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() Absolute Bewegungsfreiheit trotz Prothese: Dank fortschrittlichster Technik

Ein Mann mit Mission - Ein Mann mit Mission

Martin Pusch ist Entwicklungsingenieur bei Otto Bock, dem Weltmarktführer für Prothetik. Er hat die erste computergesteuerte Beinprothese mitentwickelt – mit dem C-Leg wandern heute Menschen im Himalaya, andere fliegen Präsidentenmaschinen.

Evelyn Runge

Autoreninfo

Evelyn Runge, Dr. phil., forscht an der Hebrew University of Jerusalem, Israel, zu den Produktionsbedingungen des digitalen Fotojournalismus. Als Journalistin veröffentlicht sie u.a. in Frankfurter Allgemeine SonntagszeitungDie Zeit/Zeit OnlineSüddeutsche ZeitungDer Spiegel/Spiegel Online. 

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Tag und Nacht bewegen sich diese Füße und Kniegelenke, sie stampfen gleichmäßig, 34 Tage, 3600 Kilometer, drei Millionen Schritte, einmal die Strecke von Lissabon bis Warschau. Manche Füße sind klein, andere groß – und alle sind in Glaskästen: Nicht Muskeln bewegen sie, sondern Maschinen. Martin Pusch steht im Prüflabor der Firma Otto Bock, groß und weißhaarig, in schwarzen Jeans und hellem Hemd; sein rotes Notizbuch hat er unter den Arm geklemmt. Die Füße und Kniegelenke sind Teile von Prothesen, die hier getestet werden, bevor sie auf den Markt kommen. Martin Pusch leitet die Abteilung Entwicklung und Prüfwesen und ist im strategischen Technologiemanagement tätig. Seit 22 Jahren arbeitet er bei Otto Bock Health Care, dem Weltmarktführer der Prothetik. Der Firmensitz liegt in Duderstadt bei Göttingen. 1919 gründete der Orthopädiemechaniker Otto Bock die Firma in Berlin, um Kriegsversehrte zu versorgen. Heute leitet sein Enkel Hans Georg Näder das Unternehmen mit Standorten in mehr als 40 Ländern. 4218 Mitarbeiter erwirtschafteten im vergangenen Jahr einen Umsatz von knapp 500 Millionen Euro. Längst sind Prothesen High-Tech-Geräte. Mikroprozessoren steuern die Bewegung, die Füße sind karbongefedert. Im Foyer der Zentrale zeigt eine Ausstellung die Vielfältigkeit der Prothesen: Weiße, futuristisch anmutende Figuren tragen künstliche Arme und Beine, manche bis zum Ellenbogen oder Knie, manche bis zur Schulter oder zur Hüfte, manche mit dem Brustkorb verbunden durch Elektroden. 1997 brachte die Firma die erste computergesteuerte Beinprothese auf den Markt; das C-Leg wurde von Martin Pusch mitentwickelt. „C“ steht für computerized, comfort und controlling. Den Prototypen mit einem elektronisch gesteuerten Kniegelenk hatte der Kanadier Kelly James erdacht, den Firmenchef Näder 1991 bei einer Messe in Chicago kennenlernte. Es dauerte noch fünf Jahre, bis Martin Pusch und seine Mitarbeiter diesen Prototypen weiterentwickelt hatten mit dem Ziel, den natürlichen Bewegungsabläufen möglichst nahezukommen. „Das C-Leg ist bei weitem unser komplexestes Produkt“, sagt Pusch. Denn das menschliche Gehen ist kompliziert: 1600 Nerven führen zu einem Bein. Willentlich und bewusst 1600 Befehle abzusetzen, ist jedoch unmöglich, die Bewegung erfolgt automatisch. In kürzester Zeit stellt sich der Körper auf unterschiedliche Belastungen und den Untergrund ein. Ein Schritt dauert nur eine Sekunde. In 0,6 Sekunden setzt der Fuß auf, rollt ab, und das Bein schießt mit der dreifachen Erdbeschleunigung nach vorne. Die Beinmuskeln sorgen dafür, dass der Unterschenkel nicht zu schnell nach vorne schwingt. Im C-Leg bremst eine Hydraulik im Kniegelenk das Bein. Jeden Schritt berechnet der Minicomputer neu, denn schon zwei Millimeter hohe Unebenheiten könnten den Prothesenträger zu Fall bringen. Martin Pusch kam durch Zufall zur Prothetik. Er begeisterte sich früh für Technik und begann schon als Schüler Elektronik- und Haushaltsgeräte zu reparieren; nach der Realschule ließ er sich zum Radio- und Fernsehtechniker ausbilden. Puschs Vater war Pfarrer, der christliche Glaube prägte sein Leben: „Ich wollte tun, was Gottes Wille ist – ich wollte das Richtige tun.“ Geräte zu reparieren, die wie Fernseher „den Menschen wertvolle Lebenszeit stehlen“, erschien ihm falsch. Doch ausgerechnet durch das Fernsehen erfuhr Martin Pusch vom Studiengang Medizintechnik an der Universität Gießen. Er studierte dort und wurde Ingenieur für biomedizinische Technik; seine Diplomarbeit schrieb er bei Otto Bock über Druckverteilungsmessung zwischen Fuß und Schuh – und blieb der Firma bis heute treu. „Ich habe meinen Beruf zum Hobby gemacht“, strahlt er. Selbst in seiner Freizeit skizziert er Prothesen und notiert neue Ideen. Früher kam er oft noch am Wochenende ins Prüflabor; mit seiner Frau hat er abgemacht, dass er in der letzten Woche der Ferien wieder beginnen darf, sich mit Prothetik zu beschäftigen. „Man erkennt bei Menschen am Gang, wie es ihnen geht“, sagt Martin Pusch, „gut oder schlecht, sind sie nervös, haben sie es eilig.“ Viele Prothesenträger blickten ständig nach unten und dächten über jeden Schritt nach. Als die ersten Amputierten das C-Leg testeten, bekam Pusch Reaktionen, die ihn noch heute freuen. Ein Mann fragte ihn, ob er eigentlich wisse, wie viele verschiedene Sitzbezüge Autos hätten – er konnte zum ersten Mal beim Gehen in Autos blicken. Ein anderer freute sich über den Wald um Duderstadt. Andere Geschichten, die Pusch über C-Leg-Träger erzählt, klingen wie aus Hollywoodfilmen: Curtis Grimsley flüchtete am 11. September 2001 aus dem World Trade Center – zu Fuß aus dem 70. Stock. Er überlebte. Andrew Lourake ist Pilot der amerikanischen Vize-Präsidentenmaschine „Air Force Two“: Als erstem Oberschenkelamputierten erlaubte ihm die US Air Force, weiter zu fliegen. Nach dem ersten Flug mit seiner neuen Prothese klebte er seinen Behinderten-Parkausweis an die Scheibe des Flugzeugs – die Botschaft: Andrew is back. Die Hannoveranerin Irmgard Timpe kletterte mit ihrem C-Leg am Mount Everest bis auf 4000 Meter Höhe. Der Spitzensportler Heinrich Popow, Paralympics-Gewinner im Hundert-Meter-Lauf 2008 in Peking, nutzt im Alltag ein C-Leg. Martin Pusch liebt diese Geschichten und ist immer wieder fasziniert vom Lebensmut der Menschen. Das spornt ihn an, weiter das immer gleiche Ziel zu verfolgen: „Die Prothese muss dem natürlichen Vorbild noch ähnlicher werden.“

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