Zukunft des Theaters - „Sterbende“ gegen „Letzte Generation“

Theater in der Krise: Wie lange braucht eine Gesellschaft, die das Leben selbst zum Spektakel macht, die Bühne noch als Ort, an dem die Zukunft verhandelt wird?

Zimmer ohne Aussicht: „Die tote Stadt“ an der Bayerischen Staatsoper / Wilfried Hösl
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Axel Brüggemann ist Musikjournalist und lebt in Bremen. Zuletzt erschien der von ihm herausgegebene Band „Wie Krach zur Musik wird“ (Beltz&Gelberg-Verlag)

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Wie es um die deutschen Theater steht? Nun, die Situation ist ziemlich unübersichtlich. Man hört von Notrufen, von Publikumsschwund und Sinnkrisen. Doch alle Wortmeldungen sind bislang weitgehend subjektiv, konkrete Zahlen fehlen. Einige finden leere Häuser vor, andere sitzen in Aufführungen, die bis zum letzten Platz gefüllt sind.

Schwankungen sind selbst an einzelnen Häusern zu beobachten. So läuft der Kartenverkauf an der traditionsreichen Semperoper in Dresden tagelang sehr schleppend, aber dann könnte man einen Wagner-„Ring“ mit dem Dirigenten Christian Thielemann mindestens vier Mal am Abend verkaufen. Ähnlich ambivalent ist die Situation in der Hauptstadt: Für Mozarts „Don Giovanni“ oder Verdis „Simon Boccanegra“ waren an der Deutschen Oper in Berlin am Tag der Aufführung jeweils weniger als die Hälfte aller Karten verkauft, die Nachfrage bei den Berliner Philharmonikern ist dagegen fast wieder auf Vor-Corona-Niveau

Die Beziehung zum Publikum zählt

Das Bild unserer Theaterlandschaft ist diffus. Tendenziell verkaufen sich eventisierte Veranstaltungen und große Namen besser als die alltägliche Kulturroutine. Die Tendenzen ähneln jenen im Pop. Die Leute geben problemlos Hunderte Euro für die Rolling Stones aus, während kleinere Bands ihre Tourneen aufgrund mangelnder Nachfrage absagen müssen. Tickets werden spontaner verkauft, das alte Abo- und Volksbühnen-Konzept ist ein Auslaufmodell. 

Die oft formulierte Beobachtung, dass Menschen in Krisenzeiten von Theatern eher Unterhaltung als Auseinandersetzung erwarten, lässt sich an Einzelbeispielen widerlegen. Ein Haus wie das Residenztheater in München ist selbst bei einem Sieben-Stunden-Theatermarathon wie „Das Vermächtnis“ von Matthew Lopez rappelvoll, während der Intendant der Bayerischen Staatsoper, Serge Dorny, gleich nebenan die Krise ausruft: „Unsere Tickets verkaufen sich nicht mehr von vorn (den teuren Plätzen) nach hinten, sondern von hinten nach vorn.“ Dorny steht vor der ungewohnten Situation, dass gerade die teureren Karten oft gar kein Publikum mehr finden. Für den Opernmanager aus Belgien ein Weckruf, um „grundsätzlich über Ticketpreise in unserem Kulturbetrieb nachzudenken“. Die Idee, dass staatliche Unterstützung kulturelle Teilhabe für jeden garantieren soll, sei eine geniale Grundkonstante der deutschen Theateridee, die aber schon lange nicht mehr erfüllt werde. „Darüber müssen wir reden“, fordert Dorny.

„Das Vermächtnis“ von Matthew Lopez am Residenztheater München / Sandra Then

Einige Häuser versuchen sich mit Eigeninitiative und Kreativität gegen das Long-Covid-Publikumsphänomen zu stemmen. Während Intendanten wie der Chef des Theaters Bremen, Michael Börgerding, Abonnenten, die sein Konzept nicht verstehen, mit dramaturgischer Oberlehrerhaftigkeit begegnet, hat die Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz trotz Pandemie sogar Besucher hinzugewonnen. Das Ensemble war während der Lockdowns sozial aktiv, das Orchester blieb sichtbar in der Stadtgesellschaft. Im ersten Konzert nach der Krise haben alle Musiker handschriftliche Karten verfasst und unterschrieben – auf jedem Platz der Satz: „Schön, dass Sie wieder da sind“. Eine kleine Geste mit großem Effekt. Nähe und Publikumsbindung scheinen Zauberworte in der Krise zu sein. 

