100. Geburtstag von NS-Opfer Walter Gröger - Als sich die Vergangenheit an Ministerpräsident Filbinger rächte

Vor 100 Jahren wurde Walter Gröger am 27. Juni 1922 in Mohrau geboren. Knapp 23 Jahre später wurde er von dem späteren baden-württembergischen Ministerpräsidenten und früheren Marinerichter der Nationalsozialisten, Hans Karl Filbinger, zum Tode verurteilt und am 16. März 1945 hingerichtet. Filbinger sträubte sich lange, dafür in Verantwortung genommen zu werden. „Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein“, – so seine berüchtigten Worte, die ihn 1978 letztendlich sein Amt kosteten.

Protest gegen den baden-württembergischen Ministerpräsidenten und einstigen NS-Marinerichter Hans Karl Filbinger im Juni 1978 / dpa (Archivfoto)
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Autoreninfo

Jacqueline Roussety ist Schriftstellerin und Journalistin. 2016 erschien ihr Doku-Roman „Wenn das der Führer sähe….“ über Walter Gröger, 2020 ihr jüngster kriminalistischer Roman „Märchenrot“.

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Am 1. September 1939 begann um 4.45 Uhr mit dem Beschuss der vor Danzig gelegenen Halbinsel vom deutschen Schiff „Schleswig-Holstein“ aus der Zweite Weltkrieg. Er endete mit mehr als 60 Millionen Todesopfern. Einer von diesen 60 Millionen war Walter Gröger, ein junger Mensch, der eine Vergangenheit hatte, aber keine Zukunft bekam. Ihm gegenüber stand Hans Karl Filbinger, der 93 Jahre alt werden durfte. 

Die Lebensläufe von Walter Gröger und Filbinger konnten nicht unterschiedlicher sein. Ihrer beider Begegnung im März 1945 zog für den einen eine „politische Affäre“ nach sich, für den anderen bedeutete sie den frühen, aus heutiger Sicht ungerechten Tod. Diese am Ende diametral gegenläufigen Vitae stehen exemplarisch für ein System, das sich in der Zeit von 1933 bis 1945 hinter menschenunwürdigen Paragraphen eines Terror-Staates jahrelang behaupten konnte und das bis tief in die Geschichte der Bundesrepublik seine gesellschaftlichen Schatten wirft.

Zweite Chance für einen NS-Verbrecher 

Der  CDU-Politiker Hans Karl Filbinger gilt als Repräsentant derjenigen Karriere-Juristen, die auch noch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ihre im NS-Staat praktizierte Terrorjustiz rechtfertigen oder beschönigten, ohne jemals dafür zur Rechenschaft gezogen worden zu sein. Im Gegenteil: Sie bekamen post bellum eine zweite Chance, als Pfeiler und Wortführer dem demokratischen Deutschland an den höchsten Stellen zu dienen, und galten als die Stützen der neuen Gesellschaft.

Im Februar 1978 veröffentlicht der Dramatiker Rolf Hochhuth in der Wochenzeitung Die Zeit einen Vorabdruck aus seiner Novelle „Eine Liebe in Deutschland“, die während des Zweiten Weltkrieges spielt. Gleichzeitig beschreibt der Dramatiker die Schwierigkeiten beim Recherchieren und berichtet über die Vergangenheit Filbingers, auf die er beim Durchforsten alter Dokumente aus dem Krieg gestoßen ist. Hochhuths Stück endet mit einem Absatz, in dem er Filbinger als „furchtbaren Juristen“ bezeichnet. Weiter heißt es: „…er ist auf freiem Fuß nur dank des Schweigens derer, die ihn kannten.“ Es kommt zum öffentlichen Eklat und zu einem monatelangen Rechtsstreit, der Filbingers politische Karriere in relativ kurzer Zeit beendet. 

Eines von tausenden Opfern 

Im Rahmen weiterer Recherchen Hochhuths taucht ein neuer Name auf: Walter Gröger. Plötzlich erlangt Gröger tragische Berühmtheit: Sein Bild taucht in den Nachrichten auf. Beide Männer, Gröger und Filbinger, repräsentieren dreißig Jahre nach Kriegsende jeweils die andere Seite der ehemaligen Nazidiktatur, stehen in binärem Kontrast zueinander, wie es aus menschlicher Sicht erschütternder nicht sein kann.

