Moralismus und Marginalisierung - Die unsinnige Politisierung der Identität

Der Versuch, Gruppenzugehörigkeit über kulturelle, sexuelle oder ethnische Merkmale zu definieren, funktioniert in unseren komplexen und ausdifferenzierten Gesellschaften nicht mehr. Das hindert das moralistische Milieu aber nicht daran, über Menschen zu sprechen, die es nicht kennt.

Auch Kopftücher markieren keine homogene Gruppe / dpa
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Autoreninfo

Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

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In der Silvesternacht greifen Männer mit Migrationshintergrund Polizisten und Feuerwehrkräfte an. Die Krawalle lösen in der Politik und in den Medien hitzige Debatten über Integration und eine von Konservativen deklarierte Korrelation von muslimischem Glauben und Gewaltbereitschaft aus. Gleichzeitig warnen uns Demografen vor den wirtschaftlichen und letztendlich sozialen Folgen für die gesamte Gesellschaft, wenn der Zuzug ausländischer Fachkräfte aus dem Ausland nicht massiv ausgebaut und beschleunigt wird.

Dennoch sprechen sich Teile der Gesellschaft vehement gegen weitere Migrationsbewegungen nach Deutschland aus. Die Art und Weise, wie diese Debatten medial, politisch und von Bürgern auch auf Social-Media-Kanälen geführt und moralisiert werden, können getrost als „Stellvertreterstreitereien“ bezeichnet werden. Es geht um viel mehr als nur die „Migrationsfrage“. Es geht darum, wie wehrhaft unsere Demokratie ist, wie gut also die Interessen der Bürger von Politik und Medien vertreten werden. Es geht auch darum, dass die moralische Polarisierung der Lager und die Politisierung der Identität den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie gefährden.

Erster Schritt: Sprachvorgaben

Sinnbild und Anfangspunkt der Moralisierung dieser Debatten und der Politisierung von Identität ist die sogenannte Identitätspolitik. Sie bietet seit vielen Jahren Moralisten und Provokateuren eine prominente Bühne. Stur-Konservative sind überzeugt davon, sie spalte mehr als dass sie eine und es gäbe keine gesellschaftlich Benachteiligten. Keinen „Diversity“- und „One-World“-Hashtag auslassende Social-Media-„Soziologen“ wiederum glauben, die Beseitigung von Verteilungsungleichheiten sei nicht machbar, ohne – aus ihrer Sicht – marginalisierten Gruppen den gleichen Zugang zu Ressourcen zu ermöglichen – und der Weg dahin führe zuerst über Sprachvorgaben.

Teile der „klassischen“ Linken wiederum sehen in den Diskussionen über die Identitätspolitik die Ursache für eine zunehmende Apolitisierung der Gesellschaft und machen sie für die Politikverdrossenheit vieler Bürger verantwortlich. Sogar der Aufstieg der deutschen Rechten sei letztendlich die Konsequenz der medialen und politischen Übergewichtung dieser Theorie, weil Medien und Politik dringendere soziale Anliegen ignorieren. 

Wissenslücken und Moralisierung alter Debatten

Die politischen Forderungen, die mit der Identitätspolitik einhergehen, variieren entsprechend der politischen Ausrichtung ihrer Fürsprecher. Die semantische Mehrdeutigkeit des Begriffes ermöglicht diese Ambivalenz: Eine früher verbreitete antisemitische Forderung, der Jude möge Deutscher werden, ist ebenfalls als „Identitätspolitik“ zu beschreiben, denn sie bewertet das Individuum auf der Basis kultureller und religiöser Zugehörigkeit und sieht eine Umformung dieser Identität zu einer gesellschaftlich anerkannteren vor.
 

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Soziologische Wissenslücken der Meinungsmacher und Moralisten zeigen sich darin, dass ihre Forderungen auf der Annahme der Existenz von homogenen Gruppen beruhen. Diese Homogenität wird auf Grund kultureller, ethnischer, sexueller oder sozialer Merkmale herbeigeleitet, entspricht aber oft nicht der Eigenwahrnehmung vermeintlich Benachteiligter, die auf Basis solcher Merkmale etwa als Opfer einer diskriminierenden Gesellschaft etikettiert werden.

Gefahr der politischen Verordnung

Die Forderungen, die sich die Identitätspolitik auf die Fahnen schreibt, sind weder neu noch wirklich „woke“. Sozial, wirtschaftlich und kulturell benachteiligten Gruppen eine höhere Anerkennung in der Gesellschaft und mehr Mitspracherecht zu ermöglichen, ist in vielen Gesellschaften dieser Welt Ausgangspunkt des Klassenkampfes und der Frauenbewegung. Neu ist allerdings die Moralisierung dieser Debatten mit den damit einhergehenden Verurteilungen kritischer Rückfragen als „rassistisch“ und „rechts“.

 

 

Auch neu sind die soziologischen Wissenslücken der Rädelsführer, die sich wenig bis gar nicht mit ihrem Diskursthema, also den marginalisierten Gruppen, auskennen. Sprachvorgaben wie jene der „Neuen deutschen Medienmacher*innen“ moralisieren die Debatten auch auf sprachlicher Ebene, in dem  politische Terminologien umgedeutet und selbst definierte „politisch korrekte“ Sprache postuliert wird. Wer bei so vielen Vorgaben und sprachlicher Moralisierung bei Diskussionen über Identitätsbedingte Benachteiligung mitreden will, läuft Gefahr, politisch verortet zu werden, ohne dies beabsichtigt zu haben.

