Landwirtschaft - Die vertane Chance der Agrarwende

Ein Drittel der deutschen Landwirtschaft sollte bis 2030 ökologisch werden. Das kann kaum noch gelingen. Gestiegene Lebensmittelpreise sind nur einer der Gründe.

Landwirtschaftsminister Cem Özdemir auf dem Deutschen Bauerntag Ende Juni / dpa
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Autoreninfo

Jan Grossarth ist Professor für Bioökonomie und Zirkulärwirtschaft an der Hochschule Biberach. Von ihm erschien 2019 das Buch ,,Future Food - Die Zukunft der Welternährung" (wbg Theiss).

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Silvia Bender ist die mächtige Frau im Bundeslandwirtschaftsministerium. Die Grüne, Staatssekretärin unter Cem Özdemir, navigiert die deutsche Agrarpolitik zwischen Brüssel, Berlin und den Ländern, zwischen Fraktions-, Partei- und Wissenschaftsinteressen. Ihr Ziel: die Agrarwende voranbringen, trotz aller Krisen.

Sie führt das Videogespräch von ihrem Bonner Amtssitz aus, vor einem blauen Hintergrund und schwarz-rot-goldener Flagge. Die Staatssekretärin deutet an, dass ihre Mission nicht einfacher geworden ist. Viel mehr Menschen ist das Geld knapp geworden. Auch der Staat muss sparen. 

Bio ist rückläufig

Biolebensmittel sind im Supermarkt teurer. Eine florierende Wirtschaft und eine Bevölkerung ohne Existenz- und Zukunftsangst wären bessere Voraussetzungen fürs Gelingen. „Unsere Startbedingungen waren gut“, erinnert sich Bender an die ersten Wochen nach der Übernahme des Agrarministeriums durch die Grünen. „Es gab ein gemeinsames Verständnis davon, dass man an einer Transformation der Landwirtschaft arbeiten möchte. Doch nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine hat sich das ein Stück weit aufgelöst.“

 

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Das ist vorsichtig formuliert. Die Agrarwende ist derzeit erlahmt, in Brüssel wollen sie immer mehr Konservative einfrieren. Dass es dazu kam, ist nicht nur dem Krieg geschuldet, sondern dem tragischen Versagen mehrerer Beteiligter.
Die vordergründige Ursache des Agrarwende-Stopps ist der Anstieg der Lebensmittelpreise. Im April 2023 lagen diese in Deutschland gut 17 Prozent über denen des Vorjahrs. Erstmals seit 20 Jahren gingen zeitgleich die gesamten Umsätze mit biozertifizierten Lebensmitteln zurück. Denn viele Menschen umgehen die Teuerung, indem sie in Discount-Märkten wie Aldi und Lidl einkaufen. Die deutsche Biolobby argumentierte etwas hilflos gegen den Eindruck, Bio sei etwas für gute Zeiten: Die Preiserhöhungen für heimische Biomöhren seien weniger stark gewesen als diejenigen für Importmöhren. 

Alle waren an Bord

Um besser verstehen zu können, was die Staatssekretärin meint, wenn sie an die guten „Startbedingungen“ erinnert, ist eine Reise zurück ins Jahr 2021 notwendig. Im damaligen Sommer wurde ein beispielloser Konsens für eine politisch flankierte Ökologisierung der Landwirtschaft schriftlich festgehalten. Das hieß auch: für artgerechte Nutztierhaltung.

Der Konsens sollte sowohl der Politik als auch der Landwirtschaft den Weg ins neue Jahrzehnt und darüber hinaus weisen. Die „große Transformation“ zu Tierwohl, Insekten- und Klimaschutz schien beschlossen, und die Wege zur Realisierung und Finanzierung in vielen Details beschrieben. Das 160 Seiten starke Dokument übergab Peter Strohschneider, der frühere Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Anfang Juli 2021 an Bundeskanzlerin Angela Merkel. Es war der Abschlussbericht der von ihm moderierten Zukunftskommission Landwirtschaft. Diese Kommission hatte Merkel eineinhalb Jahre zuvor ins Leben gerufen. Ein spätes Kunststück ihrer konsensorientierten Staatsführung.

