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(picture alliance) Mexikanische Soldaten verbrennen mehr als 134 Tonnen Marihuana in der Provinz Tijuana

Drogenkartelle in Mexiko - 35 Dollar für ein Menschenleben

Enthauptet, gevierteilt, mit Säure verätzt – die Methoden der mexikanischen Drogenkartelle, um unliebsame Konkurrenten und Verfolgungsbehörden auszuschalten, sind vielfältig. Daran wird auch der neu gewählte Staatschef Pena Nieto nicht viel ändern können. Eine Reportage

Im mexikanischen Bundesstaat Sinaloa kostet es 35 Dollar, jemanden umbringen zu lassen. Das Geschäft boomt. Seit Dezember 2006, als der frisch gewählte Präsident Felipe Calderón beschloss, gegen die mächtigen Drogenkartelle vorzugehen, wütet in weiten Teilen des Landes ein blutiger Drogenkrieg. Rund 50.000 Menschen, die meisten davon Angehörige der Kartelle, sind seither im Krieg zwischen Soldaten und Drogenbanden oder bei Schießereien untereinander ums Leben gekommen.

In Mexiko ist ein Menschenleben noch nie viel wert gewesen. Die Einkommens­ungleichheit gehört zu den höchsten der Welt, und der Rechtsstaat ist zu schwach, um Verbrechen zu verhindern oder Kriminelle zur Rechenschaft zu ziehen. Doch in den vergangenen fünf Jahren hat die Frage von Leben und Tod eine völlig neue Dimension erreicht.

2006 rollten Angehörige des Drogensyndikats La Familia – dem rund 4.000 Methamphetamin-Dealer im zentralmexikanischen Bundesstaat Michoacán angehören – fünf Köpfe auf die Tanzfläche eines Clubs in der Stadt Uruapan. Ein Jahr danach waren Köpfungen in ganz Mexiko an der Tagesordnung; einige der Killer veröffentlichten sogar Videos ihrer Morde auf dem Internetportal YouTube. 2008 waren es Schießereien am helllichten Tag, die die Nachrichten beherrschten, immer dann, wenn rivalisierende Banden ihre Revierkriege in Städten wie Culiacán, Ciudad Juárez oder Nuevo Laredo austrugen. Von Straßenüberführungen baumelten Hunderte Leichen, oft verstümmelt, manchmal nackt, meist mit einer Warnung an die Rivalen oder die Behörden versehen.

2009 gestand Santiago Meza López, den sie „El Pozolero“, den „Suppenkoch“ nannten, für ein Drogenkartell mehr als 300 Leichen in Natronlauge aufgelöst zu haben. Ein beispielloser Exzess der Gewalt, so schien es. Doch noch im selben Jahr wurden auch 300 Enthauptete gezählt. In einem Fall wurden die Leichen zweier Männer über dem nordmexikanischen Bundesstaat Sonora einfach aus einem kleinen Flugzeug geworfen. Ende 2009 fand man dann den Körper eines 36-Jährigen in Sinaloa. Er war in sieben Teile zerlegt, sein Gesicht vorsichtig abgetrennt worden. Man fand es später, auf einen Fußball genäht, zusammen mit einer Nachricht: „Frohes neues Jahr. Es wird dein letztes sein.“ Nach dieser barbarischen Tat entdeckte man in ganz Mexiko Dutzende Massengräber. In einigen von ihnen lagen Hunderte Leichen. „Ni Nombres“ heißen diese Toten, „die Namenlosen“.

Die Bewohner von Städten wie Culiacán, Ciudad Juárez, Nuevo Laredo und Acapulco sind stets wachsam. Sie überlegen es sich zweimal, ob sie hupen, wenn sie im dichten Verkehr hinter einem Auto ohne Nummernschild feststecken – es könnte ein Narco sein, der sie abknallt, bloß weil sie ihn geärgert haben. Und wenn sie an einen Kontrollpunkt des Militärs kommen, müssen sie blitzschnell entscheiden, ob er echt ist oder ob Drogenhändler ihre eigene Blockade errichtet haben, um die Fahrer zu entführen oder zu erpressen. Wenn jemand es wagt, ein Verbrechen zu melden, muss er vorsichtig sein: Die Telefonverbindung, die er für seinen anonymen Hinweis nutzt, könnte an die Killer der Kartelle weitergegeben werden, die Sicarios. Für Tausende Mexikaner, die zwischen die Fronten der immer brutaler agierenden Drogengangs geraten, ist das Leben zu einem gefährlichen Glücksspiel geworden.

