Schlesinger und der RBB - Patricia Schlesinger - ein Cancel-Opfer?

Der RBB-Rundfunkrat hat Patricia Schlesinger gestern als Intendantin abgesetzt. Dagegen will sie sich nun rechtlich zur Wehr setzen - mit Hilfe des bekannten Medienanwalts Ralf Höcker. Eine maximale Kampfansage an den Rundfunk Berlin-Brandenburg.

Die Vorsitzende des RBB-Rundfunkrats, Friederike von Kirchbach (l.), erklärt der Presse den Fall Schlesinger / dpa
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Das Haus des Rundfunks von Architekt Hans Poelzig direkt gegenüber der Berliner Messe, ein Denkmal der deutschen Zeitgeschichte mit allen Höhen und Tiefen, hat seit seiner Einweihung 1931 schon viele seltsame Tage erlebt. Niederschmetternde, glorreiche, triumphierende, deprimierende, schreckliche. Der gestrige dürfte in die Kategorie der seltsamen Tage fallen, denn was da an diesem 15. August 2022 tatsächlich passiert ist und welche Folgen es haben wird, ist selbst den unmittelbar Beteiligten zur Stunde noch nicht wirklich klar – einschließlich eines (womöglich letzten) Auftritts der Intendantin, der von den Anwesenden als „nur noch bizarr“ beschrieben wird, „als befände sie sich in einem Paralleluniversum“.  

Nach dem großen „Befreiungsschlag“, nach dem heilenden „Neuanfang“, nach einem „reinigenden Gewitter“ (Selbst- und Fremdwahrnehmung), das just zur selben Stunde die zuletzt quälende Trockenheit mit Wolkenbruch über dem Charlottenburger Westend vertrieb, sehen Ereignisse und Ergebnisse dieser Sondersitzung auch mit einem Tag Abstand nicht unbedingt aus. Mag sein, dass es von nun an wieder besser wird. Mag sein, dass die erste große Hürde genommen ist. Es kann aber auch noch eine Menge schiefgehen, und wie man den RBB und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk insgesamt kennt, wird das auch geschehen – Ausmaß unklar.  

Der Rundfunkrat hat gestern das getan, was im Moment als Minimum zu tun war – und damit zugleich das Gespenst von Charlottenburg geschaffen, das Problem Schlesinger vollends dem Verwaltungsrat vor die Füße gekippt. 

Schlesinger ist nach wie vor Leitende Angestellte

So eine RBB-Chefin ist nämlich eine multiple Figur. Mit seiner Zustimmung zur Vorlage der Vorsitzenden Friederike von Kirchbach, deren genauer, letztendlich verbindlicher Wortlaut zur Stunde immer noch nicht bekannt ist, hat der Rundfunkrat gestern mit 22 von 23 Stimmen bei einer Enthaltung lediglich die „Organschaft“ der Frau Schlesinger als Intendantin beendet. Die Leitende Angestellte Schlesinger ist jedoch nach wie vor vorhanden mit Dienstvertrag und Dienstverhältnis. Und wie letzteres ohne weiteren Schaden für Sender, Belegschaft, Programm und Gebührenzahler zu beenden ist, wird dem Verwaltungsrat ab Montag in seiner nächsten Sitzung noch einiges Kopfzerbrechen bereiten. Auf Nachfrage wollte Frau von Kirchbach nach der Abstimmung auch eine Abfindung unverändert nicht ausschließen. Sie verplapperte sich an dieser Stelle und brach ihr Statement schließlich über sich selbst erschrocken ab: „Darüber wird jetzt verhandelt ... – nein, das kann ich jetzt nicht sagen.“ 

Arbeiten muss und darf die Journalistin Schlesinger also nicht mehr für den Sender, Geld und Fürsorge empfangen dagegen sehr wohl, und das wahrscheinlich bis zum Lebensende, sollte ihr nicht die Pension gestrichen werden, was rechtlich nur schwer möglich sein wird. Denkbar, dass es der Verwaltungsrat gar nicht erst versuchen wird. Mindestens bis Ende Februar wird die 61-Jährige noch als potentiell millionenschweres Gespenst von Charlottenburg im Sender herumspuken und Gegenstand heftiger Debatten, Verhandlungen und Spekulationen sein.  

Nicht alle behielten die Nerven, auch eine Boulevardzeitung nicht. Deren Vertreter rühmte sich einer „Standleitung“ in die Sitzung, verlangte, als Quelle genannt zu werden für die erste Zahl aus der Abstimmung, und pöbelte schließlich einen ohnehin komplett entnervten RBB-Sprecher Justus Demmer minutenlang an, weil von Kirchbach das RBB-Fernsehteam vorab mit einem Abstimmungsergebnis versorgt hatte, was seinem selbst zugewiesenen Sonderstatus widersprach. Sein Blatt behauptete dann ersatzweise exklusiv, Frau Schlesinger habe bei ihrem überraschenden Auftritt vor dem Rundfunkrat auf eine Abfindung sowie weitere Ansprüche definitiv verzichtet. Das war wirklich exklusiv, weil grober Unsinn; inzwischen ist diese Meldung auch nicht mehr auffindbar.  