Nicht überall ist Frankfurt

Das Theater in Hagen hat auf den Zuschauerschwund mit einem Neun-Euro-Ticket reagiert, eine monatliche Flatrate für die Bühne. Inzwischen hat die Erfinderin dieser Idee, Marketing-Leiterin Mareike Hujo, eine positive Bilanz gezogen. „Wir haben durch unsere Aktion ein vollkommen neues Publikum gewonnen“, sagt sie, „nun geht es darum, wie wir es regelmäßig ans Haus binden können.“ 

Aber es gibt da draußen natürlich auch noch die alten Haudegen wie Frankfurts erfolgreichen Opernintendanten Bernd Loebe, der an seinem Haus in 21 Jahren so ziemlich alles miterlebt hat und den Ball nun gern flach halten will. „Nichts von dem ist eingetreten, was vollmundig als Opernkrise ausgerufen wurde. Ätsch!“, polemisiert Loebe in der FAZ und holt zum Rundumschlag gegen die Mahner aus, denen die Corona-­Krise nur recht gekommen sei. „Der Gang durchs Foyer, vor der Vorstellung wie in der Pause, ist immer wieder die neue Bestätigung dafür, wie die Oper im Jetzt noch immer ankommt“, sagt Loebe, „wie alle Generationen wie selbstverständlich das Haus zu ihrem machen, wie Jugendliche ausströmen und sogar über drei Stunden und länger ihre Handys vergessen. Vergessen, während der Vorstellung SMS zu schicken, zu posten oder wie auch immer. Wo gibt es das sonst?“

 

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Bernd Loebe ist ein erfolgreicher Theatermanager, aber nicht überall herrschen paradiesische Zustände wie in Frankfurt. Die Augen davor zu schließen, dass die Krise in vielen Häusern nicht nur angekommen, sondern tief in die Strukturen der weltweit einmaligen Stadttheaterlandschaft der Bundesrepublik Deutschland durchgesickert ist, wäre fahrlässig. Ein „Augen zu und durch“ würde die nötige Grundsatzfrage verhindern, ob und wie wir die kostspielige Kunst des Theaters in Zukunft finanzieren wollen und vor allen Dingen, wozu sich ein Staat seine Theater überhaupt leisten will.

Von Staates Tropf abhängig

Nur wenn wir eine öffentliche Debatte über Sinn und Unsinn unserer Bühnen führen, einen breit angelegten Dialog, können wir sie guten Gewissens weiterbetreiben. Denn auch das gehört zur Wahrheit: Bezahlt werden die Häuser lediglich zum kleinen Teil von den Menschen, die sie besuchen, der Großteil ihrer Finanzierung kommt aus Steuergeldern von jenen, die noch nie in einem Theater waren. Je nach Region wird ein Theaterticket in Deutschland mit zwischen 100 und 250 Euro bezuschusst. Am Anfang muss also die Erkenntnis stehen, dass der Kampf um die Theater in Deutschland weniger in den Theatern gewonnen wird als draußen, wo Kultur bislang noch stillschweigend mitgetragen wird.

Selbst Häuser wie die Frankfurter Oper von Bernd Loebe bekommen derzeit zu spüren, dass es der Kultur an den Kragen geht, wenn die städtischen Kassen klamm sind. Die kulturelle Grundversorgung ist vielerorts keine Selbstverständlichkeit mehr. Ein Haushaltsentwurf sah jährliche Kürzungen von rund sieben Millionen Euro an den Städtischen Bühnen in Frankfurt von 2023 bis 2025 vor. Inzwischen gibt es einen Plan, den durch Corona und Energiekosten entstandenen Mehrbedarf auszugleichen, um den Häusern Planungssicherheit zu geben. 

In München sind radikale Finanzstriche Realität: 2020 hatte die Landeshauptstadt ihren Zuschuss von 4,9 Millionen Euro um die Hälfte gekürzt, 2021 hat sie ihn ganz abgeschafft. Und auch in den Gemeinden und Kommunen stehen die Zeichen auf Einsparungen. Viele Theater in Deutschland balancieren in den nächsten Jahren wahrscheinlich weiter auf der Existenzgrenze. Bauchschmerzen bereiten den Geschäftsführern die beschlossenen Tariferhöhungen, die nicht durch steigende Zuschüsse ausgeglichen werden. Außerdem steht am Horizont eine juristische Entscheidung über die Erfassungen von Arbeitszeiten an Theatern. Müssen in Zukunft auch Vorbereitungsstunden zu Hause bezahlt werden? Zu befürchten ist eine juristische Neuinterpretation der künstlerischen Arbeit, die jede Theaterkalkulation über den Haufen werfen würde. Ganz zu schweigen vom derzeitigen Publikumseinbruch. 

