Bahnexperte Christian Böttger - „Bahn in den letzten zwei Jahrzehnten sträflich vernachlässigt“

Baustellen, Zugausfälle, Verspätungen: Dieses Jahr wird mit einem Katastrophenjahr für die Deutsche Bahn und ihre Fahrgäste gerechnet. Der Bahnexperte Christian Böttger spricht mit Cicero über die Versäumnisse der Politik und den verkehrspolitischen Irrsinn des 49-Euro-Tickets.

Ein gewohntes Bild: Zugausfälle und überfüllte Bahngleise wie hier im Hamburger Hauptbahnhof / picture alliance
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Autoreninfo

Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

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Der ausgewiesene Bahnexperte Christian Böttger lehrt seit 2000 als Professor Wirtschaftsingenieurwesen an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin. Er war in verschiedenen Funktionen für die Bahn und für Siemens tätig.

Herr Böttger, viele erzählen sich ihre Bahn-Erlebnisse. Was ist persönlich Ihre liebste Bahn-Geschichte?  

Ich kann gar nicht so ganz furchtbare Horrorgeschichten erzählen, wie andere das tun. Aber es gibt natürlich schon immer wieder sehr unerfreuliche Geschichten mit Verspätungen und falschen Informationen. Die Pünktlichkeit ist auf den Strecken deutlich schlechter geworden. Und auch die Vielzahl der Störungen und Sperrungen haben ihre Auswirkungen. So ist der Spaß, den ich eigentlich beim Bahnfahren habe, in letzter Zeit schon ein bisschen verloren gegangen. 

Ein Bahnmanager soll gegenüber der Politik gesagt haben, 2022 sei ein gutes Jahr für die Bahn gewesen, 2023 werde die Katastrophe. Das kann man sich als Fahrgast kaum vorstellen. Können Sie erklären, was uns dieses Jahr erwartet?

Der Hauptgrund für die nachlassende Qualität des Bahnangebots, was Pünktlichkeit und Verlässlichkeit angeht, ist die Überlastung der Infrastruktur. Die Bahn-Infrastruktur, also Gleise, Weichen und Brücken, ist mit der steigenden Nachfrage über Jahre hinweg nicht mitgewachsen. Zudem ist die Infrastruktur vernachlässigt worden, zu wenig Instandsetzung und Modernisierung. Jetzt kommen Baustellen hinzu, was eigentlich gut ist, aber den Betrieb weiter stören wird. 

Wie sieht die Vernachlässigung der Bahn genau aus?

In Deutschland wurde in den letzten 20 Jahren kaum noch Geld in die Infrastruktur investiert. Vor allem wenn es um den Ausbau geht, ist zu wenig passiert. Vor 20 Jahren hat man vier Milliarden Euro pro Jahr ausgegeben, um neue Strecken zu bauen. Jetzt sind es 1,5 Milliarden, und die Ansage ist, dass man auf zwei Milliarden pro Jahr kommen will und mittelfristig vielleicht auf 2,5 Milliarden. Das ist erheblich zu wenig, wenn man auf die politischen Ziele schaut.

Wo genau fehlt das Geld?

Es hat sich eine gewaltige Liste mit Bahn-Ausbauprojekten angestaut. Weil sich eben die Verkehrsnachfrage ändert, müsste man eigentlich auch das Netz entsprechend umbauen. Strategisch gesehen müssten die großen Knoten viel stärker ertüchtigt werden. Wir haben im Güterverkehr immer mehr Verkehr, der auf den großen Achsen von und zu den Häfen läuft, und dafür ist das Netz heute nicht ausgerüstet. Und wir haben eine Situation, in der zeitgleich immer mehr Züge ins Netz reingeschoben werden. Das führt dann unweigerlich zu Verspätungen, Stornierungen und Unzuverlässigkeit. Und auch im Regionalverkehr ist das Netz total überlastet. 

Das Netz, das klingt so abstrakt. Was passiert dieses Jahr in Deutschland bei der Bahn?

