Stressfaktor Moral - Wir müssen das Wendefieber senken

Coronapandemie, Klimawandel, Weltwirtschaft: Wenn wir nicht auf die Loser-Straße geraten wollen, dürfen wir die eigene Erfolgsgeschichte nicht in ein Trümmerfeld verwandeln.

Der jugendliche Verdacht der Smartphone-Virtuosen, dass Lesen und Schreiben tatsächlich außer Kurs geraten, konnte bisher von der unterbelichteten Bildungspolitik nicht entkräftet werden / dpa
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Autoreninfo

Gertrud Höhler ist Publizistin, Glücksforscherin und Beraterin für Wirtschaft und Politik. Sie studierte Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte.

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Homo ludens spielt nicht mehr. Wird er nun Homo creator? Schöpferähnlich? Homo Deus? Probiert hat er länger schon, als Homo digitalis voller Selbstvertrauen. Aber diesmal wird es ernster. Weil er mehr kann, mehr weiß, und weil er erlebt, was er gern vergessen wollte: etwas fast Archaisches auf der Wohlstandsseite des Globus, Krieg, Klimawandel, auch politisch. Als eine Pandemie, die Kriegserklärung der Natur an uns. Ein Weltkrieg der Viren. Homo ludens reagierte panisch. Er warf sein Spielzeug weg. Zu Tode erschrocken, legte er seine lärmenden Märkte still: Lockdown – von heute aus betrachtet, ein Probelauf für Klimawandler?

Strategisch sind wir kalt erwischt. Was uns schon in der Pandemie fehlte, wollten wir in Ruhe lernen: Risikokompetenz. Nicht die Unheilsvermutung zum Leitmotiv für Verlustaktionen machen, die jene globale Loser-Position verstärken, die wir überwinden müssen. Wenn wir managen wollen, was uns überfordert, müssen wir der Versuchung widerstehen, die mit dem Schlagwort „Zeitenwende“ in eine Welt der kalten Konfrontationen zurücklockt, die wir mit dem Kalten Krieg verlassen hatten.

Die Herolde des Guten

Wir werden unser Menschenbild, das wir auf keinen Fall opfern wollen, nicht retten, wenn wir auf dem Fluchtweg aus komplexen neuen Erfahrungen in Richtung eines Weltmodells weiterlaufen, das eine Heimkehr zur zweipoligen Welt verspricht. Dass wir in diesem Schema von Gut und Böse gleich einen furiosen Aufbruch hingelegt haben, könnte unser Verliererpotenzial vergrößern, wenn wir nicht rechtzeitig, also jetzt, und schnellstens die Rangordnung unserer Stärken neu justieren. 

Wenn wir uns weiter mit Privilegien ausstatten, immun gegen das Böse und seine Profiteure in Unrechtsstaaten, dann genügt eine globale Debattenhoheit nicht, um uns auf die Siegerstraße zu bringen. Es genügt eben nicht, der Welt jeden Tag mitzuteilen: Wir sind die Leute mit den Menschenrechten. Wir sind die Herolde des Guten. Was uns beunruhigt, ist der wirtschaftliche Aufstieg und der erwachte Imperialismus von Staaten und Regionen, die unser Menschenbild nicht teilen.

Auf der Loser-Straße 

Panisch organisieren wir nun Clean-Business-Konzepte, die uns von den überwachungskapitalistischen Aufsteigern und den Rückwärtsblätterern im Geschichtsbuch, wie Putin, unabhängig machen sollen. Die Frage holt uns immer wieder ein: Was hat uns stark gemacht? War es die Verspätung der jetzt aufstiegshungrigen Systeme? Oder, Argument der Herolde im Lager der Weltretter, waren es die Handelspartnerschaften mit Diktatoren, die in unserem neuen Selbstkonzept gecancelt werden müssen? Welche Stärken haben uns immun genug gemacht, um mit Staaten zu kooperieren, deren Machtkonzept dem demokratischen widerspricht?
 

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Wenn wir nicht auf die Loser-Straße geraten wollen, müssen wir uns beeilen, denn schon bevorzugen uns die globalen Vaganten aus Unrechtsstaaten nicht wegen der Werte, die wir leben, sondern wegen finanzieller Vorteile. International definiert man Deutschland als erfolgreiche Ökonomie, nicht als anspruchsvolle Leistungskultur, auch nicht als Alphatier im Wertehimmel. Zuwanderer folgen der Botschaft, dass Deutschland als Sozialstaat attraktiv ist: Der deutsche Rechtsstaat zeigt sich nachgiebig und flexibel, auch gegenüber ideologisch festgelegten (und festgeklebten) Klimarettern. Die Großzügigkeit wieder einzufangen, könnte schwierig werden.