Keiner will in der Kultur arbeiten

Die Transformation des Kulturbetriebs ist kaum aufzuhalten, denn größer als das Problem des Publikumsmangels ist das Problem des Fachkräftemangels. Egal, wohin man schaut: Theater und Orchester scheinen derzeit kaum noch Nachwuchs zu finden. Beleuchter, Schreiner, Disponenten oder Mitarbeiter im Marketing und Management – die Kultur ist ein unattraktiver Arbeitsplatz geworden. Nicht nur, weil Kulturschaffende schlecht bezahlt werden und die Arbeitszeiten unattraktiv sind. Sondern auch, weil viele kulturelle Institutionen noch immer auf eine veraltete Personalführung setzen. 

Der Geschäftsführer der Berliner Rundfunk-Orchester und -Chöre gGmbH, Anselm Rose, spricht auch hier von einem „Long-Covid-Effekt“. Viele Mitarbeiter, gerade in der Administration von Kulturbetrieben, seien nach dem ewigen Absagen, Neuplanen und Verschieben von Projekten ausgebrannt. „Es ist fast unmöglich geworden, Mitarbeiter für das künstlerische Betriebsbüro oder das Marketing zu finden“, sagt Rose, „die gehen lieber in die Tourismusbranche oder in die freie Wirtschaft, wo sie klar strukturierte und sichere Arbeitszeitmodelle haben.“

Derzeit versucht er in seinen Stellenausschreibungen potenzielle Bewerber bereits mit einem Lastenfahrrad zu locken. Die Zeit sei vorbei, erklärt der Orchesterchef, dass man aufgrund der eigenen Begeisterung einen Beruf in der Kultur ergreift, um sich fortan selber auszubeuten. Roses Fazit: „Wenn wir es nicht schaffen, eine neue Unternehmenskultur in unseren Kulturbetrieben zu etablieren, werden wir es schwer haben, die nächsten Jahre zu überleben.“

Ein Sumpf von Despoten

Ausgerechnet jene Institutionen, die einen Debattenraum für unser Miteinander und für den Diskurs über humanistische Grundzüge organisieren sollen und dafür mit staatlichen Millionen gefördert werden, stagnieren in anachronistischen Arbeitsmodellen, die sich kein Dax-Unternehmen mehr leisten könnte: hierarchische Strukturen, in denen Intendanten oft gottgleiche Alleinherrscher sind, ein zuweilen menschenverachtender Umgangston, der durch keine geniale Regie-Idee legitimiert werden kann, ein strukturelles Scheitern von Machtstrukturen. Egal, ob #MeToo oder andere Übergriffe – Orchester und Theater scheinen ein Dorado für Despoten, Möchtegernmachos und andere Unmenschen zu sein. 

„Es wäre eine Chance für die Bühnenlandschaft, auch in Sachen Unternehmenskultur zum Vordenker zu werden“, sagt der ehemalige Geschäftsführer des Deutschen Bühnenvereins, Marc Grandmontagne, „aber leider ist dieses Konzept nur selten zu sehen.“ Statt die Kultur auch als Raum der unternehmerischen Kreativität zu begreifen, herrschen in der Theaterlandschaft eine antiquierte Unternehmensführung und ein fast schon absurdes Einkommensgefälle.

Während ein Starsopran oder ein Superdirigent bis zu 30.000 Euro Abendgage (wohlgemerkt auch hier durch Steuern mitfinanziert) abgreift, muss eine Soubrette an einem deutschen Opernhaus mit gut 2000 Euro Monatsgehalt auskommen. Es stellt sich die Frage, wie unsere Theater attraktiv für das Publikum sein wollen, wenn sie es schon nicht schaffen, ihr eigenes Personal zu begeistern. 

