Hochkultur - „Die Opernkrise kommt auch nach Europa“

Die Oper steckt in der Krise: Publikumsschwund, veraltetes Repertoire und fehlende Sponsoren. Nirgendwo spürt man den Wandel so stark wie an der Metropolitan Opera in New York. Ein Gespräch mit MET-Intendant Peter Gelb über eine bedrohte Kunstform.

Das Lincoln Center in New York ist auch die Heimat der Metropolitan Opera / Bryan Thomas
Anzeige

Autoreninfo

Axel Brüggemann ist Musikjournalist und lebt in Bremen. Zuletzt erschien der von ihm herausgegebene Band „Wie Krach zur Musik wird“ (Beltz&Gelberg-Verlag)

So erreichen Sie Axel Brüggemann:

Anzeige

Peter Gelb wurde 1953 als Sohn einer Schriftstellerin und eines Journalisten in New York geboren. Bereits während der Highschool arbeitete Gelb gelegentlich als Platzanweiser in der MET. Heute ist der Kulturmanager Direktor des renommierten New Yorker Opernhauses. 

Mr. Gelb, die Kulturwelt befindet sich in einem radikalen Wandel. An der MET ist er besonders gut abzulesen: Das Publikum hat neue Interessen, das alte Repertoire steht zur Disposition, die finanzielle Ausstattung und die politische Verankerung der MET scheinen unsicher. Warum passiert all das ausgerechnet jetzt? 

In Wahrheit leiden die kulturellen Non-Profit-­Organisationen in den USA schon seit Jahrzehnten unter politischen Sparmaßnahmen. Aber sie haben sich trotzdem immer irgendwie über Wasser gehalten. Mit der MET war das nicht anders. Bis zur Pandemie haben auch wir die Herausforderungen relativ gut im Griff gehabt. Wir waren auf vielen Feldern gut aufgestellt: Die privaten Spenden flossen noch einigermaßen, wir haben einen langsamen Anstieg der Ticketverkäufe verzeichnet und allein durch unsere internationalen Kinoübertragungen haben wir 17 Millionen Dollar im Jahr eingespielt. Jetzt, nach der Pandemie, wird uns allmählich vor Augen geführt, dass besonders die privaten Zuwendungen weniger werden. Die staatlichen Unterstützungen reichen einfach nicht mehr aus, um diese Einbrüche zu kompensieren. 

Die MET ist mit 3800 Sitzplätzen eines der größten Opernhäuser der Welt. Und der Finanzierungsbedarf ist sehr hoch. Wie sehen Ihre Zahlen derzeit konkret aus?

Die MET hat ein Budget von 300  Millionen Dollar pro Jahr, und der staatliche Anteil ist in den USA, anders als in Europa, mit nicht einmal einem halben Prozent erschreckend gering. Das bedeutet: Wir müssen uns mehr oder weniger durch Ticketverkäufe und Sponsoren selber finanzieren. Da treffen uns die Auswirkungen der Pandemie natürlich besonders brutal. Das ist ein Trend, der sich in der ganzen Kulturlandschaft der USA verfolgen lässt. Viele Theater von Los Angeles bis Chicago mussten bereits schließen, zuletzt hat es die Maryland Lyric Opera getroffen. Viele Häuser kämpfen um ihr Überleben, und es ist nicht ausgeschlossen, dass einige es nicht schaffen werden. 

Die Gründe dafür sind vielfältig: Zum einen ist das Publikum älter geworden, teilweise ist es gestorben, viele haben aber auch einfach nur ihre Gewohnheiten geändert. Nach der Pandemie gehörte der regelmäßige Theaterbesuch plötzlich nicht mehr unbedingt zur Routine. Die Leute gehen heute vielleicht lieber schön essen, machen eine Reise mehr oder haben schlicht und einfach nicht mehr so viel Geld in der Tasche. Die wirtschaftliche Lage spiegelt sich natürlich auch an der Opernkasse wider. Kurz gesagt: Es gibt weniger Zuschauer und weniger Spenden. Außerdem beobachten wir, dass wir auch in den Kinoübertragungen Publikum verlieren. Weniger Einnahmen auf allen Ebenen verschärfen unsere finanzielle Situation ungemein, zumal viele Ausgaben der Oper an das Personal gebunden sind und wir kaum noch Sparpotenzial haben.
 

