Deutsche arbeiten immer weniger - „Work-Life-Balance“ lässt die Fleißigen dumm aussehen

Unser Sozialstaat macht es möglich, weniger zu arbeiten, ohne in gleichem Maße Einkommenseinbußen hinnehmen zu müssen. Was für den Einzelnen eine rationale Strategie ist, führt gesamtgesellschaftlich zu Wohlstandsverlusten.

Ist das die berühmte soziale Hängematte? / dpa
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Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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Als die Gewerkschaften in den 1980er-Jahren ihren Kampf für die 35-Stunden-Woche aufnahmen, warnte Kanzler Helmut Kohl vor dem „kollektiven Freizeitpark Deutschland“, in dem niemand mehr arbeiten wolle. Nun wurde in Deutschland – nicht zuletzt wegen der vielen Urlaubs- und Feiertage – schon immer weniger gearbeitet als in anderen Ländern. Doch gibt es einen entscheidenden Unterschied: Damals sollte die Arbeitszeitverkürzung auch ein Mittel der Umverteilung sein – von den Beschäftigten hin zu den Arbeitssuchenden. Heute dagegen suchen die Betriebe händeringend nach Mitarbeitern.

Ebenfalls verändert hat sich die Wettbewerbsposition Deutschlands im internationalen Vergleich: Exportweltmeister, das war einmal. Die Bundesrepublik ist auch längst nicht mehr die Konjunkturlokomotive Europas. Doch eine Spitzenposition haben wir verteidigt: Die deutschen Erwerbstätigen arbeiten weiterhin weniger als die Menschen in allen anderen OECD-Ländern. 2023 wurde sogar ein neuer „Freizeitrekord“ erreicht. Die durchschnittliche Jahresarbeitszeit betrug 2023 nur noch 1342 Stunden, der niedrigste Stand seit 50 Jahren, wenn man vom Pandemiejahr 2020 einmal absieht. 2019 waren es noch 1354 Stunden.

Der Rückgang der geleisteten Arbeitsstunden ist einerseits das Ergebnis von gewerkschaftlichen Bemühungen, die Wochenarbeitszeit zu senken. Andererseits hängt der Rückgang mit dem ausgeprägten Hang zur Teilzeitarbeit zusammen. Aktuell hat sich jeder Vierte für Teilzeit entschieden, bei den Frauen sogar jede Zweite. Dafür gibt es gute Gründe: Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen, eigene gesundheitliche Einschränkungen. Bisweilen findet mancher nicht die gewünschte Vollzeitstelle und weicht deshalb in Teilzeit aus.

„Vollzeittätigkeit nicht gewünscht“

Eine Untersuchung des Statistischen Bundesamtes hat freilich ergeben, dass eine bestimmte Begründung für einen Teilzeitjob alle anderen schlägt: „Vollzeittätigkeit nicht gewünscht“, wie die Statistiker notierten. Mehr Life, weniger Work: Vor allem die Angehörigen der „Generation Z“ tendieren zur Vier- oder gar Dreitagewoche. Das ist die Altersgruppe der zwischen 1995 und 2010 Geborenen. Die Älteren unter ihnen haben Schule und Ausbildung abgeschlossen, sind bereits in den Arbeitsmarkt eingestiegen. 

Diese jungen Männer und Frauen, die die in den Ruhestand wechselnden Babyboomer ersetzen sollen, unterscheiden sich von ihren Eltern und Großeltern in einem wichtigen Punkt: Sie wollen nicht unbedingt „bis zum Umfallen schuften“, worunter sie eine 38- oder 40-Stunden-Woche bei „nur“ 30 Urlaubstagen verstehen. Sie wollen einfach mehr Zeit für sich, für ihre Familien, ihre Freunde, ihre Hobbys. 

Längst sprechen nicht nur die ganz Jungen von der Life-Work-Balance. Den Älteren ist diese Haltung ebenfalls nicht unbekannt, wie der Drang zum vorzeitigen Eintritt in den Ruhestand belegt. Für immer mehr Menschen ist die Priorität klar: Sie wollen nicht arbeiten, um leben zu können. Vielmehr wollen sie in erster Linie leben; Arbeit wird bei nicht wenigen zum notwendigen Übel.
Das hat gravierende wirtschaftliche Folgen. Kürzere Arbeitszeiten verstärken den Arbeitskräftemangel, nicht nur bei den Facharbeitern, sondern auch beim Servicepersonal. Wenn weniger gearbeitet wird, dämpft das die Chancen auf ein nennenswertes Wirtschaftswachstum. Weniger Arbeit wirkt sich überdies bei den Steuereinnahmen und den Sozialabgaben aus. 

