- „Da wird ein Feind konstruiert“
Die Sarrazin-Debatte lodert weiter, aber mit sachlichen Argumenten wird sie nur selten geführt. Der Integrationsforscher Stefan Luft erklärt, warum Sprachprogramme nichts bringen und warum Türken sich mit der Anpassung so schwertun.
Herr Luft, mehr oder weniger zeitgleich mit Thilo
Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ erschien Ihr Sammelband
„Integration von Zuwanderern“. Sarrazin hat bisher mehr als eine
Million Exemplare verkauft, Sie selbst wahrscheinlich keine tausend
– obwohl Sie und die anderen Autoren sich mit dem Thema seit Jahren
befassen und Sarrazin eher ein interessierter Laie ist. Hat Sie der
Erfolg von „Deutschland schafft sich ab“ erstaunt?
Thilo Sarrazins Buch ist ein Medienphänomen, das sicherlich eigener
Analysen bedarf. Sarrazin hat natürlich durch frühere provokative
Interviews schon im Vorfeld für öffentliche Aufregung gesorgt und
seinem Verkaufserfolg dadurch den Boden bereitet. Aber dass die
Medien – von der Bild-Zeitung über den Spiegel bis hin zur FAZ –
derart darauf einsteigen, fand ich dann doch außerordentlich
erstaunlich. Sicherlich haben auch seine sozialdarwinistischen
Thesen dafür gesorgt, dass der mediale Erregungspegel steigt.
Außerdem hat Sarrazin mit seinem Buch durchaus die Befindlichkeit
der deutschen Mittelschicht getroffen, die sich in Zeiten der
Globalisierung bedroht fühlt und eine Projektionsfläche für ihre
Ängste sucht.
Trotz alledem – liegt es nicht vielleicht auch an der
Wissenschaft, dass sie kein Gehör findet? Müssten Sie und Ihre
Kollegen von den Universitäten pointierter formulieren, um
Interesse zu wecken?
Es ist in der Tat so, dass in den Sozialwissenschaften in den
vergangenen Jahren und Jahrzehnten ein klarer Mainstream
beherrschend war, der sich an multikulturalistischen Vorstellungen
orientierte und viele Probleme besonders in den Städten ignoriert
oder zumindest relativiert hat. Zudem war bei offensichtlichen
Problemen die „Schuldfrage“ immer schon geklärt: Das Aufnahmeland
hat die Zuwanderer nicht genügend unterstützt.
Die Bundeskanzlerin hat unlängst selbst gesagt,
„Multikulti“ sei gescheitert. Stimmt das überhaupt? Und was soll
das eigentlich sein: „Multikulti“?
Wenn jemand wie Angela Merkel aus offenbar tagespolitischen
Erwägungen heraus von „Multikulti“ spricht, habe ich große Zweifel
daran, ob sie sich mit dem Konzept des Multikulturalismus aus den
achtziger Jahren auseinandergesetzt hat. Ihr war ja offenbar vor
allem daran gelegen, sich von linken Positionen zu distanzieren und
den Eindruck zu vermeiden, sie sei eine integrationspolitische
Träumerin. Tatsächlich ging es ursprünglich im Multikulti-Konzept
um eine starke Betonung gruppenbezogener Identitäten – was im
Extrem wie in den Niederlanden zu einer „Versäulung“ der
Gesellschaft führte, zum Beispiel mit Schulen für bestimmte
ethnisch-religiöse Gruppen. Dieses Konzept, das die unverzichtbaren
Anpassungsleistungen ignorierte, ist in der Tat gescheitert, weil
sich dadurch die Konzentration ethnisch-sozialer Gruppen verschärft
hat.
Sie haben Sarrazins Buch sicherlich gelesen. Was halten
Sie als Integrationsforscher von seinen Thesen?
Kaum etwas von dem, was er schreibt, ist originell oder neu; selbst
die Stilisierung des Islam zum inneren Feind der Deutschen ist
eigentlich ein alter Hut. Das Skandalträchtige liegt wie gesagt in
der Kombination aus Sozialdarwinismus, Eugenik und Neoliberalismus.