Seite 2: Das Ehepaar traf sich im Leichenschauhaus wieder

Auch für die Polizisten und Soldaten, die gegen die Drogenkartelle Krieg führen, ist das Leben zum kostbaren Gut geworden. Erica Garza hat sich schon zu Beginn ihrer Laufbahn für die Agencia Federal de Investigación (AFI), Mexikos Strafermittlungsbehörde, entschieden. Mit Mitte 20 verliebte sie sich in einen Ausbilder. „Antonio war so ehrlich, so rechtschaffen“, erzählt sie. Sie war sicher, diese Liebe würde ein Leben lang halten. „Er sah die Welt anders. Er wollte, dass die Dinge so sind, wie sie sein sollten – und nicht bleiben, wie sie sind.“

In Ericas erstem Ausbildungsjahr sahen sich die beiden selten. Sie war zunächst im nordmexikanischen Bundesstaat Durango, dann in Mexico City stationiert, dann musste sie für drei Monate wieder zurück auf die Straße in verschiedenen Landesteilen. Es sollte in ihrer Ehe ein Muster bleiben: Sie wurde in der Überwachung eingesetzt und observierte die Domizile der mutmaßlichen Drogenbosse. Saß in irgendeinem entlegenen Winkel des Landes in einem Kleintransporter mit Kameras, Abhörgeräten und Funkradios, während Antonio in der Verwaltung arbeitete.

Erica war begeistert von ihrem Beruf, doch er forderte seinen Tribut. Selbst wenn sie in Mexico City war, ihrer gemeinsamen Heimat, durfte sie ihrem Mann Antonio aus Sicherheitsgründen nicht immer ihren Aufenthaltsort verraten. Manchmal trafen sie sich am Wochenende, geplant oder zufällig. Einmal liefen sie einander zufällig im Leichenschauhaus über den Weg und sollten die Leiche eines Dealers identifizieren. „Er war wirklich rein zufällig dort“, erinnert sie sich und schmunzelt. Irgendwann erlaubte es ihnen ihre Arbeit, gemeinsam an einem Ort zu sein. Sie wurden nach San Diego geschickt, um an einer amerikanisch-mexikanischen Fortbildung für Polizisten teilzunehmen. Sie sollten Strategien entwickeln, das eigene Personal sauber zu halten. Ihr erstes Kind wurde in den USA geboren. Das waren die Flitterwochen, auf die sie so lange gewartet hatten.

Dann begann der Albtraum. Antonio geriet bei der Arbeit unter Druck. Er war zuständig für die Entsendung von Beamten in die verschiedenen Teile des Landes, und zum ersten Mal hatte er es mit einem Mitarbeiter zu tun, der sich einfach weigerte zu gehen. Dieser Polizeibeamte hatte es sich an seinem Arbeitsplatz komfortabel eingerichtet – auch dank der Bestechungsgelder der örtlichen Dealer. Er bot Antonio Geld, doch der lehnte ab. Antonio blieb sauber – Erica nennt ihn bis heute den „Unbestechlichen“. Seine steile Karriere ging weiter. Er und Erica gehörten inzwischen zu den Spitzenbeamten, sie arbeiteten eng mit internationalen Behörden wie der Drug Enforcement Administration (DEA), der Drogenbekämpfungsbehörde der USA, zusammen. Nur einige wenige Kollegen wussten, dass sie mit den Amerikanern kooperierten. Hätte jemand Falsches davon erfahren, sie wären wohl getötet worden.

Antonio machte sich Feinde. Seine Mitarbeiter hatten sich an Chefs gewöhnt, die ihnen Geschenke von Kriminellen durchgehen ließen. Sie trauten Antonio nicht. Der stieg dennoch weiter auf, ließ korrupte Beamte auffliegen. Er erhielt Morddrohungen. Erica sorgte sich um seine Sicherheit. Schließlich tauchte mitten in der Nacht und inmitten des bereits tobenden Drogenkriegs eine Gruppe von Narcos bei ihm auf. Sie wollten ihn nicht töten, sondern mit ihm einen Deal aushandeln, damit er sie in Ruhe ließ. Er lehnte ab.