Konkret lässt sich das von mir schwer vorhersagen. Die Knoten Köln und Frankfurt bis nach Mannheim sind besonders überlastet. Da reicht eine kleine Störung, und schon droht der Zusammenbruch des Fahrplans – mit Auswirkungen weit ins Land hinein. In den letzten Jahren wurden immer mehr Züge auf die bestehenden Gleise geschickt, das führt zur Überlastung. In Berlin beispielsweise wurde zum Fahrplanwechsel der Regionalverkehr auf der Hauptachse, der „Stadtbahn“, verdichtet. Es kam regelmäßig zu Verspätungen, die anfangs noch auf andere Probleme wie fehlende Lokführer geschoben wurden. Aber das allein stimmt nicht. Solange wir das Netz nicht ausgebaut haben, solange müssen wir mit diesen Schwierigkeiten rechnen. 

Was hemmt den Ausbau der Schienen am meisten, abgesehen vom Geld?

Letztlich sind die Bürgerbeteiligung und die Klagemöglichkeiten ein sehr großer Hemmschuh. Es gibt eine massiv abnehmende Bereitschaft der Bürger, den Bau von öffentlicher Infrastruktur zu akzeptieren. Es gibt ja sogar Anwohner, die versuchen, bestehende Bahnstrecken wieder loszuwerden. Und auch Politiker haben dabei bisweilen eine ambivalente Rolle. Es gibt zum Beispiel die dringend benötigte Neubaustrecke Hamburg-Hannover mit Abzweig nach Bremen, seit 20 Jahren wird gekämpft und keine Trasse gefunden, die akzeptabel erscheint. „Natürlich brauchen wir die Strecke, aber bitte nicht hier“, sagen auf der einen Seite die Leute in Celle und auf der anderen die Bürger in Soltau. Dabei werden sie unterstützt von ihren lokalen Bundestagsabgeordneten, die aber gleichzeitig in Berlin den Ausbau der Eisenbahn fordern. In dem erwähnten Fall gibt es nach fast 20 Jahren und endlosen Bürgerbeteiligungsverfahren keine neue Trasse, für die es einen Konsens gibt. Das ist die Realität beim Bahn-Ausbau. 

Welche Lösungen kommen in Frage?

Nehmen Sie das Beispiel in Bayern. Wir bauen die neue Brenner-Trasse bei Rosenheim komplett im Tunnel, das ist Flachland. Und es gibt keine guten Tunnel. Er kostet das Dreifache, dauert zehn Jahre länger, und der ökologische Vorteil der Bahn geht teilweise verloren. Wenn wir dieses Problem nicht lösen, dass Anwohnerinteressen alles stoppen können, dann kommen wir in Deutschland zum Stillstand. Und die Debatten bei Stromtrassen und im Straßenbau sind ja ähnlich.
Ich glaube, wir brauchen ein komplett neues Verfahren der Beteiligung und Entschädigung von Betroffenen bei Infrastrukturprojekten. 

Wie sieht es aber mit dem Personal aus?

Die Bahn hat in der Tat ein großes Personalproblem. Als Bahnfahrer kennt man die Durchsage: Unser Lokführer ist noch nicht da. Aber das betrifft natürlich genauso die Techniker und Mechaniker in den Werkstätten. Die Bahn findet nicht mehr genügend Leute, die für sie arbeiten wollen. Besonders dramatisch ist es in der Instandhaltung, wo viel nachts gearbeitet werden muss. Aber diese Arbeit ist unersetzlich, damit tagsüber der Betrieb läuft. 

Fehlende Investitionen, fehlendes Personal, fehlende Akzeptanz, was lähmt die Bahn noch?

Die Bahn wird permanent mit neuen und schärferen Regeln gelähmt. Es gibt die absurdesten Regeln, die den Bahnbetrieb behindern. Und es gibt Vorschriften, die es seit Jahrzehnten gibt, die früher vielleicht Sinn machten, heute überdacht werden müssten. Die Bahn hat beispielsweise ein Problem mit Suiziden auf offener Strecke. Das ist natürlich tragisch und schlimm. Doch anders als bei entsprechenden Fällen im Straßenverkehr gibt es für die Bahn die Sonderregelung, dass in jedem Fall nicht nur die Polizei, sondern ein Staatsanwalt vor Ort gewesen sein muss, bevor der Verkehr weiterlaufen darf. Dann gibt es eben oft eine Sperrung von drei oder vier Stunden, das führt dann, so schlimm das Ereignis auch ist, zu Durcheinander bei der Bahn. 

