
- Geschwätz von gestern: Der Philosoph und der Notstand
Mit dem gesellschaftlichen Leben scheinen wegen der Corona-Pandemie auch so manche gesellschaftspolitischen Erkenntnisse auf Eis gelegt worden zu sein. Renommierte Intellektuelle aus der systemkritischen Sphäre werden plötzlich zu den unbarmherzigsten Verteidigern der neuen Normalität. Darunter auch Deutschlands berühmtester Denker: Jürgen Habermas.
„Notstandsgesetze – der Tod der Demokratie“, liest man am 11. Mai 1968 auf den Transparenten bei einer Protestveranstaltung im Bonner Hofgarten. Der Entwurf des Gesetzes, das 19 Tage später verabschiedet werden wird, sieht vor, die Handlungsgewalt des Staates in Kriegs- und Krisenfällen zu erweitern. Es schlägt „die Stunde der Exekutive“. Und die der Studentenbewegung, die sich damals zusammen mit den Gewerkschaften und der FDP vehement gegen die „Einschränkung von Grundrechten“, eine „Ausschaltung des Parlaments“ – mit der Gefahr der „Notstandsdiktatur“ – und gegen eine „pauschale Rechtsetzungsermächtigung“ der Exekutive stemmt.
Drei Jahre zuvor leitet Jürgen Habermas eine Diskussion beim Bonner Anti-Notstands-Kongress an der Universität der damaligen Bundeshauptstadt. Die Teilnehmer warnen vor einer Neuauflage der „Ermächtigungsgesetze“ von 1933. Damals gilt das noch nicht als Verharmlosung des Nationalsozialismus, sondern als berechtigte Furcht vor seinem Wiederaufkeimen. Zusammen mit anderen Geistesgrößen wie Heinrich Böll und Hans-Magnus Enzensberger stellt sich Habermas entschieden gegen die „erkennbare politische Gefahr“ eines (militärischen) Totalitarismus.