Seite 3: „Chapo hat die amerikanische Botschaft rumgekriegt.“

Zwei Wochen später fuhr er von seinem Büro in Mexico City nach Hause. Von hinten beschleunigte ein Auto. Die Angreifer versuchten, ihn von der Straße zu drängen. Er versuchte, ihnen zu entkommen, doch sie keilten ihn in einer Ecke ein, sodass er nicht fliehen konnte. Dann stiegen sie aus dem Wagen und eröffneten das Feuer. Antonio war sofort tot.

Seine Kollegen in der DEA hielten ihm zu Ehren eine stille Zeremonie in Washington ab. Seine mexikanischen Kollegen haben seinen Tod nicht einmal gewürdigt. Bis heute geht Erica in dem festen Glauben zur Arbeit, dass ihr Mann verraten wurde. „Unter ihnen ist auch derjenige, der meinen Mann getötet hat“, sagt sie und wischt sich die Tränen aus den Augenwinkeln. „Ich bin stolz, dass Antonio so ein ehrlicher Mensch war. Aber manchmal denke ich: Antonio, hättest du nicht korrupt sein können?“

Die Korruption ist das Krebsgeschwür, das schuld ist an Mexikos Problemen. Dank dem korrupten Staat konnten Drogenbosse wie Joaquín Guzmán Loera, genannt „El Chapo“, ihr milliardenschweres Imperium aufbauen. Es ist unmöglich, genau zu sagen, wie weit die Korruption reicht. Während Calderóns Amtszeit wurden der mexikanische Drogenzar, der mexikanische Interpol-Chef und etliche hochrangige Polizeikommandeure festgenommen. Sie hatten offenbar Geld von El Chapo und seinen Leuten kassiert. Vor einem Chicagoer Gericht ließ ein langjähriges Mitglied des Sinaloa-Kartells eine weitere Bombe platzen: Es behauptete, die DEA habe dem Kartell erlaubt, innerhalb bestimmter Grenzen weiter zu operieren – als Gegenleistung habe die amerikanische Drogenbehörde Informationen über konkurrierende Kartelle erwartet; was die DEA bestreitet.

Dass der Chef des Sinaloa-Kartells bis heute auf freiem Fuß ist, zeigt, wie gut die Korruption funktioniert. Der frühere mexikanische Bundesstaatsanwalt Samuel González Ruiz ist überzeugt, El Chapo sei 2001 dank korrupter Beamter aus dem Gefängnis entkommen. Chapo habe einen Schwager zur mexikanischen Regierung und zur DEA geschickt und versucht, einen Deal einzufädeln. „Was kann ich für euch tun?“, soll der Schwager gefragt haben. „Es gab ernsthafte Verhandlungen“, sagt González Ruiz, „und viel Druck.“ Chapo habe angeboten, eine rivalisierende Organisation ans Messer zu liefern. „Die Amerikaner sind in die Falle getappt“, sagt Ruiz. „Chapo hat die amerikanische Botschaft rumgekriegt.“ Die Amerikaner bestreiten das. Doch solche Behauptungen werden im verschwörungstheoriegläubigen Mexiko schnell für bare Münze genommen, und für die Polizisten und Soldaten, die wirklich im Drogenkrieg kämpfen, sind sie ärgerlich.

General Rolando Eugenio Hidalgo Eddy war von 2006 bis 2008 für die Anti-Drogen-Einsätze in Sinaloa zuständig und hatte die Ergreifung von El Chapo zur Priorität erklärt. Mehrmals hatten er und seine Männer belastbare Informationen über seinen Aufenthaltsort bekommen, hoch oben in den Gipfeln der Sierra Madre Occidental, einer Gebirgskette im Nordwesten Mexikos.

Seite 4: Plötzlich steigen Rauchzeichen auf

Einmal fuhren Hidalgo Eddy und seine Männer bis zu einer Lichtung in den Bergen. Sie parkten ihre Humvees zwischen den angrenzenden Pinien und stiegen aus. Nur wenige Meilen entfernt lag das kleine Dorf La Tuna de Badiraguato, das sich zwischen zwei Gebirgskämme der Sierra Madre Occidental schmiegt. Die Soldaten suchten das Gelände ab. Sie hatten Informationen, dass sich der Drogenboss in der Gegend aufhielt. El Chapo wurde in La Tuna de Badiraguato geboren und kehrte, obwohl er vor den Behörden auf der Flucht war, so oft wie möglich ins Dorf zurück, um seine Mutter zu besuchen. Es war nicht einfach, nach La Tuna zu gelangen: Die Fahrt im Humvee dauerte vier Stunden, die Straßen waren steil und schlammig, manchmal ganz vom Regen weggespült. Sooft die Armee auch versucht hatte, El Chapo aufzuspüren, war es ihm gelungen zu fliehen – lange, bevor sie da waren.