Wie kommt es zu diesen spezifischen bürokratischen Hürden bei der Bahn?

Die Bahn ist völlig überreguliert, das sind viele kleine Regelungen, die einzeln undramatisch erscheinen, aber in der Summe die Schiene gehörig ausbremsen. Ich gebe noch mal ein kleines Beispiel: Es gibt für die Instandhaltung von Oberleitungen sogenannte Gleisleitern. Das sind einfache Metallleitern. Sie werden von einem LKW aufs Gleis gebracht und sind sofort einsetzbar. Sie stehen auf Rädern, sodass man sie auf den Gleisen ein paar Meter vor und zurückschieben und dann arretieren kann. Man stellt die Oberleitung ab und kann dann arbeiten. Nun hat die Berufsgenossenschaft gesagt, das ist ja total unsicher, die Leiter könnte umfallen. Und so wurde der Einsatz von Gleisleitern verboten. 

Was ist die Folge?

Wenn es nun einen Schaden an der Oberleitung gibt, muss größeres Gerät her. Die Arbeiter müssen nun mit einem sogenannten Zweiwege-Fahrzeug, einem Unimog, über den nächsten „Eingleisepunkt“ an die Schadensstelle fahren. Bis er da ist, dauert es. Und bis er dann da ist, sitzen die ganzen Mechaniker rum und spielen Karten. Ich brauche ein zusätzliches Fahrzeug, ich brauche zusätzliche Lokführer. Die Sperrung der Strecke ist länger als vorher, und die Produktivität der Mitarbeiter sinkt. Wir haben hunderte solcher Dinge bei der Bahn, die passieren. Niemand in der Branche hat den Mut, all diese Regelungen zu hinterfragen und eine Verschlankung einzufordern. 

 

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Teilen Sie die Auffassung, dass es dieses Jahr nochmal schlimmer wird als bisher?

Nach meiner Einschätzung wird es die nächsten Jahre immer schlimmer. Eine Besserung ist nicht in Sicht, jedenfalls nicht mit dieser Politik und nicht mit diesem Management. 

Was müsste jetzt passieren?

Wahrscheinlich ist das einzige Mittel, dass man Züge streicht und das Angebot herunterfährt, so schmerzlich das ist. Das Netz ist zu voll, in den letzten Jahren wurden vor allem im Regionalverkehr durch die Länder zusätzliche Verkehre bestellt, auch der Fernverkehr hat sein Angebot ausgeweitet. Dies verdrängt zum einen den Güterverkehr, der seine Leistungen eher kurzfristig bestellt, zum anderen führt es zu der bereits beschriebenen Netzüberlastung.  

Was aber läuft grundsätzlich bei der Bahn schief, und was muss sich also ändern?

Das eine Problem ist die zuvor geschilderte Vernachlässigung der Infrastruktur. Darüber hinaus sehe ich Probleme in der Steuerung der Eisenbahn durch den Bund und im Management des DB-Konzerns.

Welche Strukturprobleme im Management sehen Sie?

Die Bahn gehört zu 100 Prozent dem Staat, ist aber als Aktiengesellschaft privatwirtschaftlich organisiert. Einerseits will die Politik, sogar Bundestagsfraktionen, mitreden, andererseits hat der Bund formal gar keine direkte Einflussmöglichkeit, sondern darf eigentlich nur über den Aufsichtsrat Einfluss nehmen oder durch Leistungsverträge zwischen Bund und Bahn. 

Was bedeutet das konkret?

Ganz konkret: Nehmen Sie die Pünktlichkeit im Fernverkehr. Im Fernverkehr besteht gar keine Vertragsbeziehung zwischen dem Bund und der Bahn. Lediglich im Grundgesetz steht drin, dass es Fernverkehr geben soll und dass der Bund ein Gesetz zur Ausgestaltung erlassen soll. Ein solches Gesetz gibt es nicht, deswegen kann sich der Verkehrsminister eigentlich nicht darüber beschweren, wenn der Fernverkehr nicht pünktlich fährt. Nach heutiger Rechtslage geht ihn das nichts an. Die von ihm benannten Vertreter könnten das im Aufsichtsrat thematisieren, aber zuständig ist der Vorstand. 

