Diskussionen um Katar - Was (auch) zählt, ist aufm Platz

Die WM in Katar wird überschattet von Diskussionen, die mit Fußball nichts zu tun haben. Die Kritik an Katar, am DFB und an der Fifa ist richtig und wichtig, kommt aber zunehmend redundant daher. Zeit, den Sport wieder stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Die unglückliche Niederlage der deutschen Nationalmannschaft gibt dafür Anlass genug.

Mit erst 19 Jahren ist Jamal Musiala der jüngste Spieler im DFB-Team / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

So erreichen Sie Ben Krischke:

Anzeige

Weil die derzeitige Fußballweltmeisterschaft durch einen korrupten Vergabeprozess in einem Wüstenstaat ausgetragen wird, in dem Homosexualität als „brain damage“ und haram gilt, ist Rewe seit Dienstag eine „Lovebrand“, da die Supermarktkette die „Zeichen der Zeit“ erkannt haben soll. So liest sich jedenfalls die Reaktion einer Redakteurin des Fachmagazins Werben & Verkaufen (W&V) – ein B2B-Magazin, das sich primär mit Marketing-Themen an die Marketing-Branche richtet – und mit diesem Lob die Entscheidung der Supermarktkette begrüßt, ab sofort nicht mehr mit dem DFB-Team zu kooperieren.

Stein des Anstoßes war die Entscheidung der Fifa, dass unter anderem Nationaltorwart Manuel Neuer bei dieser WM nicht mit dem Marketing-Stöffchen „One-Love“-Binde auflaufen darf, und die anschließende Reaktion des DFB, der diese Entscheidung akzeptierte, um nicht sanktioniert zu werden. Ein klassisches Dilemma, das schon ab dem Moment absehbar war, als noch vollmundig angekündigt wurde, man werde zwar zur umstrittenen WM nach Katar reisen, schließlich gehe es um den Fußball, aber vor Ort auch ein Zeichen für Vielfalt und Toleranz setzen, schließlich gehe es auch um Menschenrechte. 

Das jüngst große Wellen schlagende Verbot dieser „One Love“-Binde ist eigentlich eine gute Nachricht. Nicht, weil an dieser Stelle Partei ergriffen werden soll für den inakzeptablen Umgang eines Wüstenstaates mit Menschen, die zufällig Menschen des gleichen Geschlechts lieben. Sondern weil diese „One Love“-Binde von Anfang an nur der faule Versuch war, sich durch symbolischen Firlefanz aus der moralischen Verantwortung zu stehlen, die auch der Deutsche Fußballverband für die WM in Katar trägt. Denn die ist nur die logische Konsequenz einer schamlosen Kommerzialisierung und Internationalisierung des Fußballs, die nicht erst mit der WM-Vergabe nach Katar und dem Bau der Stadien im Emirat begonnen hat. Hier lesen Sie mehr dazu.  

Keine halbwegs normalen Fußballzeiten

In halbwegs normalen Fußballzeiten hätten wir vor dem Anpfiff des Spiels Deutschland gegen Japan über eine ganz andere Nachricht diskutiert. Nämlich darüber, dass die argentinische Nationalmannschaft ihr Auftaktspiel gegen Saudi-Arabien mit 1:2 verloren hat, weshalb es nun eher schlecht bestellt ist um den Wunsch des argentinischen Weltstars Lionel Messi, bei seiner letzten WM als Spieler noch Weltmeister zu werden. Oder über die voraussichtliche erste Elf, die Bundestrainer Hansi Flick auf den Rasen schicken wird. Oder darüber, dass gleich sieben Spieler des japanischen Nationalkaders in der ersten Fußballbundesliga kicken und ein weiterer in der zweiten Liga; darunter Daichi Kamada, einer der Topstars des Bundesligisten Eintracht Frankfurt. 

Doch es sind eben keine halbwegs normalen Fußballzeiten. Und zweifellos ist die Kritik an der WM in Katar, am DFB und an der Fifa richtig und wichtig. Schon deshalb, um den Verantwortlichen zu signalisieren, dass sie mit dieser Fußballweltmeisterschaft in Katar schon wieder eine Grenze überschritten haben, die sie nicht hätten überschreiten sollen. Das Problem ist nicht die Kritik, das Problem ist die Redundanz, mit der sie seit Monaten und insbesondere seit Beginn der WM nun Tag für Tag vorgetragen wird. Gerade so, als hätte nicht auch der letzte Hinterwäldler längst verstanden, dass Katar als Austragungsort eines bunten, internationalen Fußballfestes in etwa so geeignet ist wie eine salafistische Moschee für ein Weißwurstfrühstück. 

Ist gut jetzt, möchte man rufen

Es lohnt sich daher, auch die Kritik am Turnier kritisch zu betrachten. Frage: Was genau soll das eigentlich bringen, wenn nun alternativ die BBC-Moderatorin Alex Scott eine „One-Love“-Binde trägt und die Deutsche Claudia Neumann die Partie USA gegen Wales in einem Regenbogenshirt kommentiert? Es ist, seien wir ehrlich, doch nur erneut die alte Leier vom „Zeichen setzen“, die rund um die WM in Katar immer mehr zum Selbstzweck zu verkommen scheint.
 

Lesen Sie mehr zum Thema:


Denn die katarische Gesellschaft wird wegen Neumanns Regenbogenshirt nicht toleranter. Mehr noch kann man sogar der begründeten Annahme sein, dass solche Aktionen eher kontraproduktiv sind. Denn die Kataris dürften derlei zuvorderst als Provokation werten, inszeniert von Leuten, die aus einem Kulturkreis kommen, der ihre Welt weder versteht noch respektiert. Deshalb wurde ja irgendwann einmal die Diplomatie erfunden: um sich anzunähern, nicht anderen Ländern zu sagen, was sie zu tun haben, weil das eben selten gut ankommt. 

Zum Thema Katar und dem Emirat als Austragungsort dieser WM ist letztlich alles gesagt, geschrieben, gefilmt. Und weil das so ist, wäre es vielleicht an der Zeit, den Fußball wieder stärker in den Fokus der Berichterstattung zu rücken, damit fundierte Kritik an Katar, am DFB und an der Fifa nicht überschattet wird von empörten Dauerdebatten über mittlerweile Nebenschauplätze, die maximal ein Symptömchen von etwas sind. Ist gut jetzt, möchte man rufen, alle haben verstanden. Und der Rest ist Sache der Diplomatie, die, das darf man nicht unterschätzen, im Rahmen solcher Weltturniere immer besonders eifrig praktiziert wird. Allerdings nicht auf den Titelseiten der Boulevardblätter, sondern hinter geschlossenen Türen. 

„Der Irrsinn geht immer weiter“

Mittwoch, 23. November 2022, 12.54 Uhr: Die Startaufstellung der deutschen Nationalmannschaft gegen Japan ist mittlerweile öffentlich. Weil sich Leroy Sané verletzt hat, beginnt Fußballwunderkind Jamal Musiala vom FC Bayern München. Es spielen Neuer im Tor, in der Abwehr Süle, Rüdiger, Schlotterbeck und Raum, im zentralen Mittelfeld bilden Kimmich und Gündogen (durchaus eine Überraschung) die Doppelsechs und davor sollen Gnabry, Müller, Musiala und Havertz für Torgefahr sorgen. Unter anderem der zurückgekehrte WM-Held Mario Götze von Eintracht Frankfurt und Leon Goretzka vom FC Bayern München sitzen erstmal auf der Bank. 

13.23 Uhr: In der ARD wird nach wie vor über die „One Love“-Binde diskutiert. Die Viererrunde ist sich freilich einig, dass das Verbot dieser Binde ein Armutszeugnis sei. Vor allem der Ex-Nationalspieler und ARD-Experte Thomas Hitzlsperger, der sich vor Jahren öffentlich geoutet hat, ist mehr als angefressen. Kurz darauf eine Schalte zum Spielfeld. „Der Irrsinn geht immer weiter“, läutet Feldreporterin Esther Sedlaczek ihr Interview mit Bundestrainer Hansi Flick ein. ARD-Experte Bastian Schweinsteiger steht daneben und lauscht. 

„Wichtig ist, dass wir uns auf den Fußball konzentrieren“, sagt Flick. Schweinsteiger spricht kurz darauf von einer „katastrophalen Machtdemonstration“ der Fifa. Dann geht es endlich um den Sport und darum, dass Flick hofft, man könne auf dem Spielfeld umsetzen, was man sich vorgenommen hat. Man wolle flexibel agieren, sagt Flick, mit Thomas Müller auf der 10. „Bin gespannt, wie sie es heute umsetzen“, so der Nationaltrainer. Noch 27 Minuten bis Anpfiff. 

Stiller Protest gegen die Fifa-Entscheidung

Gut 10.000 deutsche Fußballfans sind ins Khalifa International Stadion in ar-Rayyan, westlich von Doha, gekommen. Manuel Neuer trägt eine gewöhnliche Spielführerbinde. Kurz vor Anpfiff halten sich die deutschen Spieler beim Mannschaftsfoto den Mund zu, als Zeichen des Protests gegen die jüngste Fifa-Entscheidung. Dann rollt der Ball. Die DFB-Elf scheint hochmotiviert und beginnt druckvoll, leistet sich allerdings zu viele Fehler im Spielaufbau. Nach einem Ballverlust durch Gündogan im Mittelfeld, zappelt die Kugel plötzlich im Netz hinter Manuel Neuer. Doch der Schiedsrichter entscheidet zu Recht auf Abseits gegen Japan. 