Durch ihre Ferngläser entdeckten die Soldaten auf einem der Gebirgskämme einen Aussichtspunkt. Der General hatte schon von seinen Spähtrupps davon gehört. Er hieß El Cielo – der Himmel. Es hieß, von dort könne man Hunderte von Meilen in alle Richtungen überblicken. Über der kleinen, reetgedeckten Hütte auf dem El Cielo stiegen plötzlich Rauchzeichen auf. Man hatte General Eddy und seine Männer entdeckt. Als die Soldaten schließlich in La Tuna ankamen, waren El Chapo und seine Leute längst verschwunden.

Die Soldaten fuhren durch das Dorf, in dem etwa 200 Menschen leben, die meisten von ihnen in Häusern mit Lehmböden. Hier gibt es kein fließendes Wasser und auch keine Schule. Es gibt eine kleine Kirche und eine Landebahn. General Eddy und seine Männer liefen durch die Stadt, sprachen mit den Bewohnern. War El Chapo da gewesen? Hatten sie ihn gesehen? Die Soldaten durchsuchten jeden Winkel des Dorfes.

Sie sprachen mit El Chapos Mutter, Maria Consuelo Loera Pérez. „Eine nette Frau“, erinnert sich Rolando Eugenio Hidalgo Eddy – in der Gemeinde hoch angesehen, die stets auf der vordersten Kirchenbank saß. Sie setzte sich für die Rechte der Menschen im Dorf ein; und als einer ihrer Söhne, Miguel Angel, in der nahe gelegenen Stadt Culiacán verhaftet wurde, reichte sie eine Beschwerde ein und beteuerte seine Unschuld. „Sie haben ihn ohne jeden Haftbefehl mitgenommen. Er verdient sein Geld auf anständige Weise“, sagte sie nach seiner Festnahme. „Ich glaube nicht, dass er illegalen Geschäften nachgeht. Sie haben ihn nur verhaftet, weil er Chapos Bruder ist.“

Auch El Chapo verteidigte sie. „Er hat keine Türen aufgebrochen oder gedroht, um aus dem Gefängnis freizukommen – sie haben ihm alle Türen freiwillig geöffnet. Wenn man einen Vogelkäfig öffnet, fliegt der Vogel eben weg. Es ist lange her, dass ich Joaquín gesehen habe, ich habe keinen Kontakt zu ihm. Er hilft nur den Guten. Wie könnte ich mich schlecht fühlen, ich bin doch seine Mutter? Eine Mutter muss alles ertragen, was ihr Kind anstellt, und darum werde ich Gott um Gnade für ihn bitten – er ist mein bester Anwalt.“

Seite 5: Erschossen, weil er eine Vereinbarung gebrochen hatte?

Auch wenn es keine Beweise gibt für Verbindungen zwischen dem Drogenboss und den höchsten Ebenen des Sicherheitsapparats, so bezweifelt doch niemand, dass El Chapo dort Unterstützer gehabt haben muss, die zuließen, dass er jahrelang ungehindert herumlaufen konnte. Als 2009 einer von El Chapos Vertrauten verhaftet wurde, bestätigte sich der Verdacht: In seinem Fahrzeug fand man Dokumente, darunter verschlüsselte Protokolle, die zeigten, dass El Chapo über die Einsätze des Militärs informiert war und die Telefonnummern und E-Mail-Adressen derjenigen besaß, die ihn jagten.

Diese Dokumente belegen, dass innerhalb des Sicherheitsapparats regelmäßig Informanten bestochen wurden; einer von Hidalgo Eddys Leibwächtern etwa wurde festgenommen, weil er vermutlich Informationen an El Chapos Leute weitergegeben hatte. Der Leibwächter hatte jeden Schritt des Generals, beinahe jede seiner Entscheidungen gekannt.

