Titelthema: Alice Munro - Die Pionierin

Nachrichten aus der Provinz? Frauenliteratur? Mit ihrem Lebenswerk hat die kanadische Erzählerin Alice Munro der short story eine neue Sicht, eine neue Sprache gegeben. Das sollte endlich den Literaturnobelpreis wert sein

Was tut die Heldin im neuen, gerade auf dem Film­festival in Cannes präsentierten Film «La piel que habito» von Pedro Almodóvar? Den futuristischen Experimenten eines Schönheits-Chirurgen ausgesetzt, liegt sie in einem verschlossenen Zimmer und liest: ein Buch von Alice Munro. Geschichten darüber also, was in menschlichen Beziehungen vor sich geht und möglich ist, angesiedelt in zumeist entlegenen Räumen der kanadischen Provinz und dennoch, wie es scheint, immer ganz in unserer Nähe – es geht um die Verhältnisse unter Menschen der Gegenwart. In der Filmszene verbindet sich die Lektüre mit dem Zukunfts-Entwurf einer grundlegend neu definierten Männer-und-Frauen-Welt, in der den Menschen eine undurchdringliche, unverletz­bare Haut wachsen soll – und damit so ziemlich das Gegenteil dessen, was Männer, Frauen und Kinder bei Alice Munro auszeich­net. Der Konflikt, um den der Film kreist, ist so allein im Bild der Lesenden schon angezeigt: Wie berührbar heutige Menschen sind, davon erzählen Munros Geschichten; was aber kann aus diesen Eigenschaften in einer Zu­kunft werden, die alles realisiert, was der Menschenverstand sich nur ausdenken kann? Was werden Wunschphantasien im Verein mit technischen Möglichkeiten künftig aus dem homo sapiens, der angeblich vernunftgeleiteten Spezies, machen?

Alice Munro ist eine insistente Beobachterin, Konzentration und durchdringender Blick sind ihre Arbeitsgrundlage. Ihr Augenmerk gilt dem Versuch Ein­zelner, Grenzen zu überschreiten: im Guten – wenn dies dem Individuum zu mehr Freiheiten, neuen Möglichkeiten, Bewegungsräumen verhilft – wie im Bösen, wenn die Grenzen Anderer überschritten, diese ihrer Entfaltungsmöglichkeiten beraubt werden. Freiheit und Freiheitsberaubung in allen erdenklichen, nicht zuletzt sexuellen Varianten sind das eigentliche Thema dieses Erzählwerks, das mit ersten ernsthaften literarischen Proben in den frühen fünfziger Jahren seinen Ausgang nahm, in einer Zeit also, in der keineswegs nur im ländlichen Kanada die geschriebenen wie ungeschriebenen Regeln des Zusammenlebens, insbesondere aber die Verhaltensregeln für Frauen, äußerst restriktiv waren. Je mehr die Zeiten in den folgenden Jahrzehnten sich verändern, je mehr die Definition persönlicher Freiheit sich seit den späten sechziger Jahren entgrenzt, umso mehr Konfliktpotential wächst den Geschichten der Alice Munro zu. Denn was bedeutet es im nächsten Zusammenhang: im Inneren von Frauen und Männern, wenn immer mehr erlaubt scheint, was gefällt? Was bedeutet Selbstbefreiung für diejenigen, die neue Rechte und Möglichkeiten für sich beanspruchen? Was für diejenigen, die mit ihnen zusammentreffen, womöglich zusammen leben? Und was schließlich ist mit solchen, die, wie strikt oder weitmaschig die gesellschaftlichen Regeln auch immer gefasst sein mögen, schlichtweg ihrer Besonderheit folgen, ihrem Außenseitertum nachgeben müssen, weil die Alternative Selbstvernichtung hieße?

 

So stehen die innerlich Rastlosen, Unverwurzelten jeglicher Couleur hier im Zentrum. Und der Blick, der sie trifft und ihren Bewegun­gen folgt, ist stets getragen von Empathie, doch ist er dabei weder mitleidig, noch folgt er psycho­logischen Rastern – unbeirrt beobachtend, sympathisiert Alice Munro allenfalls mit dem (ob nun skurrilen, blinden oder verzweifelten) Befreiungsversuch selbst. Auch das unfreiwillig Komische, in einer Bewegung also die Verrenkung, entgeht ihr nicht, und auch diese wird benannt. Der Einengung des Fokus auf knapp umrissene Charaktere und Szenerien entspricht folgerichtig eine Sprache, die auf Üppigkeiten selbstbewusst verzichtet: Eleganz und Treffsicherheit entspringen auch hier der äußersten Zurücknahme. So passt oft ein ganzes Leben – nicht linear, sondern wie in snapshots, in zeitlichen Sprüngen erzählt – auf vierzig Seiten, und die Kunst der Erzählerin liegt darin, dass alles Gesagte vielsagend bleibt, schillernd, in seiner Deutung offen.

Noch die ungeheuerlichste Wendung eines Geschehens, ja, selbst das erschütternde Enden einer Existenz erscheinen auf diese Weise fast alltäglich, jedenfalls normal. Und es bleibt dem Leser überlassen zu erschließen, weshalb dergleichen wohl – und wem eigentlich – als immer noch innerhalb der Ordnung angesiedelt erscheint. Die Sichtweise Alice Munros bringt es mit sich, dass das Außergewöhnliche stets als Teil des Gewöhnlichen wahrgenommen wird, ebenso jedes Geheimnis. Wer den innigen Zusammenhang zwischen Abweichung und Norm, Ordnung und Auflösung so sehen lernt, wie ihn diese Geschichten sinnfällig machen, wird wie unversehens auch dessen innere Bewegungsgesetze erfassen.