Auf dem Bauerntag im Juni 2021 sprach die Kanzlerin selbst. Sie sagte: „Angesichts von Klimawandel, Flächenverbrauch und der Zerstörung von Ökosystemen wächst das allgemeine Bewusstsein, dass wir an dem Ast sägen, auf dem wir sitzen, und dass wir nicht so weitermachen dürfen wie bisher, sondern unsere Wirtschafts- und Lebensweisen ändern müssen, und zwar alle.“ 

Das Zukunftspapier war so bedeutsam, weil es nicht nur eines der vielen agrarwissenschaftlichen Gutachten war, die schon in den Jahren zuvor immer wieder einen „Umbau“ der Tierhaltung und ökologische Anbaumethoden empfohlen hatten. Nein: Es trug die Unterschrift aller maßgeblichen Landwirtschaftsvertreter. Dazu gehörte Hubertus Paetow von der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft ebenso wie Joachim Rukwied, der Präsident des Deutschen Bauernverbands. Aber auch die Verbandsspitzen der Milchbauern, des Gartenbaus, des Raiffeisenverbands, des Industrieverbands Agrar, der Landfrauen, der Umweltverbände, Brot für die Welt, der Biolandwirtschaft und der deutschen Ernährungswirtschaft. 

Aufbruchstimmung durch die Borchert Kommission

Kein Mitglied der Zukunftskommission Landwirtschaft enthielt sich dem Konsens. Zugleich hatte eine Kommission unter Vorsitz des Alt-Agrarministers Jochen Borchert (CDU) ein Papier über die Reform der Tierhaltung vorgelegt. Ein Umbau der Ställe für eine wissenschaftlich empfohlene, artgerechte Tierhaltung käme den Staat oder die Verbraucher mit rund vier Milliarden Euro im Jahr teuer zu stehen, stand darin. Zehntausende Landwirte demonstrierten damals gegen Nitratverordnungen – und zugleich legten die Greta-Freitagsproteste die Schulen lahm.

Matthias Schulze Steinmann ist ein einflussreicher deutscher Agrarjournalist. Der Chefredakteur von Top Agrar erinnert sich wie ein Zeitzeuge an den Sommer 2021. „Es gab damals auch in der Landwirtschaft echte Aufbruchstimmung“, sagt er. „Den Landwirten war plötzlich klar geworden, dass es der berühmte Markt eben nicht allein richten würde.“ Ex-Agrarminister Borchert sei für sie eine respektierte Integrations- und Vertrauensfigur. „Beide Konzepte versprachen den Landwirten, dass höhere Standards für den Klimaschutz und Investitionen in artgerechte Tierhaltung auch über staatlich organisierte Umlagen finanziert würden. Und sie legten im Detail fest, wie das gelingen kann.“

Das Gutachten der Zukunftskommission lässt sich als landwirtschaftsfreundlich bezeichnen. Eine stabile oder steigende Zahl an Höfen sei erwünscht, stand darin. Dies aber ist kaum realistisch. Die Altersstatistik der Bauernhöfe ist verheerend. 40 Prozent der Betriebsleiter sind älter als 55 Jahre.

Das Ende kam mit Künast

Die Aufbruchstimmung nach dem Konsens hielt nur wenige Monate. Schulze Steinmann sieht als Wendepunkt nicht den Kriegsbeginn, sondern die Koalitionsverhandlungen: „Plötzlich standen zwei Parteien auf der Bremse. Das waren die Grünen. Und die FDP.“

Für die Grünen führte Renate Künast die Gespräche. Sie war von 2001 bis 2005 Bundeslandwirtschaftsministerin und ist für viele Landwirte eine politische Reizfigur. Künast steht für Polarisierung, für eine dogmatische Unterscheidung zwischen Bio- und industrieller Landwirtschaft. Diese ideologische Spaltung hatte die Zukunftskommission gerade mühsam überwunden, indem sie den Akzent auf schrittweise Ökologisierung und deren ökonomische Grundlage legte.

Was Künast von der Zukunftskommission hält, verschwieg sie nicht. Von einer „Showveranstaltung“ sprach sie verächtlich und forderte: „Wir müssen weg von einem agrarindustriellen System hin zu einer nachhaltigen Produktion von gesunden und guten Lebensmitteln.“ Die Bauern fühlten sich außen vor. Das alte Blockdenken war wieder da.

Mit der FDP verabschiedete sich der Staat

Aber auch die FDP sprengte den Konsens. Ihre Agrarpolitikerin Carina Konrad, eine politisch eher unerfahrene Milchbäuerin aus Rheinland-Pfalz, leitete überraschend die Koalitionsverhandlungen zu diesem Themenfeld. Auch von der liberalen Seite aus stand plötzlich der Borchert-Konsens infrage. Denn staatliche Milliardenförderungen der Tierhaltung waren aus marktliberaler Sicht nicht gewollt. Und welche Folgen hätte ein solcher deutscher Sonderweg wohl für die Exportfähigkeit der Milch- und Fleischwirtschaft gehabt?

