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() Erfinderduo Urban und Lärmer - Gewinner des Preises: „Europäische Erfinder des Jahres 2007“

Ätzend erfolgreich - Ätzend erfolgreich

Die Forscher Andrea Urban und Franz Lärmer haben vielen Autofahrern das Leben gerettet. Ein von ihnen entwickeltes Plasmaätzverfahren hat Sicherheitstechnik auch für Ottonormal-Autofahrer erschwinglich gemacht, die zuvor nur in Luxuslimousinen eingebaut werden konnten: Airbag, Antiblockiersysteme und das Schleuderschutzsystem ESP. Aber nicht nur die Automobil-Produktion haben sie revolutioniert.

Evelyn Runge

Autoreninfo

Evelyn Runge, Dr. phil., forscht an der Hebrew University of Jerusalem, Israel, zu den Produktionsbedingungen des digitalen Fotojournalismus. Als Journalistin veröffentlicht sie u.a. in Frankfurter Allgemeine SonntagszeitungDie Zeit/Zeit OnlineSüddeutsche ZeitungDer Spiegel/Spiegel Online. 

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Verhüllt im weißen Overall, mit Haarschutz und Überschuhen stehen Andrea Urban und Franz Lärmer im Reinraum von Bosch. Der Metallfußboden ist perforiert, ebenso die Tischplatten und die Decke, um Frischluft besser zirkulieren zu lassen. Hinter einem in die Wand eingelassenen Glas zieht ein Greifarm Siliziumscheiben aus einer Kassette wie eine Jukebox Schallplatten, dann ätzt eine Maschine tiefe, senkrechte Strukturen in das Silizium. Was unspektakulär aussieht, ist die Standardtechnologie in der Mikromechanik. Verantwortlich dafür sind Urban und Lärmer, die hier im Forschungsgebäude in der Konzernzentrale auf der Schillerhöhe bei Stuttgart ein Plasmaätzverfahren entwickelt haben, das heute weltweit nur noch als „Bosch-Prozess“ bezeichnet wird. Dadurch konnten mikromechanische Sensoren wesentlich preisgünstiger, präziser und kleiner hergestellt werden als deren vorige Generationen. Urban und Lärmer machten so Sicherheitstechniken auch für Ottonormal-Autofahrer erschwinglich, die zuvor nur in Luxuslimousinen eingebaut werden konnten: Airbag, Antiblockiersysteme und das Schleuderschutzsystem ESP. Für den endgültigen Durchbruch ihrer Erfindung sorgte der gescheiterte Elchtest der Mercedes-A-Klasse 1997. Nur der Einbau des ESP bewahrte den kleinen Wackel-Daimler vor einem frühzeitigen Aus. Urban und Lärmer hatten zufällig die richtige Technik zur richtigen Zeit entwickelt: „Die Produktionszahlen unseres Sensors haben sich damals quasi über Nacht verzehnfacht“, sagt Urban. Seit 1995 hat Bosch mehr als eine Milliarde MEMS (Micro Electro Mechanical Systems) produziert, pro Jahr derzeit über 220 Millionen. Längst werden die Sensoren nicht mehr nur für Sicherheitstechnik in Autos verwendet, sondern auch zur Bildstabilisierung in Digitalkameras, zur horizontalen und vertikalen Ausrichtung von Bildern auf dem Handy, in Navigationsgeräten und zum Herzschlagmonitoring über Smartphones. Stürzt ein Laptop von einem Tisch, identifiziert der Sensor den freien Fall und gibt das Signal, die Festplatte zu sichern. Droht ein Auto sich zu überschlagen, wird über die Sensoren berechnet, ob und wann der Airbag optimal eingesetzt wird. Das kann lebenswichtig sein, weil der Schutz des Airbags nur für ein bis zwei Sekunden reicht. „Viel Zeit“, kommentiert Lärmer, und daran merkt man, dass er und Urban in anderen Dimensionen denken als gewöhnliche Menschen. Täglich beschäftigen sie sich mit Strukturen und Zeiteinheiten, die zu klein sind, um sie mit menschlichen Sinnen wahrzunehmen. Die Strukturen eines mikromechanischen Sensors sind feiner als ein Haar. Er reagiert binnen Millisekunden – ein Wert, der Andrea Urban immer noch fasziniert. Sie und Lärmer beschreiben Strukturen als „sehr schöne Wände“ – so, als sprächen sie über Schluchten oder steile Bergwände. „Für die Vorstellung ist die Größe nicht wichtig“, sagt Urban, „man taucht ein in diese Welt.“ Bei einem Drehratensensor schwingen die Strukturen sogar. Er ist so empfindlich, dass er Auslenkungen über zwei Atomlagen erkennt. Das Basispatent ihrer Entwicklung reichten Urban und Lärmer Ende 1994 ein. Sie ahnten, dass ihre Erfindung bahnbrechend war. Doch „durch eine Erfindung ist noch kein Produkt definiert – man braucht Gespür für das Machbare“, sagt Lärmer. Um Innovationen müsse man immer kämpfen, „es ist ein langer, mühsamer Weg“. Bosch beschäftigt 30000 Forscher, nur ein Bruchteil ihrer Ideen bringt es zur Marktreife, und nur ganz wenige sind so erfolgreich wie die von Urban und Lärmer. Zwar sind die mehr als 100 Patente von Urban und Lärmer über das Unternehmen angemeldet, doch auch für die beiden zahlt sich ihre Idee aus: Über das Arbeitnehmererfindergesetz sind sie an Umsatz und Lizenzierungen beteiligt. Lärmer hat sich schon im Physikstudium an der TU München vorgenommen, dass „man seine Forschungsergebnisse später auch zu etwas Vernünftigem gebrauchen kann“. Bereits als Kind bastelte er mit Platinen aus alten Schalterschränken, die sein Vater als Mitarbeiter des Technischen Dienstes der Bundespost zum Kilopreis erwarb. Seine Stelle bei Bosch trat er 1990 an; zwei Jahre später stieg Andrea Urban ein, direkt nach ihrem Studium der Oberflächen- und Werkstofftechnik an der Fachhochschule Aalen. Erstaunt sind Andrea Urban und Franz Lärmer über die Langlebigkeit ihrer Erfindung. Eigentlich liegen die Lebenszyklen von Halbleiterprodukten bei fünf Jahren. Ihre Sensoren jedoch werden seit über 15 Jahren produziert. In der Mikromechanik ist Bosch Weltmarktführer. Die Herstellung der Sensoren hat der Autozulieferer und Elektrokonzern bewusst nicht ins Ausland verlegt: In Reutlingen produzieren mehr als 2000 Mitarbeiter an 363 Tagen im Jahr rund um die Uhr die Sensoren – Arbeitsplätze, die durch Urbans und Lärmers Erfindung geschaffen wurden. Insgesamt erwirtschafteten 2009 die 271000 Mitarbeiter – davon 112000 in Deutschland – einen Umsatz von 38 Milliarden Euro. Bei Kollegen sind Franz Lärmer und Andrea Urban für zündende Ideen gefürchtet. Sie selbst beschreiben sich als „pragmatisch und provisorisch“. Anfangs fixierten sie die Siliziumscheiben mit Kinderknete auf dem Mikroskop. Als Plasmazünder nutzten sie die Zündspule von Lärmers altem VW. Als Lärmer mit der Spule einem Kollegen im Flur begegnete, dachte dieser, er transportiere eine Granate. Der Kommentar des Kollegen: „Bei Ihnen kann man nie wissen.“

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