Ostermärsche - Zeit der Emanzipation

Was früher als humanistisches Engagement für eine bessere Welt galt, gilt heute als verdächtig: die Ostermärsche. Aber es ist auch eine Chance für die Bewegung, sich vom lange dominanten linken Milieu zu befreien.

Ostermarsch in Essen im Jahr 1988 / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Es ist der 4. April 1958: Karfreitag. In London versammeln sich mehr als 10.000 Menschen zum Protest gegen das britische Atomwaffenprogramm. Die Demonstration dauert vier Tage. Es ist mehr ein Marsch als eine Demonstration. Über 80 Kilometer legen die Demonstranten bis zum „Atomic Weapons Establishment“ in der südenglischen Ortschaft Aldermaston zurück. Die Bilder der Demonstration gehen um die Welt. Der Aldermaston-Marsch, er wird zu einem Aufbrauchsignal für die Friedens- und Ostermarschbewegung.

Mathematiker, Logiker, Philosoph

Hinter den ersten Ostermarschierern stand die Campaign for Nuclear Disarmament und das Direct Action Committee Against Nuclear War. Erstere war im November 1957 gegründet worden, um den Widerstand gegen die immer intensivere atomare Rüstung der beiden damaligen Supermächte zu koordinieren. Vorsitzender war anglikanische Kanoniker John Collins. Als erster Präsident fungierte der Mathematiker, Logiker, Philosoph und überzeugte Pazifist Bertrand Russell.
 

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Um sich ein markantes Erkennungszeichen zu geben, beauftragte man den Grafiker Gerald Holtom ein Logo zu entwerfen. Er entschied sich die beiden Anfangsbuchstaben der Kampagne für Nuclear Disarmament, also N und D, in Form des Winkeralphabets darzustellen. Heraus kamen ein Strich und ein Winkel in einem Kreis. In kürzester Zeit avancierte das CND-Logo zum internationalen Friedenssymbol. Was er ursprünglich einmal bedeutete und was es darstellt, weiß allerdings kaum noch jemand.

Beflügelt durch die Proteste

Der erste deutsche Ostermarsch fand 1960 statt. Er führte von Hamburg zum Truppenübungsplatz Bergen-Hohne in der Lüneburger Heide. Dort hatte man nuklearkopffähige Kurzstreckenraketen stationiert. Beflügelt durch die Proteste gegen den Krieg in Vietnam und die Studentenbewegung bekommen die Ostermärsche im Laufe der 60er Jahre enormen Zulauf. Im Jahr 1967 gehen in Westdeutschland 150.000 Menschen auf die Straße. Im Symboljahr 1968 sind es sogar doppelt so viel.

Doch dann kommt der Einmarsch der Staaten des Warschauer-Paktes in die Tschechoslowakei. Der radikal linke und kommunistische Flügel der Ostermarschbewegung versucht, das Vorgehen Moskaus zu rechtfertigen. Die Bewegung zerfällt. Erst im Zuge der Nachrüstungsdebatte um 1980 laufen wieder mehr Menschen bei den österlichen Friedensdemonstrationen mit. Im Jahr 1983 gehen schätzungsweise 700.000 Menschen auf die Straße. Einen letzten Höhepunkt erleben die Ostermärsche dann anlässlich des Kosovo-Krieges und den Kriegen gegen den Irak.

Protestmarsch in London im Jahr 1958 / dpa

Dann wurde es still. Und die multipolare Weltlage der 2010er Jahre konnte für einen Moment den Verdacht aufkommen lassen, dass sich Friedensmärsche und erst recht Anti-Kernwaffen-Demos erledigt haben. Doch dann kam Russlands Überfall auf die Ukraine. Und damit wurden die politischen Karten komplett neu gemischt. Der parlamentarische Zweig aller Friedenbewegten und Pazifisten – die Grünen – entdeckten plötzlich ihre Liebe zu Granaten, Panzern und Marschflugkörpern. Und Wehrdienstverweigerer begannen über Nacht über Waffensysteme zu schwadronieren wie altgediente Offiziere.

Entsprechend sank die Reputation des Pazifisten im linksbewegten Politmilieu auf Null. Wo gestern der Pazifismus noch als die einzige rationale und moralisch vertretbare Haltung galt, war er von heut auf morgen verpönt. Der Grund für diesen radikalen Kurswechsel der politischen Linken bestätigt einmal mehr: Bei den großen Debatten – Frieden, Pazifismus, Umwelt, Klima – geht es selten um die Sache selbst. Meist werden entsprechende politische Schlagworte lediglich benutzt, um die politische Deutungshoheit zu gewinnen und ganz andere politische Ziele umzusetzen.

Das wäre ein wichtiger Schritt

Entsprechend leicht konnte sich die Mainstream-Linke vom Pazifismus vergangener Jahrzehnte befreien. Das eigentliche politische Ziel, den Kampf gegen die Reste konservativen Denkens, kann man seit dem 24. Februar 2022 viel treffsicherer mit einer entschlossenen Aufrüstungsrhetorik gegen Putin verfolgen. Aus diesem Grund hat die Linke in der Corona-Politik übrigens ein ganz ähnliches Manöver hingelegt – weg vom der Skepsis gegenüber autoritärer Schulmedizin, hin zum Befürworter von Zwangsimpfungen. Dieser politische Vorzeichenwechsel fällt nun auf die Ostermarschierer zurück. Die Süddeutsche sieht einen „Pazifismus mit Problemen“. Der Bayerische Rundfunk fragt: „Von rechts unterwandet?“ – und liefert so die Antwort gleich mit.

In diesen Angriffen auf die Bewegung der Ostermarschierer liegt aber auch die Chance, sich endlich vom linken Milieu zu emanzipieren, das ab Mitte der 60er Jahre die Szene dominierte. Denn die Ostermarschierer der ersten Jahre waren ein buntes Bündnis, das von konservativen Christen über bürgerliche Liberale bis zu kommunistischen Aktivisten reichte. An diesem Grundgedanken wieder anzuschließen und sich für Frieden einzusetzen – parteiübergreifend und jenseits aller politischen Ideologien: Das wäre ein wichtiger Schritt.
 

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