Walter Gröger steht stellvertretend für insgesamt 30.000 wegen Desertion verurteilte Wehrmachtsoldaten (davon wurden etwa 20.000 Urteile vollstreckt), verhängt von deutschen Richtern gegen junge Männer, die sich sicherlich in verzweifelter Lage gegen diesen aussichtslosen Krieg entschieden haben. „Deserteure verdienen nichts anderes“, lautete Hitlers Vorgabe. 

Heute werden insgesamt 150.000 Strafakten und Urteilsabschriften der ehemaligen Wehrmachtsgerichtsbarkeit im Freiburger Bundesarchiv-Militärarchiv aufbewahrt. Insbesondere bei der Marine wurden Todesurteile ohne Mitwirkung eines Verteidigers gefällt, da die Nichtbeachtung der Verteidigerpflicht nicht dazu führte, dass ein Urteil rechtswidrig wurde. Auch die zu den Verfahren zugelassenen Anwälte hatten oft nicht die Möglichkeit, alle Rechtsmittel einzusetzen, um ein Urteil wieder aufzuheben oder ein Gnadengesuch zu erwirken.

 

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Ein Dorf unterwirft sich der Nazi-Herrschaft

Walter Gröger wird am 27. Juni 1922 in Mohrau, einem streng katholischen Dorf in Oberschlesien, geboren. Er wächst in einer behüteten Umgebung auf, bleibt der einzige Junge neben drei Schwestern. Mit dem Machtwechsel 1933 zieht auch in Mohrau allmählich die nationalsozialistische Gesinnung ein, und das Dorf wird von immer mehr Braunhemden geprägt.

Walters Mutter Anna, die sich gegen den von ihr so bezeichneten „braunen Sumpf“ auflehnt und dies auch nach außen trägt, kann schließlich sich und vor allem ihre Kinder dem totalitären System nicht mehr entziehen. Um ihre Familie in dieser engen Dorfgemeinschaft zu schützen, sieht sie sich gezwungen zu schweigen. Der Bürgermeister von Mohrau fungiert gleichzeitig als Ortsbauernführer, läuft mitunter sogar auf dem Feld in der braunen Uniform herum. Die Frauen gruppieren sich zur „Frauenschaft“.

Eines Tages steht Alfred Gröger, der Vater und Ehemann, mitten in der guten Stube, gekleidet in der braunen Uniform. Walter und seine Schwestern erleben daraufhin den schlimmsten Ehekrach, den sie bisher anhören mussten. Anna verbrennt die Uniform im Hof – ein Vergehen, das sie ins KZ bringen kann. Sie versucht alles, um ihre Familie wachzurütteln, ihr immer wieder die Augen zu öffnen.

Auf die Kriegseuphorie folgt das Trauma 

Walter ist wie so viele andere junge Männer nicht nur vom Boxsport und seinem Idol Max Schmeling berauscht, sondern auch vom aufkommenden Kriegsgefühl. Als auch Walter 1940 beschließt, sich freiwillig zum Militärdienst zu melden, weiß die Mutter, dass sie mit ihrer ablehnenden Haltung in der Familie allein bleiben wird. Sie rät ihrem einzigen Sohn zur Marine, die als relativ sicher gilt, im Gegensatz zum Heer einen guten Ruf genießt und weit weg von der Front zu sein scheint, an der tagtäglich gestorben wird. Fast zeitgleich wird Walters Vater an die Ostfront geschickt.

Walter Gröger zieht freiwillig in den Krieg. Es hat ihn gepackt. Doch nach der Euphorie folgt die Ernüchterung. Die Familie erlebt einen traumatisierten jungen Mann, der über die miserablen Zustände bei der Marine berichtet. Wie Sklaven werden die Matrosen schikaniert, und insbesondere Walter wird permanent bestraft, weil er sich zur Wehr setzt, „über den Zapfen haute“, Urlaubszeiten überschreitet, Wachen nicht antritt, unerlaubt die Kaserne verlässt. Nachts wacht er schweißgebadet auf. Aus einem anfänglichen Jugendtraum ist ein Albtraum geworden. Ende Oktober 1943 wird Walter Gröger zum Kommando des großen deutschen Kriegsschiffs „Scharnhorst“ nach Sopnis bei Narvik versetzt.