Für die Behörden, die am Krieg gegen die Drogenkartelle beteiligt sind – DEA, ICE, die mexikanische Armee, die Marine und der Bundesstaatsanwalt –, sind diese undichten Stellen fürchterlich frustrierend. Die DEA hat 200 mexikanische Polizisten – einige Medien sprechen von „Narco-Jägern“ – ausgebildet und überprüft, mit denen sie ihre geheimdienstlichen Erkenntnisse teilen. Ansonsten hat sich die Behörde darauf verlegt, mit mexikanischen Marinesoldaten zusammenzuarbeiten statt mit der Armee, da diese meist länger an einem Ort stationiert ist und damit anfälliger ist für Korruption. Die USA und Mexiko setzen inzwischen sogar Drohnen ein, um die Drogendealer auszuspähen.

Und dennoch kommt es immer wieder zu Rückschlägen: Sowohl der Bundesstaatsanwalt für das organisierte Verbrechen als auch der mexikanische Interpol-Chef wurden verhaftet, weil sie die Kartelle mit Informationen versorgt haben sollen. Einer der wichtigsten Kooperationspartner der DEA – der hoch angesehene mexikanische Polizeichef Victor Gerardo Garay, der den Einsatz gegen die notorisch brutalen Areallo-Felix-Brüder in Tijuana geleitet hatte – wurde ebenfalls festgenommen, weil er mit den Drogen, die er und seine Kollegen am Morgen beschlagnahmt hatten, am Abend eine Drogenparty in seinem Haus in Mexico City schmiss. Seitdem wird gegen ihn ermittelt, unter anderem auch wegen der Weitergabe von Informationen an die Narcos.

Nicht wenige Polizisten glauben, dass der respektierte Polizeikommandeur und Held Édgar Millán Gómez – er wurde 2008 in Mexico City erschossen, nachdem er um ein Haar den Drogenboss Arturo Beltrán Leyva gefasst hatte – nur deshalb zur Zielscheibe wurde, weil er eine Vereinbarung gebrochen hatte, die Narcos in Sinaloa in Ruhe zu lassen. Sogar Mexikos Bundespolizeichef Genaro García Luna steht unter besonderer Beobachtung: Glaubt man dem Leibwächter von Drogenboss Beltrán Leyva, hat sich García Luna mit ihm zum Frühstück getroffen, um über eine mögliche Allianz zu sprechen. García Luna streitet das ab, ebenso die amerikanischen Kollegen (obwohl einige, darunter auch der ehemalige Chef des DEA-Nachrichtendiensts Anthony Placido, offen ihre Zweifel an der Glaubwürdigkeit des mexikanischen Polizeichefs geäußert haben).

Doch die Anschuldigungen sind schwerwiegend, und die Amerikaner wissen, dass sie nicht immer aus der Luft gegriffen sind. „Natürlich muss man schauen, woher solche Informationen stammen. Wenn die Quelle ein Straftäter ist … meistens sind Kriminelle manipulative Lügner“, sagt ein amerikanischer Gesetzeshüter in Mexico City, der anonym bleiben will, über die Aussage, die der kürzlich gefasste Drogenboss Zambada Niebla gemacht hat. „Aber wenn es solche Anschuldigungen gibt, schauen wir genauer hin – vor allem, wenn uns die Strafverteidiger im Nacken sitzen. Wenn es eine Aussage gibt und etwas, das wir uns genauer ansehen sollten, dann sollte das auch auf den Tisch kommen, dann sehen wir es uns an.“

Seite 6: „Am Leben zu bleiben, war eigentlich immer die größte Herausforderung“

Die amerikanischen und die mexikanischen Sicherheitsbeamten wissen genau, dass man manchmal mit dem Teufel tanzen muss – oder zumindest in Kauf nehmen muss, dass die Einsatzregeln manchmal gebrochen werden, um etwas zu erreichen. So schickte Anfang 2009 ein hochrangiges Mitglied der Regierung Calderón einen General nach Sinaloa, um mit El Chapo zu einer Vereinbarung zu gelangen. Das zumindest behauptet eine mexikanische Quelle, die anonym bleiben will.
Misstrauen und Nervosität reichen bis tief in die mexikanischen Behördenstrukturen. „Hier kannst du niemandem trauen, keinem Journalisten, keiner Sekretärin, keinem Kardinal, niemandem! Es ist zum Kotzen, hier bringt einen die Wahrheit um“, erzählt ein Polizeikommandant. „Wenn ich dies sage, macht mich der Staatsanwalt fertig, wenn ich das sage, macht er mich auch fertig. Sie werden mich umbringen“, sagt er und fasst sich an den Hals, als würde er erwürgt.