Bemerkenswert fand ich, dass Sarrazin Integrationsprozesse nicht
versteht und sich offenbar auch keine Mühe gibt, das zu tun. Zum
Beispiel blendet er den äußerst wichtigen Aspekt aus, welche Rolle
die Größe einer Zuwanderergruppe für die Integration derselben in
die aufnehmende Gesellschaft spielt. Auch die Frage der Identität
spielt bei Sarrazin überhaupt keine Rolle, obwohl es äußerst
wichtig ist zu wissen, womit sich beispielsweise ein eingebürgerter
Zuwanderer mit türkischen Wurzeln identifiziert: Fühlt er sich als
Deutscher? Als Deutschtürke? Oder immer noch als Türke? Für so
etwas gibt es in den Sozialwissenschaften den Begriff der „hybriden
Identitäten“, die sich im Lauf der Zeit ändern. Das versteht
Sarrazin nicht, und davon will er auch nichts wissen.
Horst Seehofer hat sich trotzdem von Sarrazin
inspirieren lassen und verlangt einen Zuwanderungsstopp für Türken
und Araber. Reine Wahltaktik? Oder sind diese Gruppen tatsächlich
besonders schwer zu integrieren?
In erster Linie war das natürlich auch bei Seehofer eine
parteipolitische Positionierung. In den Vereinigten Staaten zum
Beispiel gehören Zuwanderergruppen aus diesen Ländern ja sogar eher
zur Elite als zur Unterschicht. In Deutschland ist es im
Wesentlichen umgekehrt – was schlicht daran liegt, dass seit den
fünfziger Jahren durch die Anwerbung ungelernter Arbeitskräfte für
„niedere Tätigkeiten“ vor allem bildungsferne Schichten aus dem
Osten der Türkei zu uns kamen. Diese Wanderungsbewegung hat sich
durch den Familiennachzug seit den siebziger Jahren sogar noch
intensiviert. Dass in Deutschland die Türken von allen
Zuwanderergruppen am schlechtesten integriert sind, ist zwar
richtig. Nur hat das nichts damit zu tun, dass es sich um Türken
oder um Muslime handelt. Sondern damit, dass es größtenteils sozial
schwache, bildungsferne Migranten sind. Mit türkischen Akademikern
aus Ankara oder Istanbul haben wir deshalb auch keinerlei
Integrationsprobleme.
Sie glauben nicht, dass der islamische Glaube ein
Integrationshemmnis darstellt?
Man muss davon ausgehen, dass der Großteil der in Deutschland
lebenden Muslime einen schlichten Volksislam lebt, der sie nicht an
der Integration in den Arbeitsmarkt oder am Bildungserwerb hindert.
Diese „Islamisierung der Probleme“, die im Moment die Debatte
beherrscht, ist deshalb völlig kontraproduktiv. Die Menschen fühlen
sich dadurch ausgegrenzt – und ziehen sich am Ende womöglich
tatsächlich in ihren muslimischen Glauben zurück. Wenn wir in
Deutschland immer wieder behaupten, der Islam sei eine
nichtreformierbare Integrationsbarriere, erweisen wir uns damit
selbst einen Bärendienst. Das führt nämlich im Ergebnis dazu, dass
die betroffenen Migranten sich gerade nicht mit unserem Land
identifizieren – und eine Integration ausbleibt. Aus meiner Sicht
ist der Islam selbst kein Integrationshemmnis.
Migranten aus der Türkei und aus arabischen Ländern
fallen durch eine hohe Kriminalitätsrate und durch hohe
Arbeitslosigkeit auf. Sind denn wirklich nur soziale Probleme die
Ursache dafür?
Nein, hier spielen in der Tat noch andere Aspekte eine Rolle. Zum
Beispiel das Problem innerfamiliärer Gewalt, das in den erwähnten
Gruppen besonders groß ist. Ich will auch gar nicht bestreiten,
dass es in der muslimischen Kultur etwas gibt, das wir als
„gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen“ bezeichnen. Aber das ist
nicht irreversibel, es wäre ja falsch zu sagen: „Die können gar
nicht anders.“ Man muss sich vielmehr mit solchen Verhaltensweisen
offensiv auseinandersetzen, auch in den Schulen.