Trügerische Todesnachricht

1943 erleben die Mutter und die Schwestern wieder ein Weihnachten ohne Vater und Bruder. Am 26. Dezember meldet der Reichssender, dass die „Scharnhorst“, der große deutsche Traum, nach einem Gefecht im Eismeer versunken ist. Von den 1.600 Besatzungsmitgliedern werden nur 32 Mann geborgen. In Mohrau hofft die Familie, dass ihr einziger Sohn und Bruder unter ihnen ist. Doch sie erhält eine amtliche Todesnachricht mit Bild. Im Februar 1944, als die Mutter sich ihrem Schicksal ergeben hat, trifft überraschenderweise ein Brief von Walter aus einem Wehrmachtsgefängnis ein.

Gröger war mit dem Schiff nach Oslo gereist und hatte erfahren, dass sein Transport nach Nordnorwegen zur „Scharnhorst“ erst in etwa zehn Tagen gehen sollte. Kurz vor Ablauf dieser Frist hatte Gröger eine junge Norwegerin kennengelernt, die ihn mit nach Hause nahm und vier Wochen lang versteckt hielt. Gröger wurde wegen Fahnenflucht gesucht. Irgendwann in diesen Tagen überlegte Gröger, nach Schweden zu fliehen, setzte den Plan aber nicht um. Am 6. Dezember 1943 nahm ihn die „Geheime Feldpolizei“ fest. 

Ein erstes Urteil, das Gröger acht Jahre Haft eingebracht hätte, wird aufgehoben. Am 16. Januar 1945 wird erneut gegen Gröger verhandelt. Anklagevertreter ist der Marinestabsrichter Hans Karl Filbinger, der die Todesstrafe für den jungen Soldaten fordert. Am 16. März wird das Urteil vollstreckt. Anwesend bei der Hinrichtung ist auch Filbinger. Die Eltern erhalten keine Todesnachricht.

Erneute Schmerzen für die Familie 

Mit der Enthüllung der Vergangenheit Hans Filbingers gerät 1978 das Schicksal Walter Grögers und seiner Familie an die Öffentlichkeit, die Familie ist unmittelbar vom Politskandal betroffen. 

Ein ungeahnter Medienrummel bricht über die Familie Gröger herein. Einige wollen nicht an die Öffentlichkeit, scheuen die Journalisten und die Befragungen. Natürlich geht es der interessierten Öffentlichkeit nie wirklich um die Familie Gröger und ihren Schmerz, sondern nur um den Täter, den Politiker und seine in Gefahr geratene Macht.

Die Familie muss auch lernen, mit Hohn und Spott umzugehen, da die Unterstützer Filbingers behaupten, dass Walter Gröger ein Krimineller gewesen sei und die Todesstrafe verdient habe. Diese Aussage trifft Tausende von Familien in Deutschland, die alle noch einmal spüren müssen, wie ihre hingerichteten Söhne, Brüder und Väter als Deserteure und Verräter abgestempelt werden, obwohl sie sich nur gegen den damaligen Terrorstaat aufgelehnt haben. Und das mehr als dreißig Jahre nach Kriegsende.

„Ich habe ein gutes Gewissen“

Filbinger ist einer von ungefähr 3.000 Juristen, die vormals als Richter, Ankläger oder Rechtsberater in der Wehrmacht Dienst getan haben. Keiner dieser Richter wurde nach dem Krieg wegen eines Terrorurteils bestraft. Filbinger ist derjenige, der es nach Kriegsende am weitesten gebracht hat. Die Familie Gröger hingegen muss nach Kriegsende aus ihrem Dorf fliehen, die Familie wird zwischen Ost und West geteilt.

Filbinger betont immer wieder: „Ich habe kein einziges Todesurteil selbst gefällt.“ Jahrelang kämpft er für seine politische Rehabilitierung: „Ich habe kein schlechtes Gewissen. Im Gegenteil. Ich habe ein gutes Gewissen.“ Weder Filbinger noch seine Familie haben sich bei Angehörigen von Walter Gröger entschuldigt. Noch am Grab huldigte Filbingers Nachfolger im Amt, Günther Oettinger, ihm als Nazigegner. Zwar musste er sich dafür entschuldigen, trat aber nicht zurück.

Am 8. September 2009, 64 Jahre nach Ende der NS-Schreckensherrschaft, werden die Opfer (Deserteure, Verweigerer und andere angeblich „Kriegsverräter“) wenigstens juristisch rehabilitiert. Der Bundestag beschließt die pauschale Aufhebung von Urteilen aufgrund des Straftatbestands „Kriegsverrat“. Der Beschluss, ursprünglich eine Initiative der Fraktion der Linken, fällt einstimmig.

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