Das könnte Sie auch interessieren:


Die Pandemie war ja auf vielen Feldern eine Art Brennglas und hat bereits bestehende Probleme verschärft. Stimmt das auch für den Kultur- und Klassik-Betrieb? Hat er vielleicht zu lange geschlafen und sich auf alten Lorbeeren ausgeruht? In Europa beobachten wir mit Staunen, dass Sie an der MET derzeit ein neues Publikumsinteresse feststellen: Während Ausstattungsopern wie Giuseppe Verdis „Il Trovatore“ sich nicht mehr verkaufen, oft nur noch zu 30 Prozent ausgelastet sind, scheinen moderne Opern wie „Dead Man Walking“ von Jake Heggie, „The Hours“ von Kevin Puts oder „Fire Shut Up In My Bones“ von Terence Blanchard bei Ihnen zu neuen Publikumserfolgen zu werden … 

Es war lange klar, dass die Oper sich modernisieren und dabei ein neues Publikum finden muss. Aber es ist unglaublich schwer, diesen Wandel auch konkret umzusetzen. Als ich an die MET gekommen bin, habe ich mit den Kinoübertragungen begonnen, habe vorsichtig neues Repertoire eingeführt – aber ich musste natürlich abwägen zwischen einem neugierigen Publikum, das noch gar nicht da war, das es nur in meiner Fantasie gab, und einem eher älteren und konservativen Publikum, auf das ich angewiesen bin, das aber vom Wandel wenig begeistert ist. Letztlich haben wir das letzte halbe Jahrhundert gepennt. Gerade in den USA, in denen das klassische Repertoire eingefroren war. Die Leute waren ja schon geschockt, als ich eine alte Franco-Zeffirelli-Produktion vom Spielplan nehme wollte … 

… weil die Leute die Oper lieber als Museum haben wollten?

Ja, aber darunter hat am Ende die Entwicklung der Oper massiv gelitten. Wir haben es ebenfalls verschlafen, neben dem Museum auch noch die Gegenwart zu bedienen. Ich glaube inzwischen, dass die Oper mehrere Geschmäcker bedienen muss. Ich will das Alte nicht radikal abschaffen, gleichzeitig aber schon Neues etablieren.
Was auffällt, ist, dass die Moderne an der MET ja auch nichts mit der Moderne zu tun hat, wie wir sie etwa in Deutschland kennen. Während Wolfgang Rihm oder andere Neutöner hierzulande recht verkopfte und sperrige Werke schreiben, haben Ihre Opern-Uraufführungen durchaus eingängige Melodien und behandeln aktuelle Themen … 

Es gab diese andere Art der Moderne auch bei uns in den USA. Hier waren es großartige Komponisten wie Elliott Carter oder Pierre Boulez. Sie haben geniale Stücke geschrieben, aber nur eine kleine intellektuelle Gruppe erreicht. Damit kommen wir an einem Haus wie der MET nicht weiter. Heute zeigt sich, dass diese verkopfte Entwicklung kontraproduktiv war: Die neue Oper wurde von vielen Menschen als elitär stigmatisiert. Und besonders das ältere Publikum hat seither Angst vor allem, was unter dem Etikett des Neuen daherkommt. 

Foto: Bryan Thomas

Also hat man alles beim Alten gelassen?

Ja, ich befürchte, viel zu lange war das so. Und die Angst vor Neuem ist auch ein Grund, warum eine nötige Verjüngung der Oper inzwischen wahnsinnig schwer geworden ist. Wir haben einfach den Anschluss an eine neue Generation verpasst. Anders als alle anderen Kunstformen im 21. Jahrhundert hat die Oper vergessen, sich mit dem Publikum zu bewegen, mit seiner Realität, seinen Interessen und Erwartungen. Das Kino oder die bildende Kunst haben sich immer wieder ganz selbstverständlich mit der Gegenwart auseinandergesetzt und dabei auch neue Strukturen entwickelt. Die klassische Musik hat hingegen viel zu oft auf das Bewährte von gestern gesetzt, ohne zu merken, dass heute auch andere Erwartungen existieren. 

Sie meinen, die Oper hat in den letzten Jahren den Bezug zur Realität und den Menschen verloren? 

Das ist offensichtlich! Ich würde es so formulieren: Es hat ein Abriss der Kontinuität stattgefunden. Dass Menschen im Alter von 30 oder 40 Jahren mit ihren Jobs und ihrer Familie beschäftigt sind, war schon immer so. Aber irgendwann hat ein Teil von ihnen den Weg in die Oper gefunden. Dieser Teil ist inzwischen kleiner geworden. Immer weniger Leute identifizieren sich mit unserem Angebot.

Woran liegt das?