Wie funktioniert die Bahn im Regionalverkehr?

Im Regionalverkehr schließen die Länder einen Verkehrsvertrag mit einem Betreiber, etwa der DB AG, ab. In dem Vertrag steht dann drin: Wenn du nicht pünktlich fährst, wenn die Züge zu kurz sind oder nicht beheizt sind, dann zahlen wir weniger Geld. Einen solchen Vertrag gibt es für den Fernverkehr nicht. 

Also hat die Politik zu wenig Einfluss?

So einfach ist das auch nicht zu sagen. Vielleicht ist es der falsche Einfluss. Die Regierungsparteien haben sehr unterschiedliche Vorstellungen zur Verkehrspolitik und blockieren sich an vielen Stellen. Hinsichtlich der Steuerung der Bahn sind FDP und Grüne deutlich reformfreudiger als die SPD, in der die „Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft“ (EVG) einen großen Einfluss hat. 

Gibt es also im Unternehmen Bahn keine Einsicht, dass es Veränderungen braucht?

Doch, auch der Vorstand versichert, er sehe die Probleme und sei zu Reformen entschlossen. Zuletzt war wenig Reformeifer erkennbar. Strategisch hängt der Konzern bis heute an seinen Aktivitäten außerhalb des Bahnsektors. Viele davon sind nicht erfolgreich, bei Arriva gab es zuletzt Milliardenverluste, Schenker ist im Moment eine positive Ausnahme, aber das ist eine Sonderkonjunktur. Aus den Bahnsparten höre ich bittere Klagen über Bürokratie, doppelte Strukturen und überbordenden Overhead, der nur Folien hin- und herschiebt. Die Prozessverantwortlichkeiten für operative Funktionen seien unsinnig weit aufgegliedert. Bei der Bahn kursiert die Beschwerde des Vorstands Richard Lutz, es herrsche im Bahnmanagement eine große kollektive Betroffenheit und eine ebenso große individuelle Unbekümmertheit. Das ist wohl richtig, aber es ist der Vorstand, der für diese Strukturen die Verantwortung trägt. 

Was bedeutet „aufgegliederte Prozessverantwortung“?

Es wurden Arbeitsabläufe in so kleine Stückchen zerteilt, dass es nicht mehr einen gibt, der verantwortlich ist, sondern zehn Leute mit je unterschiedlichen Chefs, die in der Hauptverwaltung sitzen. Also nehmen wir ein Beispiel: Morgens muss ein ICE bereitgestellt werden, der soll um 10 Uhr am Bahnsteig stehen. Früher war das so, dass der Leiter des Betriebshofs verantwortlich war. Er verfügte über alle zugehörigen Ressourcen, und wenn der Zug nicht da war, war er verantwortlich und man konnte ihm die Ohren lang ziehen. Heute sind die Prozesse aufgegliedert. Einer ist für die Instandhaltung zuständig, ein anderer für die Ersatzteile, einer ist für die Bestückung des Caterings verantwortlich, ein anderer sorgt für die Personalbestellung. Das heißt, wenn der Zug nicht pünktlich dasteht, dann schreiben alle Beteiligten eine Mail und begründen, warum sie jeweils nicht verantwortlich sind. Die Beseitigung solcher Strukturen ist Kernaufgabe des Managements.  

Wie entstehen solche Strukturen?

