Gedenkkultur - Geschichte darf sich nicht kannibalisieren 

Der Bundestag muss verhindern, dass seine wohlmeinenden Beschlüsse zum Aufbau eines „Ortes des Erinnerns und der Begegnung mit Polen“ sowie eines „Dokumentationszentrums Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“ hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben. 

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Autoreninfo

Julien Reitzenstein befasst sich als Historiker in Forschung und Lehre mit NS-Verbrechen und Ideologiegeschichte. Als Autor betrachtet er aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen.

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Geschichtsvergessenheit ist ein Vorwurf, den viele Politiker fürchten. Denn viele politische Entscheidungen unserer Zeit beruhen auf Erfahrungen aus der Vergangenheit. Ein differenzierter Umgang mit ihnen bedarf aber eines Common Sense, wie Geschichte verstanden wird. Die Geschichte offenbart die Licht- und Schattenseiten der Vergangenheit. Deshalb sind Art, Umfang und Präsentationsweise von Gedenkkultur essentiell für heutige politische Prozesse. Dabei geht es nicht allein um Erinnern in Deutschland – sondern auch um internationale Beziehungen.

Die deutschen Beziehungen zu Polen sind seit einigen Jahren angespannt. Die Gründe sind vielschichtig, wurzeln jedoch häufig in historischen Ereignissen, darunter dem mörderischen deutschen Besatzungsregime in Polen zwischen 1939 und 1945, aber auch in nationalsozialistischen Verbrechen in jenen Teilen des Deutschen Reichs, die heute zu Polen gehören. Nach dem Krieg wurde der vormalige Kampf gegen die Besatzer, der Kampf gegen deutsche – und russische – Dominanz zu einem Teil polnischen Selbstverständnisses. Auf diesem Geschichtsverständnis beruhen auch heute viele politische Entscheidungen in Polen.

Es droht Ungemach

Diese aber führten in den vergangenen Jahren häufig zu Empörung in Deutschland. Die aber beruht vor allem auf Unwissen, denn empörend waren vor allem die deutschen Verbrechen und die Tatsache, dass diese heutzutage in Deutschland weitgehend in Vergessenheit geraten sind, was wiederum in Polen für Verbitterung sorgt.

Es wurde also Zeit, eine Lücke in der deutschen Gedenkkultur zu schließen. Denn die Bundesrepublik ist zwar reich an Gedenkstätten, Museen und historischen Forschungseinrichtungen. Allerdings wirkt das bisherige Auslassen der Gräuel des deutschen Besatzungsregimes mit Millionen Opfern in Osteuropa jenseits der Schoa mit den Jahren immer fragwürdiger, ebenso wie das Nichtverhältnis der offiziellen Bundesrepublik zu den deutschen Verbrechen in Polen. Daher hat der Bundestag 2020 die Gründung zweier neuer Einrichtungen in Berlin beschlossen: einen „Ort des Erinnerns und der Begegnung mit Polen“ sowie ein Dokumentationszentrum „Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“, die beide in der Hauptstadt entstehen sollen.
 

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Deren geplante Gestaltung ist nun in Entwürfen nachzulesen. Um den „Polen-Ort“ hat sich das Auswärtige Amt, vom dem maßgeblich die Initiative dazu ausging, gemeinsam mit dem Deutschen Polen-Institut in Darmstadt gekümmert. Zum Gesamtkomplex Besatzung präsentiert das „nationale Geschichtsmuseum“ der Bundesrepublik, das Deutsche Historische Museum in Berlin, das Konzept. Die Ausgestaltung der neuen Einrichtungen soll nach der Sommerpause nach diesen Entwürfen beschlossen werden. Werden sie aber in der vorliegenden Form umgesetzt, droht Ungemach.

Das geplante Besatzungsmuseum erstaunt

Seit Raphael Gross vor fünf Jahren die Leitung des Deutschen Historischen Museums übernommen hat, gewann es erheblich an Profil – nicht zuletzt, weil Gross eben nicht „nur“ Museumsmann ist, sondern vor allem renommierter Historiker. Zuletzt erregten Ausstellungen wie jene zu den „Gottbegnadeten“, den vom NS-Regime besonders geschätzten Künstlern und deren Nachkriegskarrieren, positives Echo.

Insofern erstaunt der Vorschlag der zuständigen Mitarbeiter des Deutschen Historischen Museums zum geplanten Besatzungsmuseum – doch keineswegs nur im positiven Sinne. Die Dimension der vorgeschlagenen 15.000 Quadratmeter Fläche, von denen ein gutes Viertel Ausstellungsfläche sein soll, sendet zwar ein Signal in Richtung Osteuropa, das den Intentionen des Bundestages entspricht. Gleiches gilt für die geschätzten 134 Millionen Euro Errichtungskosten.

Die vorgeschlagenen neun Schwerpunkte der neuen Einrichtung verhindern allerdings eine harmonische Einfügung des Besatzungsmuseums in die Gedenkkulturlandschaft. Denn für fünf dieser Schwerpunkte, gibt es bereits jeweils einen etablierten Ort.