General Hidalgo Eddy blickt mit gemischten Gefühlen auf seine Dienstzeit in Sinaloa zurück. Zu seinen Ehren wurde ein Narcocorrido geschrieben, ein Drogenlied, und er muss grinsen, als er es in seinem neuen Hauptquartier im zentralmexikanischen Bundesstaat Aguascalientes vorspielt. „Ein kleiner General mit einem großen Gewehr“, so lautet der spöttische Text. Hidalgo Eddy hat ein Fototagebuch über seine Fahrten nach La Tuna de Badiaguato geführt. Er hat mehrere Verwandte und Handlanger von Chapo verhaftet. Doch er hat es nicht geschafft, den Boss selbst zu fassen. Als er seinen Posten in Sinaloa aufgab, verkündeten die Zeitungen den Sieg – für den Drogenboss. „El Chapo hat gewonnen: Der Krieg ist vorbei, und General Hidalgo Eddy geht“, lautete eine Schlagzeile.

Hidalgo Eddy hat, sagt er, wenigstens eine große Leistung vollbracht: Er ist am Leben geblieben und kann alles erzählen. Er hat unzählige Morddrohungen erhalten. Einmal, nach einer Razzia in La Tuna, bei der er einen von El Chapos Cousins verhaftet hatte, stand eine Gruppe von Narcos vor den Militärbaracken in Culiacán, wo er stationiert war. Sie warfen eine Leiche aus dem Auto, zusammen mit der Warnung, der General solle verschwinden.

„Am Leben zu bleiben, war eigentlich immer die größte Herausforderung“, sagt der General. Das, und der Kampf gegen die Anschuldigungen, er und seine Männer steckten mit den Narcos unter einer Decke. Einmal schickten Bewohner von Sinaloa einen Brief an die örtliche Menschenrechtskommission und beschuldigten den General, „übelsten Terror über die Familien des Bundesstaats Sinaloa“ gebracht und mit Los Zetas, gewalttätigen Paramilitärs, die damals für das Golf-Kartell arbeiteten, gemeinsame Sache gemacht zu haben. Immer wieder fand man an Tatorten Narcomantas, Spruchbänder, auf denen dem General vorgeworfen wurde, er schütze El Chapo. Hidalgo Eddy beharrt darauf, für die gute Sache gekämpft zu haben. „Ich habe nie einen Pakt geschlossen, nie!“, sagt er und schlägt mit der Faust auf den Tisch. „Bei anderen bin ich mir nicht so sicher“, fügt er leise hinzu.

Es gibt vieles, das wir nicht wissen über Mexikos Drogenkrieg. Viele von denen, die versucht haben, mehr zu erfahren, sind umgekommen. Seit dem Beginn des Drogenkriegs sind in Mexiko mehr als 30 Journalisten getötet worden. Bei den meisten Morden geht man davon aus, dass sich die Opfer zu weit vorgewagt haben in den Sumpf der Drogenkartelle. Einige Journalisten wurden ermordet, weil sie sich öffentlich gegen den Drogenschmuggel ausgesprochen haben, anderen warf man vor, selbst kriminell zu sein.

Viele Zeitungen des Landes haben aufgehört, über die Schießereien zu berichten. Die Namen der beteiligten Banden nennen sie nur noch selten, wenn überhaupt. Blogger und Twitterer haben versucht, diese Informationslücke zu füllen, mit verheerenden Folgen: Allein in den vergangenen zwei Monaten wurden vier Blogger getötet, weil sie über das organisierte Verbrechen berichtet haben. Reporter ohne Grenzen zufolge „ist bereits das Weitergeben von Informationen im Internet regelrecht selbstmörderisch geworden“. Die Redakteure und Reporter sind sich der Risiken bewusst. Sie wissen ja, wer ihre Zeitungen liest. „Wenn du dasitzt und schreibst, denkst du an den Leser und seine Reaktion auf deine Geschichte“, sagt Ismael Bojorquez, ein Redakteur aus Sinaloa. „In meinem Fall ist es das verdammte Schreckgespenst des Narco. Er ist es nämlich, der den Artikel liest.“

Übersetzung: Luisa Seeling

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