Grundsätzlich sucht das Management nach Effizienzsteigerungen und nach Möglichkeiten, möglichst jedem Mitarbeiter ein klares Ziel vorzugeben. Das ist grundsätzlich vernünftig, aber es muss durchdacht werden, sonst führt es zu den zuvor skizzierten Problemen. Mir wurde dazu von einem Beispiel aus dem Ersatzteilwesen der DB AG berichtet. Früher gab es eine regionale Verantwortlichkeit für die Züge und die Ersatzteilvorhaltung. Dann fiel jemandem auf, dass es doch ineffizient sei, dass überall im Land Ersatzteile bestellt und gelagert werden. Also wurde es zentralisiert. Man hat im Hauptquartier einen Menschen geschaffen, der dafür verantwortlich ist, für alle Regionen die Ersatzteile zu bestellen und zu verwalten. Etwas später gab es ein Programm zur Senkung der Kapitalbindung und der Bestände. Es wurden Prämien ausgelobt. Der jetzt Verantwortliche hat einfach die Ersatzteilvorhaltung reduziert und die Prämie kassiert. Den Ärger hatten die Verantwortlichen vor Ort. Es waren keine Ersatzteile vorrätig, die Bestellung dauert vielleicht Monate, solange muss der defekte Zug abgestellt werden. Der Flottenverantwortliche vor Ort hat den Ärger, und der Kollege in der Zentrale bekommt einen Bonus.

War die Privatisierung der Bahn von 1994 ein Fehler?

Nein, ich persönlich glaube daran, dass die Privatisierung grundsätzlich richtig war. Und wir haben ja auch keine wirkliche Privatisierung, sondern einen Staatskonzern in privater Rechtsform. Aus meiner Sicht sollte der Staat klare Vorgaben formulieren, welche Ziele die Eisenbahn erfüllen soll, und er sollte sie entsprechend finanzieren. Für die Durchführung der meisten Arbeiten sind nach meiner Überzeugung privatwirtschaftliche Strukturen und Wettbewerb besser geeignet. Wichtig sind eine klare Zielstellung der Politik, eine klare Aufgabenteilung und saubere und transparente vertraglich ausgestaltete Vereinbarungen mit Privaten. 

Und was ist die Verantwortung der Politik?

Die Politik hat die Bahn in den letzten zwei Jahrzehnten sträflich vernachlässigt und gewähren lassen. Wir haben einige SPD-Verkehrsminister gehabt mit einem ausgeprägten Desinteresse an Verkehrsthemen. Und wir hatten CSU-Minister, die stark auf den Straßenbau fokussiert waren. Und die haben sich nicht wirklich um die Bahn gekümmert. Es gab nie eine aktive Entscheidung der Politik, dass die DB AG ein Logistikgeschäft im Ausland aufbauen sollte – man hat die DB AG einfach machen lassen. Das Ergebnis ist, dass die Bahn AG inzwischen die Hälfte ihres Umsatzes mit Geschäften macht, die nichts mit der Bahn zu tun haben – und meistens noch nicht mal besonders profitabel sind beziehungsweise große Verluste bringen. Die Sparte Arriva soll, nachdem Milliardenverluste angefallen sind, verkauft werden, aber die DB AG führt jetzt über eine andere Tochtergesellschaft ähnliche Geschäfte weiter. Die Venture Kapital Sparte der DB AG hat inzwischen 30 Beteiligungen erworben, über die der Konzern ungern redet. All das ist aber nicht die Folge der Privatisierung, sondern das ist das Versagen des Eigentümers und des von ihm eingesetzten Aufsichtsrats.

Was sind die größten Fehlleistungen des Bahn-Aufsichtsrates der letzten Jahre?

Der Aufsichtsrat hat jahrelang die Vorstellungen des DB-Managements durchgewunken – mit der zuvor erwähnten Internationalisierung wurde Geld und Aufmerksamkeit von der Eisenbahn in Deutschland abgezogen. Auch das ist ein Grund, warum es der Eisenbahn in Deutschland so schlecht geht 

Hier steht also ein Unternehmen, das zur öffentlichen Daseinsvorsorge verpflichtet ist, in einer schweren Krise. Wer ist schuld?

Natürlich ist es in einem komplexen System so, dass viele verantwortlich sind – Vorstände, Aufsichtsräte, Ministerialverwaltung und Minister. Im Nachhinein ist es kaum möglich, die Beiträge der Einzelnen zu identifizieren. Zuviel Rückblick hilft wohl nichts. Allerdings kann man natürlich fragen, ob diejenigen, die seit Jahren als Vorstände und Aufsichtsräte diese falschen Entscheidungen verantwortet haben, die Richtigen sind, um jetzt große Reformen umzusetzen.