Es dauert bis zur 32. Minute, bis sich die immer wieder auf den japanischen Strafraum zurollende Angriffswelle auszahlt. Deutschland darf das erste Mal jubeln. Japans Torwart heißt Daniel Schmidt und bringt Raum im Sechzehner gleich zweimal zu Fall, nachdem der eine weite Flanke gekonnt angenommen hat. Den anschließenden Elfmeter hämmert Gündogan nicht schön, aber effizient in die Mitte. Führungstreffer für Deutschland. 

Kurz vor der Pause schiebt Havertz nach einer Hereingabe von Gnabry erneut ein. Dieses Mal steht allerdings der deutsche Stürmer klar im Abseits. Es folgt die bisher beste Chance der Japaner, doch der von Maeda in der Drehung geköpfte Ball nach einer Flanke verfehlt das deutsche Tor doch klar. Mit einer verdienten 1:0-Führung für Deutschland gehen die Mannschaften in die Pause. Bis hierhin scheint der Plan des Nationaltrainers aufgegangen zu sein. Allerdings muss das DFB-Team, das wird deutlich, aufpassen, dass es in der zweiten Hälfte nicht in allzu viele Konter der Japaner rennt. 

Japan lauert auf schnelle Konter

Die zweiten 45 Minuten beginnen, wie die erste Hälfte geendet hat. Viel Druck durch die deutsche Nationalmannschaft sehen die Zuschauer, während Japan primär verteidigt und auf schnelle Gegenstöße lauert. Weil sich die Japaner bei Rückstand aber nicht nur hinten reinstellen können, ist ihr Spiel jetzt etwas offensiver angelegt. Dafür hat Trainer Hajime Moriyasu das System umgestellt. Die Japaner stören nun etwas früher als in der ersten Hälfte, wirken wacher. Das schafft allerdings auch mehr Räume für die DFB-Elf.

In der 47. Minute folgt direkt die nächste gute Chance für Deutschland, doch Gnabry haut den Ball von halbrechts knapp über die Latte. Nur vier Minuten später setzt sich Musiala im Strafraum gekonnt gegen vier Gegenspieler durch. Aber auch er trifft das Tor nicht. In der Folge scheint das Spiel noch etwas schneller zu werden, als es in der ersten Halbzeit ohnehin schon war. Deutschland drängt auf den zweiten Treffer, die Japaner wollen unbedingt ausgleichen. In der 60. Minute fast das 2:0 für Deutschland, doch Gündogan trifft aus kurzer Distanz nur den Außenpfosten. Im Gegenzug schießt Takuma Asano den Ball am deutschen Tor vorbei. 

Es folgt die stärkste Phase der Japaner. Während Manuel Neuer die deutsche Elf mit einer Glanzparade in der 72. Minute noch in Führung hält, fällt vier Minuten später der zu dem Zeitpunkt nicht unverdiente Ausgleich. Eine Hereingabe von der linken Seite wischt Neuer noch weg, doch im Nachschuss trifft der eingewechselte Ritsu Dōan, der beim Bundesligisten SC Freiburg unter Vertrag steht.

Elf Minuten später die nächste schlechte Nachricht aus deutscher Sicht: Der ebenfalls eingewechselte Takumo Asano (VfL Bochum) läuft nach einem langen Ball in Richtung deutsches Tor. Schlotterbeck rennt nur nebenher, stört halbherzig, und Asano haut den Ball Vollspann aus kürzester Distanz an Neuers Schulter vorbei ins kurze Eck. Es ist der Siegtreffer für Japan im Stadion in ar-Rayyan. Die „blauen Samurai“ holen gegen den Weltmeister von 2014 ihre ersten drei Punkte in diesem Turnier. 

Den Gegner fast eingeladen

Es ist eine unglückliche deutsche Niederlage im Auftaktspiel, die Kommentator Tom Bartels richtig auf den Punkt bringt: „Vorne die Tore nicht gemacht und hinten den Gegner fast eingeladen“, lautet seine Kurzzusammenfassung dieses Spiels. Darüber wird zu reden sein: über mehr Flexibilität, mit der Deutschland auf die Systemumstellung der Japaner hätte reagieren müssen. Über die Abwehrfehler von vor allem Rüdiger und Schlotterbeck. Und über die miserable Torausbeute der DFB-Elf. Denn der geneigte Fußballfan weiß: Wer seine Chancen nicht verwandelt, bekommt früher oder später den Gegentreffer. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute lautet: Es wird viel über Fußball zu reden sein. Den Sport, nicht das Drumherum. 

Anzeige