Der Koalitionsvertrag ist dementsprechend ein merkwürdiger Zwitter. Er trägt die paradoxe Handschrift von Grünen und FDP zugleich. Zum einen: das höchst ambitionierte Bioflächenziel von 30 Prozent. Aber auch, dass der Markt für die Finanzierung sorgen müsse, nämlich den Willen, „ein durch Marktteilnehmer getragenes finanzielles System zu entwickeln, mit dessen Einnahmen zweckgebunden die laufenden Kosten landwirtschaftlicher Betriebe ausgeglichen und Investitionen gefördert werden, ohne den Handel bürokratisch zu belasten“. Dass dies allein nicht genügen würde, war schon vor Kriegsausbruch gut belegt.

So war das Fenster des Konsenses geschlossen, die Arbeit der Zukunftskommission zunichte. Beobachter sehen aufseiten der FDP auch die Handschrift von Christian Lindner, der Interesse gehabt haben müsse, die marktliberale Grundhaltung erkennbar zu machen. Ebenso dürfte Volker Wissing an den Formulierungen mitgewirkt haben, der damals noch Landwirtschaftsminister von Rheinland-Pfalz war und mit der CDU im Clinch lag.

Cem Özdemir geht nicht auf Konfrontation

Doch auch die FDP unterschrieb das 30-Prozent-Ökolandbauziel bis 2030. Ein Blick auf die nackten Statistiken verdeutlicht, wie hoch gegriffen es ist: Gut fünf Millionen Hektar Land müssen demnach schon bis in acht Jahren ökologisch bewirtschaftet werden. Derzeit sind es nur gut 1,8 Millionen Hektar. Jedes Jahr müsste das Flächenwachstum 11 Prozent betragen, errechnete der Agrarmarkt-Informationsdienst. Ein so hoher Wert war in den vergangenen 20 Jahren nur zwei Mal erreicht worden. In der EU sollen 25 Prozent Fläche nach Biostandards bewirtschaftet sein. Rumänien etwa kommt derzeit auf 5 Prozent. In den meisten Staaten der EU war die Biofläche in der Dekade seit 2012 aber durchaus stark gestiegen – in Frankreich um 144 Prozent, in Bulgarien um 197 Prozent, in Kroatien um 240 Prozent. Jetzt drängt die Inflation überall zur günstigeren Produktion von Fleisch, Gemüse und Getreide.

Erstmals seit Jahren setzte die Biolandwirtschaft im Krisenjahr 2022 weniger Geld um als im Vorjahr. Im Landwirtschaftsministerium kursieren kafkaeske Gefühle. Cem Özdemir, der unter Landwirten keinesfalls unbeliebte Agrarminister, geht – anders als die knallharte Künast – nicht auf Konfrontation mit der „Bauernlobby“. Er versucht erkennbar, den Weg des Konsenses weiterzuverfolgen. 

Und sein Ministerium ist in Agrarwendesachen auch nicht untätig. Zwei Gesetze brachte Özdemir auf den Weg. Das eine soll es den Menschen ermöglichen, beim Einkauf von frischem Schweinefleisch zu erkennen, wie das Tier gehalten wurde. Künftig soll die Haltungskennzeichnung auch für Frisch­fleischtheken und Restaurants Pflicht werden. Das Gesetz soll vor dem Sommer vom Bundestag beschlossen werden. 

Der Fleischkonsum geht ohnehin zurück

Das zweite Vorhaben heißt „Bundesprogramm zur Förderung von Tierwohlställen“. Es finanziert Schweinehalter, die Ställe umbauen oder neu bauen. Eine Milliarde Euro für vier Jahre steckt im Fördertopf. Das aber ist weit weniger als ein Zehntel der von der Borchert-Kommission verlangten Summe. Auf eine langfristige Finanzierung konnten sich die Ampelfraktionen nicht einigen.

Deutlich ist auch, dass die Tierwohl-Agrarwende vorerst auf die Schweinehaltung beschränkt wird. Dabei geht die Nachfrage nach Schweinefleisch ohnehin stark zurück. 2022 aßen die Menschen in Deutschland laut Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung rund zehn Kilogramm weniger Schweinefleisch pro Person als noch 2012. Es waren 29 Kilogramm im Jahr, so wenig wie noch nie.

