche Politiker Ihrem Beispiel und könnte Ihr Besuch einen Umschwung in den deutsch-ungarischen Beziehungen einläuten … 

Das wäre sehr schön, aber so hoch schätze ich die Bedeutung des Oberbürgermeisters von Tübingen nicht ein. 

Beim FAZ-Newsletter war ein redaktioneller Artikel über Ihren Ungarn-Besuch immerhin die Nummer 1, der aktuelle Artikel über die Ukraine kam erst auf Platz 2, die Causa Aiwanger folgte sogar noch weiter unten … 

Da staunt man! (lacht) 

Über die eigene Popularität oder deren Missbrauch, um Klicks zu generieren? – In dem erwähnten Artikel wurden Sie übrigens als „notorischer Provokateur“ diffamiert, von „erwartbaren Provokationen“ ist gar die Rede. Provokateur ist für mich jemand, dem Sachfragen nur Mittel zum Zweck sind, nämlich Aufmerksamkeit für die eigene Person zu wecken. Finden Sie solche Unterstellungen nicht verletzend? 

Nein. 

Sehen Sie sich denn selbst etwa auch als Provokateur? 

Eine Provokation ist erst einmal nicht etwas Schlimmes. Schwierig finde ich aber eine Kultur, in der die eigenen, möglicherweise verletzten Gefühle zum Entscheidungsmaßstab gemacht werden, weil eine solche Kultur keinen Raum mehr für Debatten zulässt. Ich kann ja Gefühle von anderen nicht einfach wegdiskutieren. Sie sind halt da. Und deswegen finde ich, dass man auch mit Dingen leben muss, die man selber vielleicht als Provokation empfindet. Den Begriff Provokateur finde ich daher erst einmal nicht per se negativ. Auf mich bezogen würde ich aber eher von Streitlust sprechen, denn streitlustig im Sinne von „Themen ausdiskutieren“ bin ich ohne Zweifel. Motiviert bin ich dabei aber immer von der Sache, um die es geht. Sachfremde Motive, wie der Begriff Provokation sicher insinuiert, sind mir fremd. Aber das sind Feinheiten. Ich fühle mich durch die Bezeichnung Provokateur nicht verletzt.

Spannender ist eher die Frage, was bei dieser Bezeichnung für eine Analyse zugrunde liegt. Die Begriffswahl könnte nämlich durchaus auch damit etwas zu tun haben, dass wir in Deutschland das Streiten zunehmend verlernen. Inzwischen gilt schon etwas als „Provokation“, das vor dreißig Jahren keinen Hund hinter dem Ofen hervorgelockt hätte. Wir haben inzwischen ein hypersensibles Niveau erreicht, bei dem immer sofort mit großer Empörung zurückgeschlagen wird, wenn man irgendetwas angeblich provozierend findet. Das ist die eigentlich spannende Frage. Wieso wird das immer weiter hochgeschraubt? Warum steht man gleich als Provokateur da, wenn man sich dieser Hypersensibilität nicht unterwirft? 

Sagen Sie es mir! Was kann man dagegen tun? Wie kann diese fatale Spirale gestoppt werden? Wie kann das weitere Umsichgreifen von Cancel Culture und Kontaktschuld sowie die permanente Einengung des Meinungskorridors gestoppt werden? Diese Phänomene sollten in einer aufgeklärten, modernen Gesellschaft eigentlich nichts zu suchen haben. 

Die Kontaktschuld-These finde ich auch ganz furchtbar, weil sie ja letztlich dazu führt, dass verfeindete Lager entstehen, zwischen denen kein Gespräch mehr stattfinden kann. Cancel Culture gibt es, ist bisher aber eher ein Randphänomen. Man sollte es also auch nicht zu sehr aufbauschen. Es gibt in Deutschland wenige Beispiele von gestürzten Denkmälern oder entlassenen Professoren. 

Ich kann Ihnen dafür aber eine ganze Liste von klugen Leuten aufzählen, die auf wundersame Weise nicht mehr in den Öffentlich-Rechtlichen vorkommen … 

Umgekehrt kann ich Ihnen eine ganze Liste von Personen zusammenstellen, die insbesondere deswegen zu Talkshows und Ähnlichem eingeladen werden, weil sie so wie ich dafür bekannt sind, abweichende Positionen zu vertreten. Also, ich halte das nicht für so gravierend. Es hat nicht die Dimension des Problems, die für mich aus Ihrer Frage hervorgeht. Mit Blick auf das deutsch-ungarische Verhältnis würde ich noch dazu sagen, schlimm, dass es tatsächlich einige unschöne Phänomene in der deutschen Gesellschaft gibt, aber schaut auch immer, was in Ungarn die Entsprechung ist. Ich nehme es aus meinen Gesprächen als Fakt mit, dass es in Ungarn über regierungsnahe Medien ein Eingreifen der Regierung und eine Steuerung der Meinung gibt, die nicht mehr dem Leitbild der freien Meinungsbildung und des offenen Diskurses entspricht. Das finde ich nicht weniger kritisch als den Versuch von selbsternannten moralischen Eliten, den Diskurs dadurch zu bestimmen, dass man anderen die Mitspracherechte verweigert. Beides ist für eine Demokratie schädlich. Es wäre gut, das gemeinsame Muster dahinter zu erkennen, um gezielt vorhandene Fehlentwicklungen in beiden Ländern korrigieren zu können. 