Die Orientierungslosigkeit einer Branche

Derzeit haben wir es mit einer der größten finanziellen und strukturellen Krisen des deutschen Stadttheatersystems zu tun, und ein Großteil des Feuilletons ruft den Theaterleuten bereits zu: „Ihr habt doch selber schuld!“ Der Spiegel titelte: „Viele Theaterchefs stehen plötzlich schlotternd wie nackt im Hemd da“, die Süddeutsche Zeitung fordert den Theaterbetrieb auf, seine Lebenslügen endlich zu hinterfragen, und der Tagesspiegel konstatiert, dass viele Häuser die Nähe zum Publikum verloren hätten und das selbstgefällige Dramaturgietheater niemanden mehr erreichen würde.

Die Literatin Thea Dorn argumentiert, dass die Häuser sich mit postmoderner Regie, postdramatischer Inszenierung und postmigrantischer Programmatik selbst ins Abseits katapultiert hätten und ihr einziges Heil darin läge, wieder Pathos zu wagen, den Mut zum Erzählen aufzubringen. Theater müssten durch Begeisterung begeistern, sagt Dorn, eine Tugend, die sie zu lange vernachlässigt hätten.

In Wahrheit ist die Bühnensprache das kleinste Problem der deutschen Theater, denn von München bis Kiel und von Dresden bis Köln ist so ziemlich jede Ästhetik vertreten: vom boulevardesken Schwank über bestes Unterhaltungs- und Ausstattungstheater, von nostalgischem Blut-Schweiß-und-Sperma-Regietheater bis zu digitalen Experimenten und innovativen gesellschaftskritischen Auseinandersetzungen. Trotzdem subsumiert sich gerade in der ästhetischen Debatte die aktuelle Orientierungslosigkeit der Theaterlandschaft. Lustvoll und laut werden Stellvertreterdebatten über die Frage geführt, wie wir einen Klassiker heute auf die Bühne bringen sollen.

Warum bleibt das Publikum aus?

Besonders laut sind die Stimmen der Beharrungskräfte, die sich wünschen, dass in einer Welt, in der alles infrage steht, wenigstens das deutsche Theater bleiben soll, wie es immer war: ein Bollwerk bildungsbürgerlicher Gemütlichkeit. Prominente Protagonisten, die das Ausstattungstheater vertreten, werden immer lauter. Der scheidende Chefdirigent der Wiener Staatsoper, Philippe Jordan, hatte dem „Regietheater“ in einem Interview die Schuld daran gegeben, dass das Publikum ausbleibe.

Die Frage, warum Jordan genau dieses Theater als Chef des Hauses mitgetragen hat, beantwortete er nicht. Und auch der Tenor Jonas Kaufmann erklärte gegenüber der Times in London, dass der Besucherschwund an den Opernhäusern eine Konsequenz der letzten 30 Jahre sei, in denen das Publikum neue Regiekonzepte ertragen musste und kaum jemand sich um Menschen gekümmert hätte, die sich in der Oper einfach nur zurücklehnen und den Alltag vergessen wollten. 

Bayreuther Festspiele: Lohengrin, Elsa und die berühmten Ratten / dpa

Jonas Kaufmann macht mit kitschigen Winter-Wonder-Schnee-Weihnachtsplatten vor, wie mit „klassischer Volksmusik“ Geld zu verdienen ist. Was er vielleicht vergisst, ist, dass seine Karriere und sein Durchbruch auf den Fundamenten des deutschen Stadttheaters gründen, die bis heute versuchen, die Oper in die Gegenwart der Menschen zu stellen. Jonas Kaufmann feierte ausgerechnet in Hans Neuenfels zunächst ausgebuhtem, aber genialem Ratten-„Lohengrin“ bei den Bayreuther Festspielen Erfolge oder kürzlich in Simon Stones sehr moderner „Toten Stadt“ von Korngold in München.

Was lösen Theater heute schon noch aus?

Die Debatte um das Regietheater mag ideologisch interessant sein, entscheidend für den Fortbestand unserer Bühnen ist sie wohl kaum. Denn an deutschen Theatern regiert nach wie vor die Vielfalt der Erzählformen. Ja, inzwischen muss man zuweilen fragen, ob die Haudegen von gestern nicht in Wahrheit die neuen Reaktionäre sind. Claus Peymann, Frank Castorf oder Peter Konwitschny pflegen die Provokation oft nur noch als Ritual für ein bürgerliches Publikum, das auch deshalb ins Theater geht, weil es sich hier herrlich echauffieren kann. Früher war man, wie Peymann sagte, „Reißzahn im Arsch der Mächtigen“.

