Politische Philosophie - Ist der Konservatismus noch zu retten?

Konservatismus ist weniger eine parteipolitische Verortung als eine ideologische Selbstzuschreibung. Ursprünglich ein Reflex gegen die Ideale der Französischen Revolution, stand er in der Moderne für Traditionalismus und Fortschrittsskepsis. Was ist vom Konservatismus noch übriggeblieben?

Konservative Ikonen des 20. Jahrhunderts: Queen Elizabeth II. empfing 1984 Ronald Reagan und Margaret Thatcher. / picture alliance
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Autoreninfo

Dr. phil. Dominik Pietzcker studierte Philosophie, Geschichte und Germanistik. Von 1996 bis 2011 in leitender Funktion in der Kommunikationsbranche tätig, u.a. für die Europäische Kommission, Bundesministerien und das Bundespräsidialamt. Seit 2012 Professur für Kommunikation an der Macromedia University of Applied Sciences, Hamburg. Seit 2015 Lehraufträge an chinesischen Universitäten.

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Die Zeit, der wir alle unterworfen sind, ist ein Medium des Entstehens und zugleich der Vernichtung. Alles endet, und vor der Zeit hat nichts Bestand. Der härteste Gegner des Konservatismus, der das Erhaltenswürdige in Form von Traditionen, Werten, Ritualen und Glaubensinhalten bewahren möchte, ist daher weniger der Veränderungswille vermeintlich progressiver Kräfte, als vielmehr die Unerbittlichkeit der Zeit selbst. Man könnte auch sagen, der Konservatismus hat von Anfang an schlechte Karten, denn sein Vorhaben ist notwendigerweise vergeblich. „In the long run, we are all dead”, bemerkte zutreffend John Maynard Keynes. Aber genau deswegen macht unser Tun zu Lebzeiten womöglich einen Unterschied.

Ohne eine Vorstellung von Ewigkeit, ob religiös oder naturrechtlich begründet, kommt der Konservatismus nicht aus – eine denkbar schwierige Bedingung in säkular geprägten Gesellschaften. Wenn der Glaube an höhere als bloß irdische Instanzen verloren ist, welchen Sinn haben dann noch religiöse Regelwerke und Institutionen?

Revolutionäre Vorstellungen des beschleunigten sozialen Wandels hingegen benötigen zu ihrer Legitimation keiner Metaphysik, es reicht ein diffuser Zukunftsoptimismus, gepaart mit der rücksichtslosen Bereitschaft, für ein vermeintlich besseres Morgen schon in der Gegenwart Menschenleben in großer Zahl zu opfern. Von Anfang an war der Konservatismus eine Gedankenrichtung, die sich als antirevolutionär und restaurativ positionierte: aristokratisch, nicht bürgerlich; irrational, nicht aufklärerisch; elitär, nicht egalitär. Samt und sonders obsolete Haltungen – oder etwa nicht?

Die Notwendigkeit der Veränderung begreifen

Der französische Geschichtsphilosoph Alexis de Tocqueville schreibt über den Untergang des Ancien Régime: „Eine Anpassung an die Forderungen der modernen Zivilisation wäre möglich gewesen, wenn die Fürsten bloß mehr gewollt hätten, als nur Herrscher zu werden und zu bleiben.“ Ein Konservatismus, der sich nicht an veränderte Zeitläufe anzupassen vermag, wird schnell zum Atavismus und von der Geschichte hinweggefegt. Wer nur die eigenen Vorrechte verteidigen will, wird über kurz oder lang den politischen Gegenkräften unterliegen.

Aber lassen sich Konservatismus und innovativ-beschleunigter Modernismus überhaupt miteinander verbinden? „Traditionen sind kein Zug, in den man nach Belieben ein- oder aussteigen kann“, schrieb der neokonservative amerikanische Soziologe Allan Bloom, „wenn das Bindeglied zerbrochen ist, lässt es sich kaum erneuern.“ Um weiterhin Geltung haben zu können, muss auch der Konservatismus Ballast abwerfen. Es gilt, Abschied zu nehmen von gewohnten Sicherheiten, von wirtschaftlichen oder sonstigen Privilegien.

Keine Sentimentalitäten beim Blick zurück

Der Zusammenbruch politischer Ordnungssysteme wird als kultureller Verlust zwar betrauert, zugleich jedoch als notwendig anerkannt. „Alles muss sich ändern, um so zu bleiben, wie es ist“ – von dieser Selbstwidersprüchlichkeit handelt Tomasi de Lampedusas Jahrhundertroman „Der Leopard“; es ist das Dilemma des Konservatismus überhaupt. Wer kann schon, gefangen im Strom der Zeit, mit Gewissheit das zu Rettende und zu Bewahrende vom Rettungslosen und Untergangsgeweihten unterscheiden?

