Erinnerungskultur - Keimfreie Geschichte

Ein destruktiver Umgang mit unserer Geschichte und der Erinnerung an selbige greift immer stärker und radikaler um sich. Doch Umbenennen, Abhängen und Verstecken ist nicht Erinnern und Aufarbeiten, es ist Tilgen und Zerstören.

Nebelschwaden im Tölzer Land (Bayern) / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Die Vergangenheit ist ein Kompass, der uns hilft, in der Gegenwart kluge Entscheidungen zu treffen für eine lebenswerte Zukunft. Doch in einer Welt, die stetig im Wandel ist, können wir die Bedeutung der Vergangenheit manchmal aus den Augen verlieren.

Dabei liegt dort die Magie – in unserer Geschichte, der guten wie der schlechten. Sie hat uns geformt als Mensch, als Gesellschaft, als Nation. Sie beschreibt, woher wir kommen. Sie schenkt uns Ideen, wohin wir gehen können – und sie warnt, und idealerweise schützt sie uns auch vor Fehlern, die andere Generationen vor unserer bereits gemacht haben.

Die Geschichte unseres Landes, mit all ihren negativen wie positiven Facetten, ist so bunt wie die Häuserfassaden in Waldram bunt respektive in unterschiedlichen Farben gestrichen sind. Der Wolfratshauser Stadtteil, nahe München, wurde 1939 als Lagersiedlung für Zwangsarbeiter errichtet, später war er Wohnort für bis zu 5000 Juden, danach für viele Heimatvertriebene. Heute ist Waldram eine schöne Wohnsiedlung für alle – und das alte Badehaus ein Museum, das die Geschichte des Stadtteils auf eine angemessene und konstruktive Weise erzählt.

Die Tragik unserer Zeit

Denn Geschichte ist auch Erinnerung. Manchmal erinnern wir gemeinsam. Wir erinnern, während wir von früher lesen oder erzählen. Wir erinnern, wenn wir alte Lieder hören. Wir erinnern, wenn wir Museen besuchen. Wir erinnern, wenn wir Denkmäler und Mahnmale sehen oder durch Straßen flanieren, die schon so hießen, als wir noch – wie mein Großvater zu sagen pflegte – in „Abrahams Wurstkessel“ waren, also noch nicht geboren. Die Mohrenstraße lässt grüßen. 

 

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Die Tragik unserer Zeit liegt hierbei nun darin, dass ein destruktiver Umgang mit unserer Geschichte und der Erinnerung an selbige immer stärker und radikaler um sich greift. Ein Furor aus den Fugen, veranstaltet von Ideologiebetrunkenen. Alte Straßennamen werden geändert, weil sie rassistisch sein sollen. Bücher werden teilweise umgeschrieben oder ganz aus den Bibliotheken verbannt, weil sie diskriminierende Wörter oder Erzählungen enthalten sollen. Gemälde werden abgehängt, Gedichte zum Zankapfel, Künstler zur Persona non grata erklärt, Statuen abgerissen. Das große Reinemachen. 

Doch wenn Geschichte der Kompass ist, der uns helfen soll, manches in Zukunft besser zu machen, begeben wir uns damit auf einen Irrweg: Umbenennen, Abhängen und Verstecken ist nicht Erinnern und Aufarbeiten, es ist Tilgen und Zerstören. Wer Kunst und Kultur und damit auch die Geschichte keimfrei macht, verhindert auch die Ausbildung demokratischer Abwehrkräfte. Wenn wir Geschichte umbenennen, abhängen und verstecken, geht sie verloren; dann gehen wir verloren, weil sie nicht mehr als Kompass dienen kann. In den Worten des spanischen Philosophen George Santayana: „Diejenigen, die sich nicht an die Vergangenheit erinnern, sind dazu verurteilt, sie zu wiederholen.“

Eine seriöse Erinnerungskultur

Klüger wäre deshalb, Geschichte zu kontextualisieren. Statt, sagen wir, eine Mohrenstraße umzubenennen, können wir das Straßenschild mit einer Erläuterungstafel versehen. Was die Mohrenstraße betrifft, würde dort übrigens stehen, dass der früher gängige Begriff „Mohr“ in Zusammenhang mit der Namensgebung der Straße nie subjektiv-wertend war, sondern objektiv-beschreibend; als Begriff für Menschen mit dunkler Hautfarbe. 

Auch das muss eine seriöse Erinnerungskultur leisten: sich mit historischen Fakten auseinandersetzen, nicht nur mit gegenwärtigen Assoziationen und vermeintlichen Wort- oder Werteverständnissen. Nur so gelingt ein konstruktives Erinnern. In der Nähe von München und anderswo auf der Welt.  

Dieser Text erscheint in leicht abgeänderter Form auch im bayerischen Heimatmagazin Mei Dahoam.

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