Es gab eine Zeit lang genügend loyale Opern-Liebhaber, die sich für die Kunst eingesetzt haben, und bei denen man denken konnte: Alles wird irgendwie gut. Aber wir haben uns damit in einer falschen Sicherheit gewiegt. Wir haben übersehen, was seit langem begonnen hatte: Das Publikum ist überaltert, und ein nachwachsendes Publikum zeigte nur noch wenig Interesse an der alten Form der Oper. Wir haben uns einfach zu lange nicht bewegt. 

Können Sie das an Zahlen festmachen?

Als mein Vorgänger, der große Rudolf Bing, die MET von der 39. Straße zum heutigen Lincoln Center umgezogen hat, musste er sich entschuldigen, dass es keine Einzeltickets mehr gab, weil das ganze Haus mit Abonnements ausverkauft war! Damals gehörte es zum guten bürgerlichen Ton, in die Oper zu gehen. Dieses Selbstverständnis existiert leider nicht mehr. Wir müssen heute mit jeder Vorstellung wieder um jeden einzelnen Besucher ringen!

Viele Entwicklungen in den USA kommen früher oder später auch nach Europa. Bei uns bahnt sich derzeit ebenfalls eine Klassik-Krise an: Die ersten Häuser wurden fusioniert, Orchester geraten unter Druck und vielen Kulturunternehmen fällt es schwer, sich vor dem alten Publikum zu behaupten. Es kommt nicht selten vor, dass Aufführungen in Hannover, Halle und selbst an der Semperoper in Dresden nicht mehr voll sind. Was können Sie Ihren Kolleginnen und Kollegen in Europa raten? 

Ich werde niemandem irgendetwas raten, dazu habe ich selber noch zu viele Fragen. Aber wir reden ja miteinander, und ich sehe, dass man in Europa durchaus versteht, dass der Wandel auch Ihre Häuser erreichen wird. Wovor ich persönlich am meisten Angst habe, ist, dass sich die Staaten aus ihrer kulturellen Unterstützung zurückziehen. Wir sehen ja schon erste Anzeichen, vielleicht nicht in Deutschland, aber in anderen, oft populistisch regierten Ländern: Viele politische Führer besuchen die Oper hier schon gar nicht mehr, weil sie Angst haben, dass sie dann als elitär gelten. Für mich ist das ein Warnsignal, was die staatliche Unterstützung angeht! Jeder, der ein Theater leitet, hat die Verantwortung, den Menschen zu dienen – und dafür ist es eine Grundlage, dass man auch an die Menschen denkt – und nicht in erster Linie an die Kritiker oder die intellektuelle Elite …

… Sie sollten wirklich keine Rücksicht auf uns Kritiker nehmen! Wir sind viel zu wenige, und dann bekommen wir auch noch Freikarten! 

Im Ernst: Es gibt ja einen Grund, warum auch die Musikkritik verschwindet. Die Kunstform Oper war in den USA der 1970er und 1980er Jahre durchaus populär: Luciano Pavarotti oder Beverly Sills waren überall bekannt, traten in Talkshows auf, in Formaten, die nichts mit der Oper zu tun hatten. All das gibt es kaum noch. Inzwischen ist die Oper eine Nischenkultur geworden. Und wir müssen dynamisch daran arbeiten, ihr wieder gesellschaftliche Bedeutung zu geben.

Klingt gut, aber was bedeutet das konkret? 

Leute, die heute leben, müssen die Bedeutung der Oper für ihr Leben neu entdecken. Sie müssen merken, dass die Oper sich einmischt. Wir haben gesehen, dass ein Stück wie „Dead Man Walking“ durchaus viele Leute angesprochen hat. Die Oper handelt von der Todesstrafe – das bewegt die Leute in den USA. Die Wirkung auf das Publikum war mit Händen zu greifen. Und wir haben bewusst den Bogen in die Wirklichkeit geschlagen, indem das gesamte Ensemble zwei Tage nach der Aufführung in ein Hochsicherheitsgefängnis bei New York gegangen ist, wo tatsächlich Mörder auf ihre Todesstrafe warten. Wir haben die Oper da ebenfalls aufgeführt – unter Beteiligung einiger Häftlinge. Diese Aktion wurde in der Öffentlichkeit breit debattiert, die Leute sind neugierig geworden und wollten das Stück auch sehen. Das ist ein Beispiel dafür, wie Oper konkret Einfluss auf die Gesellschaft und ihre Diskurse nehmen kann.