Wie ist Ihr Verhältnis zu den Grünen? 

Ich habe dieser Partei sehr viel zu verdanken. Ohne die Grünen wäre ich nicht die politische Person, die ich heute bin. Deshalb wäre es auch völlig ungehörig, wenn ich jetzt, nachdem ich ausgetreten bin, mit guten Ratschlägen bezüglich der Grünen hausieren gehen würde. Deswegen ist es meine Strategie, mich gar nicht zu den Grünen zu äußern. Denn egal, was ich sage, es würde vor dem Hintergrund meines Parteiaustritts immer so oder so fehlgedeutet. Wir haben uns einfach auseinandergelebt. Ich will jetzt aber keinen Rosenkrieg vom Zaun brechen. Ich äußere mich höchstens mal erklärend aus der Position eines Dolmetschers, der die inneren Befindlichkeiten dieser Partei kennt und vielleicht anderen erklären kann, warum das eine oder andere so ist. Und was dahinterstehen könnte. 

Sie sind 51 Jahre alt. Da ist politisch noch vieles möglich, siehe Trump … 

… bitte als Vergleich lieber Kretschmann. (lacht) 

Können Sie sich eine Fortsetzung Ihrer politischen Karriere über Tübingen hinaus vorstellen? Wahrscheinlich nicht gerade bei den Grünen … 

Ich sehe bei dieser Partei keinen Platz mehr für mich. In Tübingen bin ich für sieben Jahre gewählt. Es gibt dort noch viel zu tun. 

Als ich Meldungen über Ihren bevorstehenden Ungarn-Besuch auf meinen Social-Media-Kanälen postete, war ich von der Welle an blankem Hass überrascht, den die bloße Nennung Ihres Namens bei einigen auslöste. Wenn überhaupt eine Begründung mitgeliefert wurde, dann ging es bei diesen Kommentaren übereinstimmend um einige Ihrer Äußerungen während der Corona-Krise. Sie sollen unter anderem Geldstrafen gefordert haben für Leute, die es vorziehen, sich nicht impfen zu lassen … 

Ich habe eigentlich nur darüber aufgeklärt, dass dieses Rechtsinstrument generell mit Blick auf Impfungen ohnehin bereits existiert. In Tübingen habe ich übrigens noch niemanden in persona getroffen, der dieses oder andere Corona-Themen einmal in Ruhe mit mir besprechen wollte. Und beim Wahlkampf habe ich sehr viele Gespräche geführt … Ich komme immer mehr zur Überzeugung, dass die bezüglich der Corona-Impfungen pausenlos gegen mich erhobenen Vorwürfe lediglich innerhalb einer Online-Blase überzeugter Corona-Impfgegner existieren. Dort sind Leute aktiv, die es zur Menschenrechtsverletzung hochstilisiert haben, dass man erwogen hat, sie zu zwingen, sich zum Schutz anderer impfen zu lassen, und sei es auch nur zum Schutz von Klinikpersonal. Diese Leute haben sich eingeigelt und eigene Debattenräume im Internet geschaffen, bei denen bestimmte Sätze als Beleg für alles weitere immer weiterverbreitet werden. Sobald ich online irgendwo sichtbar bin, fallen sofort die zwei bis drei allseits bekannten Standardvorwürfe gegen mich. Immer genau mit den gleichen Formulierungen und Unterstellungen. Wie viele reale Leute dahinterstecken, weiß ich nicht. Aber wenn es sich nur um einige Tausend Personen handelt, dann reicht es völlig, um meine Person permanent als großen „Corona-Diktator“ zu brandmarken und mir in der entsprechenden Schublade einen festen Platz an der Seite von Lauterbach oder Drosten zu sichern. 

Wie wollen Sie aus dieser Schublade wieder herauskommen? 

Diese Online-Brandmarkungen haben für mich so gut wie keine Relevanz. Sie gewähren höchstens Einblicke in den Ablauf von Social-Media-Debatten. 

Jetzt, wo Sie wissen, was Ihre Bemerkungen ausgelöst haben: Würden Sie heute in einer ähnlichen Situation vorsichtiger formulieren? 

Nein. Von der Sorte an „Fehltritten“ habe ich im Laufe meiner Karriere Dutzende gemacht. Mehrfach habe ich etwas geschrieben oder gesagt, das zwar im Kontext völlig in Ordnung war, jedoch ohne weiteres aus diesem gerissen und mit einem anderen Hintergrund garniert werden konnte. Dort sah mein ganz reales Zitat dann plötzlich ganz furchtbar aus und löste absehbare Reaktionen aus. Das kommt immer wieder vor. Dagegen kann man sich nicht wehren. Außer vielleicht, man legt sich selber einen Maulkorb an. Es ist immer möglich, Aussagen so zu verfremden oder aus dem Kontext zu reißen, dass sie plötzlich einen ganz anderen Drall bekommen. Ja, im Nachhinein würde ich schon sagen, dass es von mir unklug war, den Leuten solche Vorlagen geliefert zu haben. Trotzdem weiß ich nicht, wie ich Ähnliches in der Zukunft verhindern kann. Hinterher ist man immer klüger … Ganz sicher werde ich mir keinen Maulkorb verpassen oder nicht mehr frei reden! Bei aller Umsicht werde ich also auch weiterhin mit einem gewissen Restrisiko kommunizieren. 

Das Interview führte Jan Mainka, Chefredakteur der Budapester Zeitung

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