Engagement darf nicht kannibalisiert werden

Die Morde an (psychisch) Kranken sind Gegenstand des von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden betreuten „Euthanasie“-Informationsorts in der Tiergartenstraße. Zudem gibt es an den Tatorten, beispielsweise den Tötungsstätten Pirna-Sonnenstein und Hadamar, von renommierten Historikern betreute Dokumentationszentren. Die Topographie des Terrors setzt sich insbesondere mit den Verbrechen der SS in Deutschland und dem besetzten Europa auseinander. In Berlin-Oberschöneweide gibt es das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit – zum überwiegenden Teil waren Osteuropäer zur Zwangsarbeit verschleppt worden. Die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden betreibt nicht nur einen eigenen Gedenkort, sondern bietet auch Bildungsveranstaltungen mit Bezug zum nahe gelegenen Gedenkort für die ermordeten Sinti und Roma an. Und schließlich gibt es mit der Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz einen ebenso authentischen wie berührenden Tatort, an dem Besucher weit über die Wannseekonferenz hinaus mit der Geschichte des Antisemitismus und der Schoa konfrontiert werden.

Die meisten dieser Gedenkstätten und Museen sind aus zivilgesellschaftlichem Engagement entsprungen. Der Wert der von Bürgern ehrenamtlich aufgewandten Lebenszeit ist kaum zu ermessen, von den vielen Spenden aus der Gesellschaft ganz abgesehen. Dieses Engagement darf nicht in den Schatten gestellt oder gar kannibalisiert werden. Dass diese Gefahr real ist, zeigt das Konzept des Deutschen Historischen Museums, in dem eine Kooperation mit diesen Einrichtungen keinen Raum hat. Das gilt bemerkenswerterweise auch für die zahlreichen bereits bestehende Museen in Ost- und Westeuropa, die sich mit dem deutschen Angriffskrieg und dem Besatzungsregime auseinandersetzen. Gewiss, dort wird manches anders verstanden und vermittelt als in deutschen Einrichtungen. Aber gerade darin läge ja die Chance eines Kooperationsnetzwerks – und zwar weit über die geschichtswissenschaftliche Dimension hinaus auf dem Feld der Völkerverständigung. Sollten sich die neuen Einrichtungen diese Chance entgehen lassen?

Die Schwerpunktsetzung verdrängt Wichtiges

Stattdessen soll den bestehenden Einrichtungen im In- und Ausland augenscheinlich Konkurrenz gemacht werden – nicht, indem deren Themen in die geplante Ausstellung integriert kontextualisiert werden. Sondern vielmehr, weil sie mit Schwerpunktsetzung des nationalen Geschichtsmuseums der Bundesrepublik aus dem Aufmerksamkeitsfokus des Publikums gedrängt zu werden drohen.

Dabei gibt es zahlreiche andere Themen, die als Schwerpunkte bisherige Lücken in der Gedenkstättenlandschaft füllen würden. Neben der intendierten Dokumentation der Besatzungsgräuel sind die deutschen Angriffs- und Vernichtungskriege ein in diesen Tagen hochpolitisches Thema. Gerade in einer Einrichtung, die den Krieg im Namen führt – wie das „Dokumentationszentrums Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“ –, sollte dafür breiter Raum bereitstehen. Das bisherige Konzept zeigt, dass dieses Thema gleichwohl nicht im Mittelpunkt stehen soll.

Aufarbeitung muss im Netzwerk erfolgen

Betrachtet man das Agieren linker Milieus seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, drängt sich der Eindruck eines linken, vielleicht auch schon kollektiven Nichtverhältnisses zu militärischer Macht und deren Notwendigkeit auf. Trotz aller Lippenbekenntnisse hält eine Mehrheit alles Militärische für ungehörig und sieht die eigene militärische Schwäche als Tugend. Diese Haltung gipfelte am 20. Juli dieses Jahres in der geschichtsvergessenen Rede der Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) beim Gelöbnis der Bundeswehrrekruten im Bendlerblock – ausgerechnet am zentralen Ort des Umsturzversuchs der Widerständler um Claus Schenk Graf von Stauffenberg 78 Jahre zuvor. Gerade aus diesem Grunde ist eine geschichtsdidaktisch solide Auseinandersetzung mit den deutschen Angriffskriegen und Kriegsverbrechen in der neuen Einrichtung essentiell.

Denn nur, wer sich mit den unangenehmen Teilen der Geschichte ehrlich auseinandersetzt, vermag heutige Sachverhalte angemessen einzuordnen. Dazu gehört nicht nur die Schaffung eines Grundverständnisses dafür, dass die heutige Parlamentsarmee das Image einer „Einrichtung mit Vernichtungskriegshintergrund“ verlieren muss und Soldaten nicht mehr unter Generalverdacht gestellt werden. Sondern auch, dass eine ehrliche Aufarbeitung der Vergangenheit nur gelingen kann, wenn sie innerhalb eines Netzwerks bestehender Gedenk- und Dokumentationsorte im In- und Ausland erfolgt. Nur so kann sie dazu beitragen, dass Deutschland sein Image als ewiger Schulmeister reduziert – vor allem in Osteuropa, wo deutsche Schulmeisterei Millionen Opfer gefordert hat.

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