Nun sind sich wahrscheinlich fast alle darin einig, dass
die Integration von Ein- oder Zuwanderern eine gute Sache ist. Aber
wie kann man den Grad der Integration überhaupt
messen?
Wenn man dieses Ziel auf Gruppen bezieht, kann man messen,
inwiefern sich die Durchschnittswerte der Gruppen dem Durchschnitt
der einheimischen Bevölkerung angleichen – beispielsweise in Sachen
Erwerbstätigkeit oder was die Verteilung von Migrantenkindern auf
die unterschiedlichen Schulformen angeht. Nennen wir es einfach
„vergleichbare Ungleichheit“.
Welche Zuwanderergruppen sind nach diesem Maßstab in
Deutschland besonders gut integriert?
Da wären beispielsweise die Polen mit ihren vergleichsweise hohen
Qualifikationen, ebenso die aufstiegsorientierten Vietnamesen. Aber
das liegt nicht unbedingt an der Nationalität oder an der
jeweiligen Kultur. Sondern daran, dass etwa Polen und Vietnamesen
in Deutschland keine so großen Gruppen bilden, die es ihnen
erlauben würden, ganze Stadtviertel zu dominieren, in denen sie
sich unter ihresgleichen einrichten können.
Nun gibt es auch Bundesländer, in denen offenbar weit
weniger Probleme mit der Integration existieren als in anderen.
Innenminister Thomas de Maizière hat unlängst Berlin als besonders
abschreckendes Beispiel genannt, das mit seinen Problemen
keineswegs typisch sei für ganz Deutschland. Was läuft schief in
der Hauptstadt?
Man muss das alles immer vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen
Entwicklung und der Sozialstruktur einer Stadt oder einer Region
sehen. Ein Stadtstaat ist eben anders aufgestellt als ein
Flächenstaat, deswegen können sinnvollerweise nur Großstädte
miteinander verglichen werden – und da sind sich Berlin und
beispielsweise Städte in Nordrhein-Westfalen mit ihren aus der
Zuwanderung resultierenden Problemen durchaus ähnlich. Generell
lässt sich feststellen: Wo die wirtschaftlichen Probleme am größten
sind, dort sind auch die Integrationsprobleme am größten, weil die
Zuwanderer mit ihren oft niedrigen Qualifikationen ein besonders
hohes Risiko tragen, arbeitslos zu werden. Und geregelte Arbeit ist
eben der größte Integrationsbeschleuniger.
Deutschland ist eines der Länder weltweit, das am
meisten Geld für Sprachprogramme aufwendet, um Zuwanderer zu
integrieren. Zahlt sich das überhaupt aus?
Das ist sehr umstritten. Es gab jedenfalls wissenschaftlich sehr
ernst zu nehmende Studien in Baden-Württemberg, bei denen sich
zeigte, dass Kinder, die Sprachförderung erhalten hatten, sich in
ihrer Sprachkompetenz nur unwesentlich von Kindern unterschieden,
die nicht gefördert worden waren. Für den Spracherwerb ist es
vielmehr ganz entscheidend, dass Kinder schon frühzeitig die
Gelegenheit haben, im Alltag eine Sprache zu lernen. Nur so
entsteht Motivation; abstrakte Sprachförderung allein bietet
letztlich wenig Hilfe. Wenn Kinder dagegen in ihren Familien, im
Freundeskreis oder auf dem Pausenhof eine andere Sprache sprechen
als Deutsch, wird es problematisch. Darin liegt auch die Krux der
ethnischen Konzentration in bestimmten Stadtvierteln. Das ist in
der öffentlichen Debatte immer noch nicht ausreichend deutlich
geworden.
Umso gravierender dürfte es sein, dass Sie in Ihrem Buch
eine zunehmende „Entmischung“ der Wohnbevölkerung konstatieren. Das
heißt, jede Volksgruppe hat zunehmend ihr eigenes Quartier. Woran
liegt das?