Auch der Fleischkonsum insgesamt erreichte den Tiefststand seit 1989. Einzig der Verzehr von Hühnerfleisch steigt kontinuierlich. Die Schweinehaltungs-Agrarwende ist weniger ein politisch kühnes Programm als eine politische Begleitung des ohnehin Geschehenden. Allerdings: Der Schweinebestand ging nicht so stark zurück wie der deutsche Verzehr. Deutschland bleibt deswegen ein Netto-Exporteur von Schweinefleisch.

Wo bleibt die Wertschätzung für das Erreichte?

Gut 16.000 Schweinehalter zählt die amtliche Statistik noch in Deutschland. Etwa jeder zweite gab den Betrieb in den vergangenen zehn Jahren auf. Bernhard Barkmann aber macht weiter. Er nennt sich einen „kleinbäuerlichen Massentierhalter“. Barkmann hält im Emsland 1500 Schweine und 150 Rinder und baut auf 50 Hektar Land Getreide und Mais als Futter an. Der Hof wurde im Jahr 1553 gegründet und ist seitdem in Familienbesitz. Barkmann engagiert sich vor allem in sozialen Medien für die Interessen seines schwindenden Berufsstands.

Im Juni 2023 wirkt er genervt bis resigniert. „Agrarwende, Transformation“, sagt Barkmann, „das können die Bauern bald alles nicht mehr hören. Ich frage mich, wie lange wollen wir denn noch wenden? Und wann ist auch einmal genug gewendet?“

Ambitionierte Ziele sind es nicht, die den Schweinemäster Barkmann nerven. Sondern vielmehr, dass die vielen Erfolge der vergangenen zehn Jahre medial und politisch überhaupt nicht beachtet würden. „Das Gute, das Erreichte wird überhaupt nicht gesehen“, meint er. „Dabei hat uns das alles viel Mühe gekostet.“ 

In den vergangenen Jahren seien die Antibiotika-Gaben in der Massentierhaltung deutlich zurückgegangen. Die Fleischwirtschaft habe erfolgreich eine Initiative Tierwohl gegründet. Sie ist im Handel mit Siegeln und Umlagen für die Landwirte gut etabliert und versorgt die Tierhalter schon heute mit vielen Millionen Euro, wenn sie ihre Ställe modernisieren. Außerdem habe die Landwirtschaft ihre Stickstoff-Düngebilanzen deutlich verbessert. Ein strengerer Gewässer- und Bodenschutz (im Fachjargon: Ausweisung „roter Gebiete“, in denen eine ausreichende Düngung verboten ist) und neue Regelungen zum Gewässerabstand seien wirksam. Alles das ist wahr. 

Bender will weiter wenden

Nun scheine die politische Debatte, sagt Barkmann, wieder an einem Punkt, als habe es die Zukunftskommission nie gegeben. Tierhalter gegen die Politik, wie im Rinderseuchenjahr 2000, das Künast an die Macht brachte. „Ich sehe es mit Sorge, dass wir in Deutschland die Tierhaltung verrecken lassen – beziehungsweise mit Genugtuung, dass sie von selbst eingeht und wir das Agrarwende nennen“, sagt Barkmann. Dabei habe die Borchert-Kommission doch klar ausgerechnet, dass rund vier Milliarden Euro im Jahr nötig seien. 

Silvia Bender, die grüne Staatssekretärin, ist Agraringenieurin und hat eine klassische Parteikarriere hinter sich. Sie arbeitete bei Bioland und für den BUND. Seit 2006 ist sie als Parteimitglied in verschiedenen Funktionen in Agrarministerien tätig, zuletzt als Staatssekretärin in Brandenburg. Bender sagt: „Eigentlich müssten die Landwirte mal sagen: Die Grünen sind die Partei, die sich für sie interessiert und genau deshalb endlich zukunftsfeste Rahmenbedingungen schafft.“ 

Von einem nun gelegentlich von konservativen Agrarpolitikern geforderten Moratorium der Agrarwende in Zeiten des Krieges und der hohen Inflation hält sie deshalb nichts. „Uns läuft die Zeit weg, auch bei Klimaschutz und Biodiversitätskrise“, sagt sie. Bender würde gern am Umbau-Konsens der Merkel-­Ära festhalten. „Aber es ist schwierig geworden“, sagt sie. Der Minister Özdemir habe gleich als erste Amtshandlung das Papier der Zukunftskommission studiert und diese zur Fortsetzung ihrer Arbeit eingeladen. Aber da war der Koalitionsvertrag schon geschrieben. Und dann kamen der Krieg und die Inflation. 