Die Allmacht der Herrschenden

Eine schleichende Selbstentmachtung von Rechts- und Sozialstaat wird dem Label „Zeitenwende“ zugeordnet. Und Homo ludens spielt wieder. Es sind ernste Spiele, Strafspiele für Bürger, denen die Fragen im Halse stecken bleiben, zum Beispiel die: Können wir der allmächtigen Natur denn tatsächlich einen Temperaturstopp vorschreiben? Aufzwingen? Abhandeln? 

Homo ludens zeigt seine digitale Kompetenz vor und verweist auf die ebenfalls todernst gestimmten Spielgefährten: Mentoren im Range von Propheten. Homo ludens spielt wieder. Als Homo creator schickt er seine Kinder auf die Straße, sie spielen für ihn. Kopfschüttelnd schaut er ihnen zu: Verzockt er sich?

Dass die Überwachungskapitalisten in China das Lied vom Klimatod zumindest finanziell nicht orchestrieren wollen, erscheint dem Homo creator als feindseliger Akt. Unser Problem vor dem Wechsel auf unsere Siegerstraße ist offenkundig die öffentliche Unlust, sich das „westliche Menschenbild“ als Welterfolg der Zukunft vorzustellen. Sicherheit und Freiheit buchstabiert China auch. Aber dort geht es um etwas anderes. Sicherheit bedeutet Verdatung der Staatsbürger und Freiheit die Allmacht der Herrschenden. „Würde“, unantastbar, also unverfügbar, fällt aus.

Verluste im Stärkenprofil

Als Rechtsstaat wird dieses überwachungskapitalistische Konzept nicht funktionieren. Als soziale Marktwirtschaft auch nicht. Was die westliche Allianz umtreibt, ist die Frage: Sind perfekt gemanagte Diktaturen faktisch erfolgreicher? Läuft dort Wohlstandsmanagement im Frühstadium? Wird die Freischaltung der Entfaltungsrechte sich zwangsläufig anschließen, wenn die Bürger sie erzwingen oder die globale Allianz freier Staaten die Freischaltung zur Bedingung für die Handelsbeziehungen der Zukunft erklärt? 

Die Verluste im Stärkenprofil zum Beispiel Deutschlands machen deutlich, dass der Aufwärtsdrang der asiatischen Hemisphäre zeitlich zusammenfällt mit einer fatalen Mischung im westlichen Lager aus juvenilem Politikversagen, das im Habitus der Selbstverletzung Bestrafung der Feinde als Vorwurf formuliert, zeitgleich mit der coolen Weigerung der intellektuellen Elite von morgen, Adressat der hypermoralischen Wendediskurse ihrer Eltern und Lehrer zu sein.

Der kämpferische Anspruch der Zeitenwender 

Die Leistungslust der Kinder ist erloschen, seit sie wahrnehmen, dass die Schule von der Politik ebenso aufgegeben wurde wie die Bundeswehr. Die Jungen ahnen auch, dass Polizei und Gerichte überfordert sind. Karrierechancen, so die Jugenderfahrung von heute, sind eher jenseits der Institutionen als mit ihnen zu entdecken – wenn die Entdeckerlust nicht schwächelt.

Unsere Stärken, auch im Umgang mit der Sowjetunion und noch unter Putin, unsere Stärken auch im Umgang mit China und den aufsteigenden Autokratenstaaten der Welt waren nicht nur von Know-how und Erfolgsinteresse geprägt, sondern es waren Gewissheiten, die jedes Sicherheitsbedürfnis übertreffen. 

Eine Art „Heilsgewissheit“ begleitete die Manager der transatlantischen Allianz der Nachkriegs-Demokratien: Es war die Gewissheit, auf der richtigen Seite zu stehen, diktaturimmun. Der kämpferische Anspruch der Zeitenwender von heute hat dagegen Züge eines moralischen Imperialismus. Die Idee, einen humanitären Vorteil im Gepäck zu haben, der einen ethischen Vorsprung ausmacht, schädigt jedes gute Geschäft. 

Suizid-Business mit Coronaschaden 

Die westlichen Demokratien gründen ein Lager der Wertebesetzer in einer gespaltenen Geschäftswelt. Der Rausch der Spaltung speist Feindbilder im Weltbusiness – wo man was bisher suchte? Geschäftserfolg, Verträge, die Profite garantieren. Das ist es, was alle, die Mullahs und die Diktatoren und die ethisch geladenen Herolde des „guten“ Kapitalismus, verbindet. 

Warum redet kaum einer im westlichen Clan der Business-Stars von der Essenz der Geschäftsbeziehungen, die alle verbindet und auch künftig verbinden wird: gute Geschäfte. Will das demokratische Suizid-Business mit Coronaschaden und Klimapsychose da aussteigen?