Daran, dass sich Großstädte von ihrer Sozialstruktur her immer mehr
polarisieren. Es gibt eine Verfestigung in Richtung reiche und arme
Stadtteile, deren jeweilige Einwohner sich im Alltag so gut wie nie
begegnen. Der Wohnungsmarkt filtert Zuwanderer dann in der Regel in
die armen Quartiere hinein, wodurch der Segregationsprozess noch
beschleunigt wird: Wer es sich irgendwie leisten kann, wer
aufstiegsorientiert ist, zieht von dort weg – egal ob mit oder ohne
Migrationshintergrund. Auch deshalb, weil der Unterschied zwischen
„guten“ Schulen mit geringem Ausländeranteil und „schlechten“
Schulen mit vielen Migrantenkindern immer größer wird. Familien,
die ihre Kinder auf eine „gute“ Schule schicken wollen, meiden
Schulen mit hohen Migrantenanteilen. Das viel beklagte
Auseinanderdriften der Gesellschaft hat also ganz massive
Auswirkungen auf die Integration. Das ist eine verheerende
Spirale.
Im Moment wird darüber diskutiert, einen klaren
Anforderungskatalog für Arbeitnehmer aus dem Ausland zu definieren,
um den Fachkräftemangel zu beheben. Damit würde Deutschland von
einem Zuwanderungs- zu einem Einwanderungsland werden. Halten Sie
klare Anforderungskriterien für Einwanderer für
ratsam?
Im bestehenden Zuwanderungsgesetz gibt es ja schon Kriterien dieser
Art, beispielsweise was das Einkommen angeht. Aber das ist meines
Erachtens ein Nebenschauplatz. In erster Linie muss es doch darauf
ankommen, den bereits hier lebenden Zuwanderern eine Eintrittskarte
in unsere Gesellschaft zu geben.
Anstatt eine kontrollierte Einwanderungspolitik zu
betreiben, hat Deutschland jedenfalls jahrzehntelang den
Familiennachzug gestattet, der insbesondere von Türken in Anspruch
genommen wurde. Dadurch wurde doch erst ermöglicht, dass sich hier
eine besonders große ethnische Gruppe niederließ – mit der Folge,
dass für sie der Anpassungsdruck gering blieb.
Es gab schon in den siebziger Jahren eine politische
Auseinandersetzung darüber, ob man den Familiennachzug so
weiterlaufen lassen sollte, wie das damals geschah. Das
Bundesverfassungsgericht hat diese Entwicklung aber letztlich
bestätigt. In der Tat wurden die Integrationsprobleme dadurch
verschärft. Man hat damals die Dynamik der sogenannten
Kettenmigration – einer geht voran, die anderen kommen später nach
– schlicht und ergreifend unterschätzt.
Von Angela Merkel war zu Anfang der Sarrazin-Debatte zu
hören, sie habe das Buch nicht gelesen, aber es sei auf jeden Fall
„nicht hilfreich“. War es das tatsächlich nicht? Immerhin wird
derzeit so viel über Zuwanderung und Integration geredet wie nie
zuvor.
Das stimmt schon, aber in der Politik wird ja spätestens seit der
Ermordung des niederländischen Regisseurs Theo van Gogh durch einen
Islamisten oder seit den türkischen „Ehrenmorden“ in Deutschland
sehr offen über die Schwierigkeiten mit der Zuwanderung diskutiert.
Das Problem besteht darin, dass Sarrazins Buch geeignet ist, die
Ressentiments der einheimischen Bevölkerung gegenüber Migranten zu
schüren, nach dem Motto: Die wollen sich ja gar nicht integrieren,
die sind zu dumm oder zu faul. Es mag sein, dass der öffentliche
Druck auf die Politik dazu führt, dass Gelder für die eine oder
andere Integrationsmaßnahme nun doch nicht gestrichen werden.
Entscheidend ist aber: Es werden ein biologischer Determinismus
hoffähig gemacht, der der Verachtung für Schwache und
Hilfebedürftige Vorschub leistet, und ein innerer Feind
konstruiert, in dem die Angst vor der eigenen Glaubens- und
Fortpflanzungsschwäche ihre Projektionsfläche findet.
Das Gespräch führte Alexander Marguier
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