„Zeitenwende“ ist das Wort des Jahres - Über einen Elefanten, der eigentlich eine Mücke ist

Soviel Sinn für Ironie hätte man der Gesellschaft für deutsche Sprache gar nicht zugetraut: „Zeitenwende“ ist das Wort des Jahres 2022. Dabei entlarvt allein diese Wahl die Vorstellung der Zeitenwende als Fiktion. Die „Zeitenwende“ wird keine Zeitenwende einläuten, sondern sich als eines der vielen Modeworte eines Jahres erweisen, die morgen wieder vergessenen sein werden.

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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Was haben die Worte „Wutbürger“, „Abwrackprämie“ und „Respektrente“ gemeinsam? Die aufmerksamen Mediennutzer unter den Lesern werden es wissen: Diese Ausdrücke waren einmal „Wort des Jahres“. Genauso wie die „Nulllösung“, das „Glykol“ oder die „Gesundheitsreform“. Lang ist’s her.

Worte des Jahres sind vergänglich. Das zeigt ein Blick in die Liste dieser seit 1971 von der Gesellschaft für deutsche Sprache ausgelobten Begriffe. Das Wort des Jahres 1977 hieß etwa „Szene“ (gemeint war die Unterstützerszene der RAF) und dasjenige 1978 „konspirative Wohnung“. Man muss über 50 sein, um noch wissen, was damit gemeint war. Nichts ist so alt wie das Wort des Jahres von gestern. Das hängt mit der Sprache zusammen. Denn Begriffe bezeichnen nicht nur Dinge oder Abstrakta. Ihre eigentliche Bedeutung liegt in ihrer Konnotation, also in dem, was die Sprecher oder Hörer jeweils mit einem Wort verbinden. Und das macht aus einem einst heiß diskutierten Begriff („Multimedia“ 1985) schnell eine Banalität.

„Zeitwende“ wird sich als Modewort entlarven

Es wird sicher einmal reizvoll sein, Menschen des Jahres 2052 das gestern bekannt gegebene Wort des Jahres 2022 vorzulegen und sie zu fragen, was wohl damals mit der „Zeitenwende“ gemeint gewesen sein könnte. Jede Wette: Die wenigsten unter ihnen werden etwas damit anfangen können. Zeitenwende? 2022? Die „Zeitenwende“ wird sich genauso als kurzlebiges Modewort entlarven wie all die anderen Worte des Jahres in den letzten vierzig Jahren auch. Und einen anderen Anspruch hat die Wahl ja auch gar nicht. 

Anders als bei seinen Vorgängern liegt die Pointe des diesjährigen Worts des Jahres allerdings darin, dass es Epochencharakter beschwören will. Das diesjährige Wort des Jahres will eben nicht Wort des Jahres sein, sondern hat den Anbruch eine neue Zeit zu markieren. Insofern ist die Wahl der Gesellschaft für deutsche Sprache nicht ohne Ironie: Sie unterminiert durch ihre Auswahl seinen Anspruch im Handumdrehen.

Krieg in der Ukraine hat naive Vorstellungen erzeugt

Um Olaf Scholz' Rede von der Zeitenwende und das teilweise euphorische Echo in den Medien als Humbug zu entlarven, brauchte es allerdings nicht die Gesellschaft für deutsche Sprache. Denn Zeitenwenden sind in der Geschichte eher seltene Ereignisse. In den letzten 500 Jahren waren das allenfalls: die Reformation, die Französische Revolution und der Beginn des Ersten Weltkrieges. Schon über die Frage, ob der Zweite Weltkrieg oder etwa der Fall der Mauer 1989 Zeitenwenden markieren oder doch eher eine Kontinuität, deren singulärer Auslöser eben die Katastrophe von 1914 war, lässt sich trefflich diskutieren. Um das zu entscheiden, braucht es ohnehin noch zeitlichen Abstand.

 

Mehr aus der „Grauzone“:

 

Der Krieg in der Ukraine hat viele naive Vorstellungen erschüttert und noch mehr naive Vorstellungen erzeugt. Das Zeug zur Zeitenwende hat er mitnichten. Allenfalls werden spätere Historiker in ihm einmal als eines der vielen Symptome des Zerfalls der nach den beiden Weltkrieg geschaffenen temporären Ordnung des europäisch-vorderasiatischen Raumes sehen, ähnlich den Kriegen in Nahost, im Kaukasus oder auf dem Balkan.

Scholz rhetorische Flucht ins Epochale

Nein, am 27. Februar dieses Jahres sprach weder ein Historiker noch ein Geschichtsphilosoph, sondern ein Bundeskanzler, dessen nicht unerheblicher Berg an Problemen durch den Krieg in der Ukraine flugs noch erheblich höher wurde. Wie die Gesellschaft auf die gewaltigen sicherheitspolitischen, ökonomischen und sozialen Herausforderungen reagieren würde, die ihr bevorstanden, war zu diesem Zeitpunkt nicht absehbar – und ist es im Grunde bis heute nicht. In einer solchen Situation greift der Profipolitiker routiniert in die rhetorische Trickkiste und hebt die anstehenden Probleme in eine historische Dimension. Das rechtfertigt das eigene Zögern ebenso wie die drastischen fiskalischen Maßnahmen und entrückt die eigenen Entscheidungen der schnöden Tagespolitik.

Scholz rhetorische Flucht ins Epochale war schon Ende Februar leicht zu durchschauen. Das macht die Sache allerdings nicht tröstlicher. Viel wahrscheinlicher ist, dass der Ukrainekrieg sich einst als Teil eines gewaltigen Transformationsprozesses erweisen wird, der die Moderne endgültig beendet und tatsächlich ein neues Epochenkapitel aufschlägt. Zeitenwende? So einfach wird es nicht sein.

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