Patricia Schlesinger sieht sich als Cancel-Opfer

Zutreffend ist das Gegenteil: Patricia Schlesinger hat gestern im Sender gleich doppelt und dreifach neue Empörung ausgelöst. So hielt sie es für eine gute Idee, ihr für den Rundfunkrat gedachtes Statement mit unerträglicher „Selbst-Lobhudelei“ (RBB-Medienredakteur Jörg Wagner) vorab der Süddeutschen Zeitung zuzuleiten, die es noch am Mittag hinter einer Bezahlschranke zugänglich machte. Ihre „Entschuldigung“ an die „Mitarbeitenden“, die freilich unverändert jede Selbstkritik vermissen lässt, erreicht jene also nur gegen Gebühr. Egal: Die Nichtlängermitarbeitenden fühlten sich wahrscheinlich ohnehin nicht angesprochen. Marion van Bebber und Marek Kalina zum Beispiel, zwei herausragende Moderatoren von RBB Kultur, wurden rausgeschmissen im Zuge der Verzwergung des Kulturradios zwecks Sparmaßnahmen und arbeiteten anschließend als Grundschullehrer. 

Regelrechtes Entsetzen selbst unter ihr bisher Wohlgesinnten löste Schlesinger aber gestern mit ihrer Entscheidung aus, Ralf Höcker mit der Vertretung ihrer Interessen zu beauftragen. Die Neue Zürcher Zeitung hält ihn für den „gefürchtetsten Medienanwalt Deutschlands“; er vertritt Professoren, die von Studenten aus dem Amt gedrängt werden sollen, sowie die Biologin, deren Gender-Vortrag an der Humboldt-Universität verhindert wurde. Für das Schweizer Blatt war Schlesingers Mandatserteilung umgehend Anlass für ein Interview, in dem er erklärt, „wie er sich bei Cancelversuchen für seine Mandanten einsetzt“ und mit welchen Methoden: „Selbstverständlich drohe ich.“ Das klingt doch nett. 

 

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Zu Höckers Mandanten gehörten auch die AfD und der türkische Staatspräsident Recep Erdogan, Jörg Kachelmann, das Erzbistum Köln und Hans-Georg Maaßen, also lauter Klienten, deren bloße Erwähnung in einer öffentlich-rechtlichen Anstalt heftigste Allergien, eine Flut von Kotz-Smileys sowie hektische Abwehrreaktionen auszulösen pflegt. Noch einmal RBB-Medienredakteur Jörg Wagner, heute prominent vom Sender auf allen möglichen ARD-Webseiten plaziert: „Ausgerechnet Höcker“. Eine fassungslose Kollegin ergänzte: „Mit der Entscheidung für diesen Mann hat uns die Schlesinger den maximalen Stinkefinger gezeigt.“   

Patricia Schlesinger sieht sich also als Cancel-Opfer – das ist ihre Botschaft an den Rundfunk Berlin-Brandenburg und die Öffentlichkeit. Und sie möchte diese Entscheidung für diesen Anwalt sehr wohl als Kampfansage an das Haus, das vor ein paar Tagen noch ihr Haus war, verstanden wissen.  

Es wäre dumm vom Rundfunkrat, sich nur auf ein privates Abendessen zu stützen

Höcker, offensichtlich angetan von dieser auch für ihn unerwarteten Konstellation, machte denn auch gleich deutlich, wo er Schwachstellen seines Gegners sieht. So sei die Einladung an Polizeipräsidentin Barbara Slowik am 23. Januar 2022 per WhatsApp erfolgt. Ein expliziter Anlass für die Einladung sei – anders als von Slowik dargestellt – nicht genannt worden. Wenn Slowik nun eine Wohnungseinweihung und damit rein privates Treffen unterstelle, widerspreche bereits dies – so Schlesingers Anwalt gut gelaunt – der Faktenlage. 

In der Tat wäre es nach Einschätzung von Beobachtern völliger Wahnsinn, sollte sich der Rundfunkrat gestern bei seiner Abberufung gemäß Paragraph 22 RBB-Staatsvertrag auf ein einziges Ereignis und das damit einhergehende angebliche oder tatsächliche Fehlverhalten der Intendantin stützen, eben jenen geselligen Abend im Wohnzimmer Spörl-Schlesinger. In der Vorlage der Vorsitzenden von Kirchbach, datiert vom Samstag, also zwei Tage vor der Sondersitzung, heißt es wörtlich: 