Konservatismus hat besonders in Zeiten der Unruhe, der Ungewissheiten und der gesellschaftlichen Umwälzungen Konjunktur. Nach 1789 richtete sich der Konservatismus gegen die französischen Sansculotten, nach 1848 gegen die deutschen Demokraten, nach 1917 gegen die russischen Bolschewiken. „Reaktionär“ gilt zwar als ein Schimpfwort, umreißt aber akkurat die geistige Gefechtshaltung der Konservativen. Sie handeln nicht in der Gewissheit einer eigenen zukunftsgerichteten Utopie, sondern reagieren lediglich auf die aus ihrer Sicht unerwünschten oder zu revidierenden politischen Entwicklungen.

Großbritannien als konstitutionelle Monarchie mit tief verankerten und eigenständigen Traditionen verstand und versteht sich bis heute als ruhender Gegenpol zum geschichtlich bewegten, bisweilen paroxysmalen Kontinentaleuropa. Der englische Parlamentarier Sir Edmund Burke, distanzierter Beobachter und kritischer Kommentator der Französischen Revolution, gilt als Ahnherr des Konservatismus. Individuelle Freiheit und Tradition hielt er für wichtiger als Gleichheit und Aufklärung. Nichts war Burke mehr zuwider als die Vorstellung von enthemmten Menschenmassen, die Schlösser schleifen und Standesprivilegien nivellieren. Als typischer Konservativer war Burke gewiss das Gegenteil eines Rechtspopulisten.

Konservatismus und Antikommunismus

Im 20. Jahrhundert konnte der Konservatismus weder den Aufstieg des Kommunismus noch die massiven zivilisatorischen Durchbrüche von Faschismus und Nationalsozialismus aufhalten. Die konservativen Beharrungskräfte waren, zumindest in Europa, offensichtlich nicht ausreichend, um den Totalitarismen erfolgreich entgegenzutreten. Die beiden prägenden konservativen Figuren im Europa des 20. Jahrhunderts, de Gaulle und Adenauer, konnten sich bezeichnenderweise erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs auch machtpolitisch durchsetzen. Der im Westen weit verbreitete Antikommunismus nach 1945 tat sein Übriges, um den konservativen Mainstream zu verfestigen. Konservative Parteien errangen in dieser Zeit absolute Mehrheiten.

Aus europäischer Perspektive gab es während des Kalten Kriegs viel zu bewahren. In erster Linie Sicherheit und Frieden, Wohlstand und Freiheit. Was wie ein Wahlslogan der 70er- Jahre klingt, ist heute wieder unerwartet aktuell. Nach dem Untergang der Sowjetunion geriet der historische Allgemeinplatz in Vergessenheit, dass einmal Errungenes nur durch die glaubwürdige Bereitschaft bewahrt werden kann, es auch zu verteidigen. Für diese verfängliche Selbstvergessenheit bezahlen wir heute alle einen hohen Preis.

Was bleibt, was fällt der Zeit zum Opfer?

Erneut leben wir in einer Welt des radikalen Umbruchs: Krieg in Europa, historisch neue geostrategische Konstellationen, dramatisch beschleunigte technologische Innovation vor dem Hintergrund enormer ökologischer Zerstörung. Die Gewissheiten und Wohlstandserzählungen der jüngsten Vergangenheit erodieren spürbar und verbrauchen sich schnell.

Zeitenwende, sicherlich, aber in welche Richtung? Wofür lohnt es sich zu kämpfen und was darf auf keinen Fall geopfert werden? Womöglich lassen sich diese Fragen gar nicht mehr universell oder auch bloß mehrheitsfähig beantworten. Eine konservativ motivierte Argumentation jedoch wird ohne drei Werte nicht auskommen können: Entscheidungsfreiheit, Leistungsbereitschaft und Wertschätzung von Kulturgütern – seien diese ästhetischer, familiärer, wirtschaftlicher oder religiöser Art.

 

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Der Leistungswille von Individuen soll nicht gebremst, sondern gefördert werden. Selbstentfaltung ohne Eigenanstrengung ist Utopie, nicht Lebenswirklichkeit. Bildung und Erziehung sind der Beginn jedweder Zivilisation. Die Bereitschaft, mehr leisten zu wollen, ist die Grundvoraussetzung von Leistung überhaupt, ob nun durchschnittlich oder überdurchschnittlich. Meritokratie ist allemal besser als Oligarchentum oder die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“, wie die Helmut Schelsky vorschwebte.

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