Teil der Privilegierten des Landes

Sind Marginalisierte eine homogene Gruppe, aus denen sich differenzierte politische und soziale Forderungen ableiten lassen? Welche Gemeinsamkeiten sprechen die Anhänger der Identitätspolitik dem deutsch-bulgarischen Gabelstapler, der aus ärmlichen Verhältnissen stammt und im Schichtdienst am Frankfurter Flughafen arbeitet, und dem deutsch-bulgarischen Mathematik-Professor aus der Oberschicht zu? Inwiefern lässt sich die junge deutsch-türkische Kemalistin aus einer wohlhabenden Beamtenfamilie in ihren gesellschaftlichen und politischen Bedürfnissen mit dem deutsch-türkischen Fabrikarbeiter, der über kein Vermögen verfügt und wahrscheinlich auch keins erben wird, vergleichen?

Allein die Gruppe der größten Minderheit in Deutschland, die Gruppe der Deutsch-Türken, ist in derart viele ethnische, deutsch-regionale, türkisch-regionale, vermögende, arme, politische, kulturelle und viele weitere, auch rivalisierende Gruppen gespalten. Es gibt inzwischen tausende deutsch-türkische Geschäftsmänner, Journalisten, Politiker, einflussreiche Händler. Also Menschen mit großem Wirkungsgrad und hohen Einflussmöglichkeiten in dieser Gesellschaft, die durch ihren Bildungsaufstieg selbst zu den Privilegierten des Landes gehören.

Menschen also, die über einen großbürgerlichen Habitus verfügen, der sie schon längst von der Zugehörigkeit zu gesellschaftlich „benachteiligten“ Gruppen befreit hat. Welcher Großstadtmoralist maßt sich also an, diese heterogene Gruppe als eine homogene wahrzunehmen und ihnen auszuhandelnde Bedarfe zuzuschreiben? Und warum werden selbstverständlich Sprecher dieser „Gruppen“ benannt, die über ihre eigene politische Bedarfe sprechen sollen? Meist Repräsentanten übrigens, die weder benachteiligt noch wirklich repräsentativ sind.

Eliten ähneln sich, Nicht-Eliten auch

Soziologen wie Professor Michael Hartmann erklären ihren Studenten im ersten Semester, dass Eliten nationenübergreifend größere Gemeinsamkeiten zueinander aufweisen als zu nicht zur Elite gehörenden Bürger ihres Landes. Vereinfacht ausgedrückt: Der spanische Millionär wird sich besser mit dem türkischen Millionär verstehen als mit einem spanischen Taxifahrer aus Madrid. Die Liste ihrer Gemeinsamkeiten ist im ersten Beispiel sehr lang, im zweiten sehr kurz. 

Der Versuch, Gruppenzugehörigkeit über kulturelle, sexuelle, ethnische Merkmale zuzusprechen, funktioniert in unseren komplexen, global agierenden und ausdifferenzierten Gesellschaften also nicht mehr so einfach. Auch, wenn sich manche Moralisten und sonstige soziale Helden das wünschen. Im Ergebnis heißt das vor allem: Milieufremde sprechen über Menschen, die sie nicht kennen.
 

Cicero Gesellschaft Podcast mit Eva Engelken
„Das ist ein Angriff auf Frauenrechte“


Die politischen Forderungen, die die Anhänger der Identitätspolitik aus ihrer Definition einer homogenen Gruppe von „Benachteiligten“ ziehen, entstehen nicht auf der Basis von homogenen Bedarfen. Schon gar nicht aus den Rückmeldungen dieser Gruppen. Der Kampf für Frauenrechte wurde nicht von männlichen Moralisten ausgetragen, sondern von Frauen, die ihre politischen Forderungen selbst verbalisierten. 

Die Apolitisierung der Bürger entsteht, weil solche Diskurse und andere Diskussionen über sie und nicht mit ihnen geführt werden. Der Arbeiter und seine Anliegen sind schon lange nicht mehr in der Politik vertreten. Der ungebildete Einwanderer, der im Schichtdienst arbeitet, wird in einflussreichen Medienhäusern und Redaktionen nicht anzutreffen sein. Die Bühne, die Identitätspolitiker bieten, ist eine sinnleere. Eine, auf der Hashtag-Intellektuelle über Menschen sprechen, die sie nicht kennen. 

Politikverdrossenheit wegen Prioritätsverschiebung

Die soziale und politische Spaltung in der Gesellschaft nimmt zu, nicht erst seit Corona. Teile der Gesellschaft fühlen sich weder von den Medien noch von der Politik repräsentiert, noch haben sie das Gefühl, politisch mitwirken und mitentscheiden zu dürfen. Dabei ist das Gefühl nach Selbstwirksamkeit für Bürger wehrhafter Demokratien von zentraler Bedeutung. Der Wunsch nach tabufreien Debatten ohne moralische und sprachliche Einschüchterungsversuche Redegewandter ist zudem weit verbreitet. In Zeiten, in denen dringende Themen wie  die Altersarmut, die Klimakrise, Kriege und eine Konsensbasierte Migrationspolitik dringende Fragen der Menschen sind, sind die Debatten über Identität, Sprachverbote und andere Formen der moralischen Einschüchterung obsolet.

Die Bedürfnispyramide nach Maslow sieht zuerst die Befriedigung von physiologischen und sicherheitsorientierten Bedürfnissen vor. Das Bedürfnis nach intellektueller Verwirklichung kann keine Priorität der Medien und Politik sein, wenn es dringendere politische Anliegen in Zeiten zunehmender Verarmung und Unsicherheiten gibt. Eins ist sicher: Die Moralisierung politischer Debatten und die Politisierung von Identität treibt die Spaltung in der Gesellschaft voran. Wir brauchen nicht mehr Moral und Identitätspolitik, wir brauchen mehr Respekt vor der Demokratie, klare Integrationskonzepte und mehr Akzeptanz für Pluralität in der Gesellschaft. 

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