Heute ist die Aufregung oft zum Selbstzweck verkommen. Eine aktuelle Calixto-Bieito-Inszenierung kommt zuweilen altbackener daher als die Wiener Museums-„Aida“ aus den 1980er-Jahren, in der noch Luciano Pavarotti gesungen hat und die heute durch Elina Garanca, Jonas Kaufmann und Anna Netrebko als museale Mumie wiederbelebt werden sollte. 

Das wahrscheinlich tiefer liegende Problem ist, dass die Debatten des Theaters nur noch selten über die Rolle des Theaters hinausweisen. Schillers Theater als „moralische Anstalt“ bezog sich auf alle Gesellschaftsfelder, und dem Theater der 1960er-Jahre, dem Theater von Kurt Hübner, Peter Zadek, dem jungen Claus Peymann oder Rainer Werner Fassbinder ist es wohl als Letztes gelungen, eine ganze Stadt, zuweilen sogar ein ganzes Land zu polarisieren.

Zwischen den Generationen

Diese Kraft haben unsere Theater heute weitgehend eingebüßt. Zum Teil, weil unser Leben, sowohl privat als auch in der Politik, selber zur Inszenierung geworden ist. Die Gesellschaft des Spektakels scheint das Spektakel der Bühne gerade nicht zu gebrauchen. Es ordnet seine Wirklichkeit lieber in sozialen Netzwerken oder in Talkshows. Bei genauer Betrachtung haben wir es derzeit mit zwei weitgehend unvereinbaren Gruppen zu tun. Zum einen mit der „Sterbenden Generation“, jenen (meist älteren) Menschen, die noch immer verlässlich ins Theater gehen, weil sie hier die Bestätigung des bürgerlichen Konsenses erwarten. Eine Generation, von der die Häuser sich finanziell abhängig wähnen und auf deren Geschmack viele Intendanten sich einlassen. Mit dieser Generation mag man noch die Gegenwart überleben, aber gewiss nicht die Zukunft gewinnen. 

Der „Sterbenden Generation“ steht die „Letzte Generation“ gegenüber, für die Theater kein entscheidender Raum der öffentlichen Debatte mehr zu sein scheinen. Die „Letzte Generation“ klebt sich an das Dirigentenpult der Elbphilharmonie fest (ohne zu wissen, dass es sich leicht abnehmen lässt) oder wirft Suppe auf klassische Gemälde. Kultur ist für diese Generation in erster Linie ein Ausstattungsmittel ihrer eigenen politischen Inszenierungen, die hauptsächlich auf der Straße stattfinden. Theater und Bildende Kunst werden hier zu Symbolen dessen, was der „Sterbenden Generation“ wichtig ist – und was bedeutungslos wird, wenn die Welt untergeht. Kultur ist für die „Letzte Generation“ ein perfektes Faust­pfand, eine Requisite des Protests. Eine spannende Frage, wie Luisa Neubauer oder Greta Thunberg ein Theater heute bespielen würden, wenn sie eine Carte blanche hätten? Wäre es eine Alternative zu ihren öffentlichen Inszenierungsräumen, den Autobahnen und Kohle-Abrissgebieten? Gilt das Theater für sie noch als Ort, an dem wir gemeinsam unsere Zukunft verhandeln? Oder ist das Theater für sie tatsächlich überflüssig geworden? 

Seit der griechischen Antike hat das Theater viele Wandlungen durchgemacht. Derzeit taumelt es durch eine Zeit des Umbruchs. Viele Häuser stehen unter doppeltem Zugzwang. Zum einen muss sich der strukturelle Apparat ändern, das Theater als Arbeitsplatz muss zeitgemäßer werden, sich vielleicht sogar zum Pionier der Unternehmenskultur entwickeln. Und das Theater muss seine Rolle innerhalb der Gesellschaft neu vermessen, seine Zahnräder wieder mit jenen der Wirklichkeit verbinden. Es muss jene Formen suchen, in denen es wieder als Ort der Debatte verstanden wird, als Kunstraum, an dem wir ohne Risiko unsere Wirklichkeit verhandeln können – gemeinsam im Streit.

 

Dieser Text stammt aus der März-Ausgabe des Cicero, die Sie demnächst am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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