Machen andere Länder es besser? 

Solche Vergleiche sind immer schwierig: Rahmenbedingungen, Finanzierung und öffentliche Erwartungen variieren zwischen den Ländern. Hinsichtlich der Struktur gibt es das Beispiel der Schweiz, in der die integrierte Staatsbahn gut funktioniert. Ich halte die Schweiz aber eher für eine Ausnahme. Andere integrierte Staatsbahnen haben große Probleme. In einigen Staaten haben Privatisierung und Wettbewerb gut funktioniert, beispielsweise in Schweden und auch in Großbritannien – auch wenn das medial manchmal anders dargestellt wird. Es gibt kein anderes Land, in dem der Marktanteil der Schiene in den letzten Jahrzehnten so gestiegen ist wie in Großbritannien. Zugleich ist aber unbestritten, dass auch dort bei der Privatisierung Einiges schiefgegangen ist. 

Die Ampel-Regierung hat sich ja die Förderung des Öffentlichen Personennahverkehrs vorgenommen. Wird das 49-Euro-Ticket die gewünschte sogenannte Verkehrswende bringen?

Die Einführung des 49-Euro-Tickets halte ich für eine komplette Fehlentscheidung. Es hat die Folge, dass die letzten Marktelemente, die es im ÖPNV noch gab, zerstört werden. Die Verkehrsbetriebe bekommen dann immer mehr Geld nicht mehr vom Fahrgast, sondern aus den öffentlichen Haushalten. Die Betriebe werden nicht mehr überlegen, wie man mehr Fahrgäste gewinnen, sondern mehr Lobbyisten beschäftigen kann, um mehr Geld vom Staat zu erhalten. Die finanzielle Abhängigkeit von der Politik garantiert deshalb keinen besseren Öffentlichen Verkehr.

Aber stellt die Politik nicht mehr Geld bereit?

Doch, aber es gibt leider parteiübergreifend einen Anreiz, öffentliche Gelder eher konsumptiv als investiv auszugeben. Für das 49 Euro Ticket stellen Bund und Länder am Anfang 4,7 Milliarden Euro jährlich zur Verfügung – das Geld wurde schnell beschlossen. Die Investitionen für Neu- und Ausbau der Eisenbahn betragen 2 Mrd. Euro jährlich, Staatssekretär Michael Theurer (FDP), der Beauftragte der Bundesregierung für die Bahn, lässt sich dafür feiern, dass die Mittel bis 2025 auf 2,5 Milliarden Euro ansteigen sollen. Konsumsubventionen wirken kurzfristig und erhöhen die Popularität von Politikern vor der nächsten Wahl. Investitionen werden oft erst in der nächsten Legislaturperiode fertiggestellt – da hat der heutige Entscheider nichts davon. 

Ist das 49-Euro-Ticket denn keine soziale Angelegenheit, die mehr Menschen den Umstieg ermöglicht? 

Das 49-Euro-Ticket wird als soziale Wohltat verkauft, doch auch das bezweifele ich. Für die Leute, die in den Städten wohnen, wird es eine relativ geringe Einsparung sein, denn heute kosten Monatskarten meist nur ein paar Euro mehr. Deutlich profitieren werden Pendler, die aus dem Umland längere Strecken fahren, oft Wohlhabende aus dem sogenannten Speckgürtel. Monatskarten aus Orten wie Potsdam, Starnberg, Königstein oder Bargteheide kosten im Bereich von 150 Euro, genau diese Fahrgäste profitieren am meisten. Die größten Profiteure sind also nicht die Bedürftigen. Beim 49-Euro-Ticket von einer sozialen Komponente zu reden, ist Unfug. Das 49-Euro-Ticket wird das Problem der Netzüberlastung weiter verschärfen, stattdessen sollte das Geld lieber in den Ausbau der Infrastruktur gesteckt werden

Aber wird das 49-Euro-Ticket nicht zum gewünschten verstärkten Umstieg der Menschen vom Auto auf die Bahn führen?