Realistisch mit Gefahren umgehen

Eine „Zeitenwende“ für andere Völker managen zu wollen, sollte die westliche Welt in den wankenden Demokratien sich nicht vornehmen. Deutschlands Stärken beim Aufstieg zu einer der führenden Wirtschaftsnationen wurden beflügelt durch das Sendungsbewusstsein der Amerikaner, die an uns glauben wollten. Die Bildungspolitik war an guten Schulen interessiert. Die wiedergeschenkte Freiheit von Forschung und Lehre durchflutete die Universitäten. 

Die Erfindung der Marktwirtschaft wurde das Win-Win-Prinzip im internationalen Wettbewerb. Die soziale Fortentwicklung der Marktwirtschaft stärkte die Leistungslust der Täter und Opfer in Deutschland, denen Zeit und Mut zur Traumatherapie nach der zentnerschweren Schuld fehlte. Die Wirtschaftswunderkinder hatten Mentoren in der Welt, die ihnen zutrauten, was sie noch heute nur zwiespältig buchstabieren: Risikokompetenz zu entwickeln, um realistischer mit Chancen und Gefahren umzugehen. 

Für das Wohl der Welt

Dass die deutschen Traumakinder nun selbst ein Sendungsbewusstsein entwickeln, das sie zu Klimarettern machen soll, ergibt zusammen mit der edlen Plötzlichkeit des kühnen Anspruchs, alle Geschäftsbeziehungen wertbeschwert zu bereinigen oder aufzugeben, ein Dilemma, das selbstverletzende Effekte auslöst. 
 

Nora Bossong im Cicero Politik Podcast:
„Es bringt nichts, die German Angst zu befriedigen“


Neue Stärken, die den ersehnten Mix von ethischer und ökonomischer Verantwortung für das Wohl der Welt durchsetzen, müssen den Test bestehen, den nun die Risikokompetenz der Regierungen durchlaufen müsste: Kein vermutetes Unheil in der Zukunft kann die Rechtfertigung von Zerstörungsaktionen im Wertekodex der Gesellschaft und den Zivilisationserfolgen hochentwickelter Kulturen liefern.

Unser Nachholbedarf in Risikokompetenz ist schon beim Pandemiemanagement deutlich geworden. Neue Stärken zu entwickeln, die Attraktivität unserer Lebensform global sichern, werden nicht von der Lockerung aller Rechtsnormen und dem organisierten Ansehensverlust unserer Verfassung ausgehen können.

Survival of the Fittest 

Der Stressfaktor Moral wird von einer freiheitsdurstigen Jugend bereits gekündigt. Die Stärken der Jungen öffnen sich täglich neuem Versuchsgelände. Geliebt werden wollen sie trotzdem immer noch. Wenn das nicht gelingt, dann erzwingen sie Tadel. Starke Gefühle als Kriegserklärung gegen die Auskunftsverweigerer in der Politik.

Der jugendliche Verdacht der Smartphone-Virtuosen, dass Lesen und Schreiben tatsächlich außer Kurs geraten, konnte bisher von der unterbelichteten Bildungspolitik nicht entkräftet werden. Wenn Lesen und Schreiben Loser-Kompetenzen werden, digitale Fitness zum neuen Qualifikationsset für Karrieren gehört, wer bricht dann das Schweigen über die Schule der Zukunft?

Wie wird Survival of the Fittest im Nationenformat in der neuen Heißzeit aussehen? Wie viele Irrtümer wollen wir gegen unser Wohl verfolgen, wenn wir Risikokompetenz weiter ausschließen? Wer soll unsere Lösungskompetenz bewundern, wenn wir dem gezielten Verlustmanagement in unserer Agenda der Unheilsvermutungen weiter Rang eins geben?

Verzockt er sich?

Attraktive Survivors werden wir sein, wenn wir aufhören, unsere eigene Erfolgsgeschichte in ein Trümmerfeld zu verwandeln, um die Götter der neuen Heißzeit gnädig zu stimmen. Wenn wir fortfahren, unsere Industrie- und Bildungskultur zu zerlegen, ohne genau zu wissen, ob die Heißzeit uns recht geben wird und unsere Opfer mit milderen Temperaturen belohnt, handeln wir gegen jede Risikokompetenz.

Neue Stärke wird nicht den Unheilspropheten zufallen, sondern den Lauschern und Spähern in den Fugen der Machtblöcke, wo Homo ludens mit seinen Kindern spielen könnte, wenn er die große Bühne verlassen hat. Er hat nachgedacht. Kennt die Natur seinen Namen? Hört sie auf seinen Anspruch, Homo creator zu sein, ein Mutationsmanager? Er möchte weiterspielen. Verzockt er sich?

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