„Grund für die Abberufung von Frau Schlesinger als Intendantin des RBB ist die Abrechnung von Bewirtungskosten für eine Einladung mit Abendessen in der Privatwohnung von Frau Schlesinger am 12.2.2022 gegenüber dem RBB als dienstlich notwendig, obwohl diese ganz oder zumindest teilweise rein privater Natur war.“ 

Friederike von Kirchbach pickte also für ihren Diskussionsvorschlag aus inzwischen einem ganzen Berg an Tatsachen und Anhaltspunkten ein einziges Abendessen heraus und beschrieb dessen Charakter dann auch noch windelweich als „ganz“ oder „teilweise“ oder „rein privater Natur“. Darauf eine so gravierende Maßnahme wie eine Abberufung zu stützen, erschiene maximal leichtsinnig. Im Interesse des Senders und der Gebührenzahler kann man daher nur hoffen, dass die tatsächliche Schlussfassung auf anderer, stabilerer Grundlage erfolgte. Immerhin wurde im Rundfunkrat heftigst um einen gerichtsfesten Antragstext gestritten, wie Mitglieder in einer der Zigarettenpausen berichteten. Mindestens, so ein Insider, seien „die Abstimmungsunterlagen“ noch verändert worden.  

Was das bedeutet, muss sich zeigen. Verbindliche Auskunft aus dem Funkhaus steht zur Stunde noch aus; dort hat man alle Hände voll zu tun, den Auftritt des kommissarischen Intendanten vor dem Hauptausschuss des Brandenburger Landtages halbwegs unfallfrei über die Bühne zu bringen.  

Nach wie vor muss man den RBB-Gremien und der verbliebenen RBB-Geschäftsleitung immer dann, wenn es wirklich um die Substanz geht – Anstellungsvertrag, Boni, Zusatzvereinbarungen, Protokolle und jetzt sogar genaue Beschlusstexte – jedes Dokument mühsamst einzeln abtrotzen. Irgendeiner erfindet immer einen Grund, warum er gar nichts wisse oder es zwar wisse, aber nicht sagen müsse oder könne oder er gar nicht zuständig sei oder leider gerade völlig überfordert, unterwegs oder leider offline. Wenn das so weitergeht, gehört das Versprechen von der „vollen Transparenz“ endgültig auf den Index – von der ARD insgesamt totgeritten, von der Praxis nun auch in Berlin ausreichend widerlegt.  

Auslöser für den Rausschmiss waren die Intendanten der übrigen acht ARD-Sender

Fassen wir für heute zusammen: Patricia Schlesinger sieht sich als Cancel-Opfer. Weder die Süddeutsche Zeitung noch sie selbst oder ihr Mann hätten sich Ralf Höcker noch vor ein paar Tagen in Vollschutzkleidung mit einer vier Meter langen Beißzange genähert. Aber wenn die Not wirklich groß ist und es um richtig viel Geld geht, ist er als Anwalt und als Quelle für exklusive Meldungen plötzlich erste Wahl.  

Der RBB-Rundfunkrat raffte sich gestern immerhin zu einer Einstimmigkeit auf, die ebenfalls nicht unbedingt zu erwarten war. Aber zugleich darf man sich nichts vormachen: Auslöser dieser Zäsur war nicht er – es waren die Intendanten der übrigen acht ARD-Sender. Sie zogen am 4. August in stündlich steigender Sorge um ihre Zukunft die Reißleine und nahmen Schlesinger den ARD-Vorsitz weg.  

Erst dieser Eklat löste drei Tage später den nächsten aus: den Rücktritt auch als RBB-Intendantin. Friederike von Kirchbach wäre die letzte gewesen, die ihre Vertraute Patricia Schlesinger ohne den riesigen Druck innerhalb und außerhalb des Hauses, ohne eine historisch beispiellose Situation, vollends abserviert. Es ist ja immer noch derselbe Rundfunkrat, der alle übrigen Bewerber vor nicht einmal zwei Jahren ohne viel Federlesens aussortiert hatte, sich nicht einmal anhörte, sondern Frau Schlesinger „mit sehr großer Mehrheit“ zur zweiten Amtszeit verhalf. Die Aufseher wollten sie und niemand anderen. Alle übrigen Interessenten hätten sich ihre Bemühungen vom ersten Moment an sparen können; die Ausschreibung in der Zeit war nur eine Formalie. 

Um so ätzender jetzt die Stimmung der Belegschaft. Zitate der doch so achtsamen Chefin machen die Runde. Sehr beliebt gerade der Schlesinger-Satz: „Der ÖRR garantiert uns, dass uns keiner für dumm verkauft.“ Platz 2: „Der ÖRR garantiert uns, dass wir nicht hinters Licht geführt werden.“ Neu im Trend, aber laut Belegschaft ergänzungsbedürftig: „Wenn wir nicht alle abholen, sind wir noch nicht gut genug.“ Demonstrantin gestern vor dem Haus: „In diesem Spruch fehlte wohl im vierten Wörtchen ein ,s‘.“  

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