«Alice Munro zu lesen bedeutet, jedes Mal etwas zu verstehen, worüber man niemals zuvor nachgedacht hat», stellte die Jury des Man Booker International Prize vor zwei Jahren bei ihrer Preisvergabe an die kanadische Erzählerin fest. «Als Autorin von short stories gibt sie ihren Geschichten so viel Tiefe, Weisheit und Genauigkeit mit, wie die meisten Roman-Autoren sie in ein episches Lebenswerk einbringen.» Genauso verhält es sich, doch ist mit dieser Feststellung zugleich eine Wunde berührt, die diese Schriftstellerin von Anfang an begleitet – und die sie auch selbst thematisiert. In ihrem jüngsten Erzählungsband «Zu viel Glück» (siehe in diesem Heft S. 39) lässt Alice Munro die Protagonistin einer Geschichte mit dem Titel «Erzählungen» das Buch einer jungen Autorin aufschlagen: « … eine Sammlung von Erzählungen, kein Roman», heißt es da. «Schon die erste Enttäuschung. Das scheint das Gewicht des Buches zu verringern, als sei seine Verfasserin jemand, der sich nur an die Pfosten der Literatur klammert, statt sich in ihr sicher niedergelassen zu haben.» Hört man hier einen Selbstzweifel der Autorin? Oder handelt es sich um einen kleinen ironischen Seitenhieb gegen all jene, die die Meisterin der kurzen Form zwar hoch schätzen, die short story aber nicht als tatsächlich große Kunst sehen können?

Man muss keineswegs der hochfliegenden Feststellung der amerikanischen Schriftstellerin Cynthia Ozick folgen, die Alice Munro aufgrund ihres besonderen Verhältnisses zur unaufhaltsam vergehenden Zeit und der vergleichsweise geringen Dichte an äußeren Ereignissen in ihren Geschichten «unseren Tschechow» genannt hat. Man müsste nicht einmal besonders schwer gewichten, dass Munro eine erklärte Leitfigur zeitgenössischer Autoren ist: Die lange Reihe derer, die sie als wegweisend für ihre eigene literarische Arbeit hervorgehoben haben, reicht von Margaret Atwood (siehe S. 30) und Jonathan Franzen über Colm Tóibín und Joyce Carol Oates bis zum herausragenden deutschen Geschichten- und Romanautor Ingo Schulze (siehe S. 40). Um ihre Besonderheit zu erfassen, genügt es vielmehr völlig zu konstatieren, was dieses mittlerweile 17 Bände umfassende Werk auf dem lange maßgeblich von männlichen Autoren bestimmten Feld der short story zur Welterkenntnis unserer Tage beigetragen hat.

Alice Munro nämlich bewegt sich als Erzählerin ganz selbstverständlich auf einem Terrain, das, mit Edgar Allen Poe im 19. Jahrhundert beginnend, weltliterarisch im Wesentlichen von Schriftstellern wie F. Scott Fitzgerald, Ernest Hemingway, Jerome D. Salinger, Raymond Carver oder John Cheever geprägt wurde – die äußerste Verknappung der Darstellung nutzten die Herren des Genres vor allem für Charakterisierungen des Lebens in den Megalopolen des 20. Jahrhunderts und von der Warte ihrer männlichen Helden. Alice Munro macht von Anfang an allein vom setting ihrer Geschichten her alles anders: Die Begebenheiten ihrer stories ereignen sich – zumeist wenigstens – in der Provinz, und sie stellen – zuallermeist – Frauen, deren Orientierungs- und Loslösungsversuche ins Zentrum. Dies setzt die Autorin heute dem bösen Verdacht aus, hier müsse es sich um «Frauenliteratur» handeln: eine von sentimentalen, in happy endings vernarrten oder aber auf Geschichten von un­verdientem Leid abonnierten Wesen bevorzugte, literarisch leider zweifelhafte belletristische Unter-Abteilung.

Wer sich zur Erzählerin Alice Munro bekennt, braucht indes keine Schwäche für sogenannte Minderheitenliteratur mitzubrin­gen, auch die Liebe zum Ländlichen, Abgeschiedenen ist keine Voraussetzung. Er kann sich viel­mehr darauf berufen, dass hier eine besondere, kühle und ironische Stimme der tradierten Form der short story etwas Entscheiden­des hinzugefügt hat: die Wahrnehmung menschlicher Beziehungen aus der Perspektive einer unbestechlich forschenden weiblichen Beobachterin – deren Ergebnisse aus männlicher Sicht nicht weniger wahr und zutreffend erscheinen, sondern zunächst vor allem fremd. Hier gibt es weder Anklage noch Idyll, auch Aufrufe zur Befreiung unterbleiben. Die Lebensveränderung als individueller Versuch ereignet sich vielmehr in den Erzählungen selbst, ist deren eigentlicher Gegenstand – Ausgang und Bewertung ungewiss. Was in der klaustrophobischen Enge einer Kleinstadt, einer Familie sich unter den einzelnen Menschen ereignet, erschließt am Ende Grundzüge des Lebens aller, zumindest in der westlichen Welt: Es geht um eine Sprache für menschliche Verhältnisse.

Der Bogen zur Lektüre-Szene in Pedro Almodóvars neuem Film ergibt sich da fast von selbst: Wenn es um die Zukunft nicht zuletzt unserer Gefühle geht, gilt es, sich noch einmal der Verhältnisse in der Gegenwart mit größtmöglicher Klarsicht zu versichern. Für die Fragen aber, die die Entwicklung in den Beziehungen von Männern und Frauen während der letzten sechzig Jahre betreffen, ist die Literatur Alice Munros eine der verlässlichsten und dabei sinnlichsten Quellen. Der Nobelpreis scheint dafür die angemessene Anerkennung.

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