20 Prozent weniger Arbeit heißt nicht 20 Prozent weniger netto

Nun gilt: Wer weniger arbeitet, verdient weniger Geld. Doch unser Steuer- und Abgabensystem dämpft die Einkommenseinbußen, wenn jemand mehr „Life“ haben möchte. Arbeitet ein Alleinstehender ohne Kind in Vollzeit (40 Stunden) für 5000 Euro brutto, bleiben ihm in der Steuerklasse I/0 nach Abzug von Steuern (ohne Kirchensteuer) und Sozialabgaben noch 3125 Euro netto. Reduziert derselbe Arbeitnehmer seine Arbeitszeit um 20 Prozent auf 32 Stunden oder vier Tage, sinkt das Brutto-Einkommen ebenfalls um 20 Prozent auf 4000 Euro, sein Netto auf 2602 Euro. Er bekommt also 523 Euro weniger, ein Minus von nur zehn Prozent. 

 

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Finanziell gesehen ist das aus der Sicht des Arbeitnehmers kein schlechter Deal, da ihm ein großer Teil des Leistungskatalogs des Sozialstaats ungeschmälert erhalten bleibt. Denn geringere Beiträge für die Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung verringern nicht den Anspruch auf entsprechende Leistungen. Ob jemand seinen Krankenversicherungsbeitrag auf ein Monatseinkommen von 1000, 3000 oder 5000 Euro entrichtet: Die Leistungen der Krankenkasse sind stets dieselben. Ob jemand wenig verdient, weil er gesundheitlich eingeschränkt ist oder weil er zusätzlich Freizeit haben möchte – das interessiert den Sozialstaat nicht.

Arbeitsunwillige profitieren vom Steuer- und Abgabensystem

Bei der Rentenversicherung ist es anders. Wer beruflich zurücksteckt, zahlt weniger in die Rentenkasse ein und muss im Alter mit einer geringeren Rente rechnen. So weit, so gerecht. Nur: Wenn ein Freizeit-Künstler im Ruhestand zu wenig zum Leben hat, hilft ihm der Staat mit der Grundsicherung. Warum er so wenige Rentenpunkte erworben hat, spielt keine Rolle.

Die Life-Work-Praktiker profitieren eindeutig von den Besonderheiten unseres Steuer- und Abgabensystems. Da die Einkommensteuer mit steigendem Einkommen progressiv, das heißt überproportional steigt, sinkt die Steuerlast bei reduziertem Einkommen ebenfalls überproportional. Wer sich nicht „kaputt arbeiten möchte“, zahlt weniger Steuern und geringere Sozialabgaben. Doch die Aufwendungen des Staates bleiben – mit Ausnahme bei der Rentenkasse – unverändert. 

Anders ausgedrückt: Die Life-Work-„Balancer“ genießen das Plus an Freizeit bei einem geringen Minus beim Einkommen. Für das, was dem Staat fehlt, kommt die Masse der Vollzeit-Malocher auf. Das Wirtschaftsforschungsinstitut RWI hat im Auftrag der FAZ berechnet, dass schon beim heutigen Umfang der Teilzeitarbeit der Staatskasse 38 Milliarden Euro verloren gehen – im Jahr. Und das bei steigender Tendenz.

Weniger Arbeit führt zu weniger Wohlstand für alle

Wer heute weniger arbeiten will, der findet ideale Rahmenbedingungen vor. Anders als in den 1990er-Jahren muss beispielsweise ein frischgebackener Jurist oder Ökonom nicht Taxi fahren, weil er trotz einer passablen Ausbildung keine Anstellung findet. Gleichzeitig müssen die Arbeitgeber heutzutage flexibler sein als die Arbeitsuchenden. Wer in seinem Betrieb grundsätzlich keine Möglichkeit anbietet, weniger zu arbeiten, tut sich bei der Suche nach neuen Mitarbeitern immer schwerer. 

Viele Erwerbstätige nutzen ihre gestärkte Position am Arbeitsmarkt. Zudem profitieren sie davon, dass das Steuer- und Abgabensystem die Neigung zu geringeren Arbeitszeiten indirekt fördert. Allerdings kommen die Freizeit-Apologeten an einer ökonomischen Wahrheit nicht vorbei: Weniger Arbeit führt zu geringerem Wohlstand für alle, bringt den Staat um notwendige Steuereinnahmen und das Sozialsystem dem Kollaps ein Stück näher.

Wer weniger arbeitet, um „mehr Zeit für sich“ zu haben, tut dies zwangsläufig zu Lasten derer, die Vollzeit arbeiten und mit ihren höheren Steuern und Sozialabgaben den Sozialstaat am Laufen halten. So schön Life-Work-Balance in den Ohren von immer mehr Deutschen auch klingen mag: Wenn es immer mehr solche „Trittbrettfahrer“ gibt, wird das „Life“ bald gar nicht mehr so angenehm sein wie heute.

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