„Ernstfall“ von Stephan Lamby - Die Welt ist kompliziert

Die Dokumentation „Ernstfall“ von Stephan Lamby erzählt chronologisch die ersten zwei gemeinsamen Regierungsjahre von SPD, Grünen und FDP. Atmosphärisch gut gemacht, geht die wichtigste Komponente leider unter: berechtigte Kritik großer Teile der Bevölkerung an der Ampel.

Szene aus „Ernstfall – Regieren am Limit“ / ARD, Screenshot
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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„Es war einmal eine Regierung mit guten Vorsätzen, doch dann kam alles ganz anders.“ Mit dieser Einsicht beginnt die ARD-Dokumentation „Ernstfall – Regieren am Limit“ von Stephan Lamby. Der Filmemacher hat die Ampelregierung über einen Zeitraum von zwei Jahren begleitet und erzählt chronologisch von guten Vorsätzen und harten Realitäten, mit denen sich die derzeitige Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP seit geraumer Zeit konfrontiert sieht. 

Es ist eine gut gemachte Dokumentation, weil Bilder und Zitate weitgehend für sich sprechen; mit starker Atmosphäre. Es ist aber auch eine Dokumentation, in der versäumt wird, die vielen Kritikpunkte – die es richtigerweise an der Arbeit der Ampel aus der deutschen Bevölkerung gibt – ausreichend zu berücksichtigen, vor allem inhaltlich. Stattdessen: eine schier endlos wirkende Aneinanderreihung von Zitaten von Robert Habeck, Christian Lindner, Annalena Baerbock und weiteren Protagonisten, die den Zuschauer am Ende ein bisschen ratlos zurücklassen. Denn eingeordnet wird kaum etwas. Vieles wird behauptet, wenigem wird widersprochen. 

Ein bisschen Selbstkritik

Eindrückliches Beispiel ist ein wiederkehrendes Intermezzo der Letzten Generation, die nach wenigen Minuten bereits behaupten darf, sie sei deshalb die „Letzte Generation“, weil sie die letzte Generation sei, die die „Klimaapokalypse“ noch aufhalten könne. „Es gibt eben kein Leben im Richtigen, sondern nur ein Leben im relativ Besseren“, sagt Robert Habeck dann im Anschluss und wirbt damit dafür, dass sein politischer Ansatz der richtige sei, um die Klimakrise zu bekämpfen. 

 

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Ein bisschen Selbstkritik kommt auch vor, zum Beispiel von Christian Lindner, der sagt, man habe „aus guten Motiven“ viele Fehler gemacht. Man habe etwa Entlastungsmaßnahmen wie die Energiepreispauschale beschlossen, die bei den Menschen nicht angekommen seien. Auch von Annalena Baerbock. Die Außenministerin antwortet auf die Frage, ob sie etwas bereue in ihrer bisherigen Amtszeit, dass sie frühzeitiger hätte mit mehreren Leuten in die Ukraine fahren sollen. Und Habeck stellt irgendwann immerhin fest, dass bisher nicht der Eindruck entstanden sei, die Ampel würde mit einer Stimme sprechen – um dann zu schließen mit: „Aber ist jetzt auch egal.“ 

Weder der umstrittene Ausstieg aus der Atomenergie noch der Fall Graichen noch das Selbstbestimmungsgesetz als erster Schritt in ein postfaktisches Geschlechtersystem werden ausreichend beleuchtet; teils nur kurz thematisiert, teils gar nicht. Und obwohl der Ukraine-Krieg ein ganz zentrales Thema der Dokumentation ist, kommt niemand zu Wort, der den bisherigen politischen Umgang mit dem russischen Angriff auf die Ukraine infrage stellen würde (abgesehen von einem kurzen Einspieler einer Wagenknecht-Rede). Keine Diskussion darüber etwa, ob immer mehr Waffenlieferungen schon eine Strategie sind und wohin dieses Immer-mehr eigentlich führen soll. Kein Wort über deutsche Interessen in dem Zusammenhang. 

In Zeiten des multiplen Ernstfalls

Man kann sich diese Dokumentation besten Gewissens ansehen, weil sie Atmosphäre hat, weil sie menschelt und in rund 75 Minuten zusammenfasst, was die vergangenen zwei Jahre los war. Wer allerdings eine kritische Betrachtung der Arbeit der Bundesregierung erwartet, eine umfangreiche kritische Einordnung, einen Film, in dem der Finger in die Wunde gelegt wird, wird zwangsläufig enttäuscht. Mal abgesehen von Fragen wie: Hätte man früher Waffen an die Ukraine liefern müssen? 

In schwierigen Zeiten wie diesen, in Zeiten des multiplen Ernstfalls, darf daher auch die Frage gestattet sein, ob dieser Film überhaupt mehr bietet als 75 Minuten solide Unterhaltung, die umso besser wird, je mehr politisches Hintergrundwissen man hat. Denn einen echten Beitrag zur Diskussion über Sinn und Unsinn der Politik der Ampelregierung liefert er nicht. Dabei ist ein Großteil der Menschen im Land unzufrieden mit der Arbeit von SPD, Grüne und FDP. Und das hat nicht nur damit zu tun, dass die Welt eben kompliziert ist. Auch, wenn „Ernstfall – Regieren am Limit“ über weite Strecken einen anderen Eindruck vermittelt. 

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