„Bio ist kein Luxus“

Als Russland im Februar 2022 in die Ukraine einfiel, war die Bundesregierung kaum zwei Monate im Amt. Schon wenige Tage danach begannen die Ereignisse in die Agrarpolitik überzu­schwap­pen. Würde Getreide dauerhaft sehr viel teurer? Und wie werde die Abhängigkeit der Ernten von russischen Rohstoffen und Düngemitteln die Landwirtschaft treffen? 

In Brüssel ist der Weg gegen die Ökologisierung heute, gut ein Jahr später, die Marschrichtung der christdemokratisch-konservativen EVP. Dabei ist der „Green Deal“, mit dem die EU-Ökoziele verbunden sind, das Hauptprojekt der aus der eigenen Parteienfamilie stammenden Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Die Zukunft des Green Deal wird in diesen Wochen in Brüssel verhandelt. Es geht um die Zukunft der Biolandwirtschaft als politischer Leitidee überhaupt. Ist Öko nicht eher ein Life­style-Thema für gute Zeiten, für privilegierte Schichten? 

„Bio ist kein Luxus“, entgegnet Jan Plagge. Er ist als Präsident des großen Verbands Bioland häufig in Brüssel. Was er dort auf der politischen Bühne, wie in Deutschland, beobachtet, nennt er eine „gut orchestrierte Verschiebung der Narrative“. Der Weltagrarbericht von 2008 habe den breiten gesellschaftlichen Konsens hervorgebracht, dass Kleinbauern die Welt ernähren und nicht die Agrar­industrie. Mit dem Ukrainekrieg habe dieses Bild ein jähes Ende gefunden. 

Bio hat einen dynamischen Markt

Vor dem Hintergrund einer neuen „Furcht-Erzählung“, analysiert Plagge, verändere sich der öffentliche Diskurs dramatisch. In diesem Zusammenhang werde immer mehr „problematische Technologie“ konsensfähig. „Man sagt heute: Damit meine Wohnung warm bleibt, braucht es eben doch ein bisschen Atomstrom, ein bisschen Industrie von allem – auch ein bisschen Agrarindustrie mit Gentechnik, damit der Teller noch voll wird.“ Dabei sei das System Bio die Antwort auf die Krise, sagt Plagge. Die Erträge seien im organischen Anbau weniger abhängig von russischem Gas, das die Basis für die Produktion des Stickstoffdüngers ist, der bei den Ökobauern nicht eingesetzt werden darf.

Wird der Ökolandbau als politische Kategorie nach dieser großen Preiskrise überhaupt Bestand haben? Plagge kämpft dafür, dass es so bleibt. „Wir brauchen Werte, darum geht es, und die Orientierung an Ökosystemen ist unerlässlich.“ Aber er spürt ungekannten Gegenwind.

Es gibt tatsächlich auch viele neue Zwischenwege oder Alternativen, die weder klassisch agrarindustriell sind noch streng ökologisch. Das sind: Proteine aus dem Bioreaktor – eine Lösung der Nahrungsmittelproduktion von der Fläche also, vor allem von der Tierhaltung. Das ist, zweitens, das Urban Farming, also der bodenlose Gartenbau im Hochhaus. Es sind, drittens, die Verheißungen der Biotechnologie, der neuen Gentechniken wie Crispr-Cas-9 etwa. Durch sie werden schädlingsresistente Züchtungen in vergleichbar kurzer Zeit möglich, womit Pestizide überflüssig werden.

Für die klassischen Bioziele spricht trotzdem, dass die Produktionssysteme rechtlich definiert und am Markt etabliert sind. Im Abschlussbericht der Zukunftskommission hieß es dazu, Ökolandbau sei das einzige Nachhaltigkeitsprogramm, das über einen nennenswerten und äußerst dynamischen eigenen Markt verfügt. „Die umfassend definierten Prozessqualitäten erlauben es, dass Bürger:innen spezifische Anforderungen an die Landwirtschaft in ihrem Einkaufsverhalten umsetzen.“
Die lange Geschichte der Biolandwirtschaft könnte also der Grund für ihr politisches Überleben sein. „Aber wir haben als Biobewegung natürlich keinen Alleinvertretungsanspruch auf das Thema Ökologisierung“, sagt Bioland-­Präsident Jan Plagge.

 

Dieser Text stammt aus der Juli-Ausgabe von Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

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