Sie haben sich auch ziemlich schnell nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine als politisches Haus definiert. Sie haben persönlich energisch Position bezogen und Künstlerinnen wie Anna Netrebko von der Bühne verbannt. In Europa sehen wir noch immer, dass einige Ihrer Kolleginnen und Kollegen die Oper eher als apolitischen Raum bespielen wollen. Diese Menschen glauben daran, dass Kultur kein Spielball der Politik werden darf. Warum ist es für Sie so wichtig, sich als Institution mit moralischem Gewicht zu positionieren?

Ich glaube fest, dass wir eine moralische Verpflichtung haben – auf jeden Fall gegenüber den moralischen Grundwerten, die wir jeden Abend auf der Bühne hochhalten. Kunst hat die Kraft, einen positiven Einfluss auf eine zivilisierte Gesellschaft zu nehmen. Und grundsätzlich sind wir an der MET gegenüber Menschen offen, deren Weltsicht wir vielleicht nicht teilen. Wir haben zahlreiche Kooperationen, selbst unter schwierigen Umständen, in denen wir auf die verbindende Kraft der Kultur setzen. Wir haben ja auch bis einen Tag vor dem Einmarsch der Russen in Kiew noch mit dem Bolschoi in Moskau zusammengearbeitet. 

Diese Kooperationen haben zuweilen pragmatische Gründe: Unsere Mäzene kommen aus allen politischen Richtungen, und grundsätzlich heißen wir jeden willkommen, der unsere Kultur unterstützen will. Aber der Angriff Russlands auf die Ukraine, die Unmenschlichkeit des Krieges war für uns nicht mit unseren grundsätzlichen Werten zu vereinen. Für mich war die Frage von Richtig und Falsch so eindeutig klar, dass mir die Entscheidung leichtgefallen ist. Ja, sie erschien mir zwingend. Wir haben in diesem Fall übrigens auch sofort die direkte Unterstützung des Publikums gespürt. 

Peter Gelb / Foto: Szsara Krulwich

Gerade hat sich der große Förderkreis der MET, die pera-Guild aufgelöst, inklusive des Magazins Opera News. Woher soll das Geld in Zukunft kommen?

Das ist ein großes Problem, zumal wir ja auf erhebliche Gelder angewiesen sind. Und ich stelle fest, dass die richtig reichen Menschen, also die Milliardäre, sich der Kunst inzwischen nicht mehr so nahe sehen, wie wir uns das wünschen würden. Viele von ihnen sind zwar philanthropisch, aber sie kümmern sich heute eher um Krankheiten und Impfstoffe, um konkrete Entwicklungshilfe in Afrika oder um andere direkte Dinge, die das Leben der Menschen beeinflussen. All das sind gute Ziele, aber die Kunst spielt da eine immer kleinere Rolle. Dabei wäre ich bereit, weit zu gehen: Wir haben zum Beispiel auch noch niemanden, dessen Namen am Opernhaus steht.

Vielleicht auch, weil den Sponsoren – ebenso wie dem Publikum – die Relevanz der Kunstform Oper nicht mehr klar ist? Weil die Inszenierung der Bühne heute in der Wirklichkeit angekommen ist und die Dinge nicht mehr im Theater, sondern in sozialen Medien oder in einer Talkshow verhandelt werden? 

Das sind durchaus Punkte, die sich verschoben haben. Umso wichtiger erscheint es mir, den Ort des Theaters wieder als Ort der Sinnlichkeit zu definieren, als Ort der Menschen – der von Menschen für Menschen gedacht wird. Als Ort, an dem das Innehalten zu Hause ist, die Ästhetik und die Kunst als Möglichkeit der verbindenden Diskussion. Unsere Herausforderung besteht neuerdings darin, nicht nur ein neues Publikum zu finden, sondern auch neue Sponsoren. Der Weg ist der gleiche: Wir müssen den Menschen wieder wichtiger werden.
Als wir uns das letzte Mal getroffen haben, haben Sie mir erklärt, die Kinoübertragungen der MET seien die günstigste Werbung für das Haus: Jeder, der die MET im Kino sieht, will auch in die MET, wenn er in New York ist.

Aber auch hier bricht das Publikum weg …

Selbst große Filme gehen in den USA ja nicht mehr ins Kino, sondern gleich zu Netflix oder zu Disney+. Und wenn die Leute nicht mal für das Kino ins Kino gehen, wird es auch für die Oper im Kino schwer. Das ist ein echtes Problem, denn die Kinokrise ist global. Aber ich glaube daran, dass wir mit der inhaltlichen Neuausrichtung der MET auf dem richtigen Weg sind und unser neues Publikum finden werden.  

Das Gespräch führte Axel Brüggemann.

 

Die Dezember-Ausgabe von Cicero können Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen.

Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige