„Gott spricht Jiddisch“ - Widersprüche aus nächster Nähe

Tuvia Tenenbom hat mit „Gott spricht Jiddisch“ nicht nur eine Reportage über die Welt der ultraorthodoxen Juden geschrieben, sondern auch ein einsichtsvolles Buch über den Zustand des Westens.

Orthodoxe Juden beten an der Klagemauer / dpa
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Autoreninfo

Nico Hoppe arbeitet als freier Autor in Leipzig und schrieb bisher u.a. für die FAZ, die NZZ und die Jungle World. Auf Twitter ist er unter @nihops zu finden.

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„Tod den Zionisten“, „Zionisten – euer Ende ist nah“, „Zionisten sind Nazis“ – das sind nur einige der Graffiti, die der israelisch-amerikanische Schriftsteller Tuvia Tenenbom bei seinen Wanderungen durch das jüdisch-ultraorthodoxe Viertel Mea Scharim in Jerusalem zu sehen bekommt. Wie Tenenbom in seinem neuen Buch „Gott spricht Jiddisch“ schnell feststellen muss, ist es gerade dieser Antizionismus, der das Interesse westlicher Journalisten an den Ultraorthodoxen zu wecken weiß: „Sie lieben das, weil es ihnen zu einem heißbegehrten Bild verhilft: einem ,authentischen‘ Juden, der gegen den jüdischen Staat ist.“

Doch „Gott spricht Jiddisch“ ist nicht das, was man normalerweise von einem fast 600-seitigen Buch über ultraorthodoxe Juden erwarten würde: Weder ist es ein weiterer durchschaubarer Versuch, jüdische Kronzeugen für den Hass auf Israel zu finden, noch ist „Gott spricht Jiddisch“ eine der ebenso beliebten Schockreportagen, die im Suchen nach besonders bizarren und abwegigen religiösen Ansichten und Praktiken fortwährend um die eigenen voyeuristischen Bedürfnisse kreisen. 

Die Welt der Ultraorthodoxen

Tenenbom ist viel eher interessiert daran, wie die Welt der Ultraorthodoxen heute strukturiert ist, wie sie sich ihm präsentiert und was ihren Glauben auszeichnet. Dafür verbringt er ein Jahr in ihrer Gegenwart und gibt bewusst die Distanz auf, wenn er mit ihnen isst, trinkt, singt und feiert. Seinen bereits aus früheren Reiseberichten bekannten liebevoll-spöttischen Ton, den mit dem Absurden spielenden Humor sowie die Taktik, sein Gegenüber ausführlich zu Wort kommen zu lassen, bevor er mit gezielter Angriffslust erneut nachbohrt, behält er dennoch bei. Auf die Bitte eines Mannes, nette Dinge über sie zu schreiben, sagt Tenenbom nur: „Ich werde schreiben, was Sie mir sagen.“

 

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Es ist das erste Mal, dass Tenenbom sich für eines seiner Bücher in einen eher homogenen Kosmos begibt und sich auch örtlich in kleinerem Rahmen bewegt. Frühere Reportagen führten ihn beispielsweise nach Deutschland, die USA oder Großbritannien. Doch das ist nicht der einzige Unterschied: Da Tenenbom selbst aus einer ultraorthodoxen Familie stammt, ist es sein bisher persönlichstes Buch. 

So begeistert er dabei über die Gastfreundschaft und Herzlichkeit der Ultraorthodoxen schreibt, so irritiert ist er von der Gleichzeitigkeit von extremer Frömmigkeit und der Scheu vieler, sich über die Verehrung des örtlichen Rabbis hinaus mit ihrem eigenen Glauben auseinanderzusetzen. Mitunter trifft er gar auf religiöse Gelehrte, die seine Fragen nach der Herleitung besonders wahnwitziger Traditionen der Ultraorthodoxen nicht beantworten können. Als er einen Rabbi fragt, warum ein Mann eine Frau nicht anschauen dürfe, sagt dieser, dass das so geschrieben stehe. Tenenbom hakt nach: „Wo? Ups, da ist er sich nicht so sicher; er wird es nachprüfen und sich bei mir melden – hoffentlich noch vor der Ankunft des Messias.“

Eine große Provokationsfreude

Ähnlich frustrierende wie amüsante Situationen finden sich immer wieder über das ganze Buch hinweg. Allzwecktheorien über die Gründe für all das will Tenenbom allerdings nicht liefern. An einer Stelle stellt er beinahe resigniert fest: „Die Realität des Menschen ist selten die beste Freundin der Logik.“ Tenenbom beweist sich stattdessen wiederholt als aufmerksamer Beobachter, dem es gelingt, die Wirklichkeit in all ihren Widersprüchen einzufangen. 

In Zeiten, in denen Debatten am liebsten entlang eindimensionaler „Faktenchecks“ geführt werden, macht das „Gott spricht Jiddisch“ sicherlich zu keinem leicht bekömmlichen, dafür aber zu einem umso faszinierenderen Buch. Thematisch rahmt Tenenbom „Gott spricht Jiddisch“, indem er sich immer wieder mit dem Kontrast zwischen dem weltabgewandten Milieu der Ultraorthodoxen und dem Rest der vermeintlich liberalen Welt, „wo der Puritaner nunmehr als Progressiver gilt“, befasst. 

An den Rändern der Gesellschaft

Gerade in ihrer Provokationsfreude erweisen sich seine parallelisierenden Vergleiche als zielsicher. Denn dass der Reinheitswahn fundamentalistischer Gruppen sich wunderbar mit einer progressiven Weltanschauung verträgt, die von der Veränderung der materiellen Verhältnisse nichts mehr wissen will und sich stattdessen nach einem durchverwalteten und restriktiven Pluralismus sehnt, der jedem die beengte Freiheit bietet, seinen kulturell und identitär angestammten Platz einzunehmen, liegt auf der Hand. 

Tenenbom ist die Enttäuschung darüber, dass der Westen mit gutem Gewissen seiner eigenen Freiheiten zunehmend müde wird, dabei deutlich anzumerken: „Allmählich, Schritt für Schritt, ist eine neue Religion entstanden, die für Ideen und Ideale steht, wie man sie früher allenfalls an den Rändern der Gesellschaft gefunden hätte: sexuellen Puritanismus, Gendersensibilität, Klimaaktivismus, Veganismus, Cancel Culture, nichtbinäre Sprache, offene Grenzen, Palästina & Marihuana.“

„Gott spricht Jiddisch“ von Tuvia Tenenbom / Suhrkamp

Eine weitere Gemeinsamkeit von Ultraorthodoxen und Progressiven sticht ins Auge: die Unterstützung der Palästinenser, selbstverständlich verbunden mit der erbitterten Ablehnung Israels. Während die von Desinteresse, über als „Kontexttualisierung“ verbrämte Bagatellisierung bis zu offener Unterstützung reichenden Reaktionen der Linken auf den Terror gegen Israel keinen Zweifel daran lassen, dass eine ideologische Verwandtschaft zwischen weiten Teilen der progressiven Linken und judenhassenden Islamisten besteht, hilft „Gott spricht Jiddisch“ zu verstehen, wie irrational der Antizionismus der Ultraorthodoxen ist.

Antisemitismus und Antizionismus

Als Tenenbom mit einigen von ihnen im Bus durch arabische Viertel fährt, bewerfen Gruppen von Arabern sie mit Steinen und der Bus muss von der israelischen Polizei, die die Ultraorthodoxen als „Nazipolizei“ bezeichnen, beschützt werden. Was westliche Medien gern ignorieren, zeigt sich hier umso deutlicher: Der islamische Antisemitismus wendet sich praktisch und bedingungslos gegen alle Juden, unabhängig von ihrer Einstellung zu Israel. Das sollte man vor allem all jenen in Erinnerung rufen, die sogar nach dem 7. Oktober noch glauben, fein säuberlich zwischen Antisemitismus und Antizionismus trennen zu können.

Im späteren Verlauf des Buchs konfrontiert Tenenbom eine Gruppe charedischer Juden schließlich damit, wie Israel für sie trotz ihres Antizionismus eine Zuflucht darstellt: 

„Schauen Sie, sage ich zu ihnen: Sie sind nicht die einzigen Charedim auf der Welt. Es gibt Charedim in Manchester und London, in New York und Antwerpen und noch an vielen anderen Orten. Diese Charedim leiden unter Antisemitismus, wie ich ganz genau weiß, aber sie wehren sich kaum je gegen ihre Peiniger, sondern bleiben stumm wie die Fische. […] Dort haben sie Angst, den Mund aufzumachen, weil sie wissen, dass sie Gäste in einem Land sind, das anderen gehört. Sie hier haben keine Angst. Warum haben Sie keine Angst? Weil Sie hier das Gefühl haben, zuhause zu sein in Ihrem eigenen Land, als Schlossherr, inmitten anderer Juden, inmitten Ihrer Brüder. Sind Sie nicht, schauen Sie mir in die Augen, die größten Zionisten aller Zeiten?“

Ein beinahe versöhnliches Fazit

Dem eigentlichen Schlüsselthema von Tenenboms vergangenen Büchern, dem Antisemitismus in all seinen vulgären bis akademischen, linken bis rechten, islamischen bis postkolonialen Facetten entkommt er somit auch in „Gott spricht Jiddisch“ nie ganz. Wenn Tenenbom am Ende ein beinahe versöhnliches Fazit zieht, so geschieht das nicht nur aufgrund der Menschen, die er auf seiner Reise liebgewonnen hat, sondern ebenso aufgrund der Beständigkeit des weltweiten Antisemitismus, die den Hintergrund all seiner Reportagen bildet: „Ich fühle mich hier mehr zuhause, als ich es je in New York oder Berlin getan habe, und würde das auch nie bestreiten. Hier ist der einzige Ort auf Erden, wo niemand mich hasst, weil ich ein Jude bin.“
 

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