Genau diesen Effekt wird das Flatrate-Ticket nicht haben, vielleicht sogar das Gegenteil. Wir haben es im vergangenen Jahr gesehen: Das 9-Euro-Ticket hat nur einen marginalen Verlagerungseffekt gehabt. Stattdessen hat man neuen Verkehr produziert, den es vorher gar nicht gab. Tatsächlich hat man wahrscheinlich einige Kunden verloren, weil die Bahn durch überfüllte Züge für Pendler zu unverlässlich wurde. Ich kenne so Leute, die sind im letzten Sommer aufs Auto umgestiegen, weil sie nicht zuverlässig in den Zug einsteigen konnten.  

Wieso hat die Idee dann eine so hohe Popularität?

Es gibt eine Art Hype beim 9-Euro-Ticket, der dieser Freibier-für-alle-Mentalität folgt. Und dann wurde es auch medial immer positiver dargestellt, als es wirklich war. Die Leute bei der Bahn können andere Geschichten erzählen. Es gab Vandalismus von frustrierten Fahrgästen, die dann nicht mehr in den Zug reingekommen sind, Mitarbeiter wurden verbal oder gar physisch angegriffen. Behinderte kamen nicht mehr in die überfüllten Züge. Darüber ist sehr wenig geschrieben worden. Die tatsächliche Nutzung des Tickets war nicht so beeindruckend: Der überwiegende Teil war zusätzlicher Verkehr, ein paar Leute sind auch mal Bahn gefahren, um günstig einen Ausflug zu machen. Aber einen Verlagerungseffekt muss man mit der Lupe suchen. Mehr als die Hälfte der Deutschen hat trotz dieses Angebots den öffentlichen Verkehr nicht genutzt. Und dafür hat man mal eben so 2,5 Milliarden Euro rausgeworfen. Wenn man sich anguckt, wie knapp das Geld eigentlich ist, um wirklich die Eisenbahn zu verbessern, ist das aus meiner Sicht eine extrem schlechte Verwendung von Steuermitteln.

Brauchen wir ein Sondervermögen Bahn von 100 Milliarden Euro, ähnlich wie für die Bundeswehr? 

Da gibt es mehrere Aspekte. Zum einen halte ich es für richtig, mehr Geld für die Bahn beziehungsweise des gesamten ÖPNV bereitzustellen, damit der öffentliche Verkehr Marktanteile gewinnen kann. Die jährliche Haushaltsplanung erschwert Infrastrukturprojekte, die über Jahre geplant und stetig umgesetzt werden müssen. Denkbar wäre es auch, einen solchen Fonds aus den Erlösen des Schenker-Verkaufs zu speisen. Es gibt aber auch Gegenargumente: Das Budgetrecht ist das „Königsrecht des Parlaments“, ich denke, es sollte nicht ausgehöhlt werden. Zum anderen haben sich die Ressourcen für Planung und Bau dem Volumen der letzten Jahre angepasst – kurzfristig könnte man zusätzliche Mittel kaum sinnvoll ausgeben. Schließlich warne ich davor, zu glauben, man müsse nur einmal einen zusätzlichen Geldtopf schaffen und dann wäre alles gut. Aus meiner Sicht ist es mindestens genauso wichtig, die Überregulierung der Branche zu beseitigen, die Probleme bei der politischen Steuerung des Konzerns und die Managementprobleme der DB AG anzugehen. 

Und zum Abschluss: Was empfehlen Sie als Experte nun dem geneigten einfachen Bahnkunden? Was soll er tun? 

Man darf sich den Spaß am Bahnfahren nicht verderben lassen. Vor allem ist es wichtig, sich gut zu informieren und mehr Zeit einzuplanen. Wir müssen mit Sicherheit eine Weile lang mit den Schwierigkeiten leben, aber auch Autofahren auf überfüllten Straßen macht ja meist keinen Spaß. Ganz wichtig ist mir noch der Hinweis, dass man seinen Ärger bei Störungen und Verspätungen nicht an den Zugbegleitern auslässt. Die sind nicht schuld an der Misere, und es ist nicht fair, sie als Blitzableiter zu nutzen. 

Die Fragen stellte Volker Resing.

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