Demokratiefördergesetz - Gegen das betreute Denken

Die Demokratie ist in Gefahr, heißt es, und schuld daran ist der Bürger. Der soll nun mit einem „Demokratiefördergesetz“ wieder auf den rechten Weg geführt werden. Doch elementar für ein demokratisches Gemeinwesen sind klar geregelte Aushandlungsprozesse, nicht die einwandfreie Gesinnung.

Das Vertrauen in die Freiheit des Einzelnen macht Demokratie erst möglich / dpa
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Autoreninfo

Jörg Schulte-Altedorneburg ist Bildungsexperte und Stiftungsberater. Der promovierte Altphilologe kümmert sich in philanthropischen Organisationen unter anderem um die Förderung zivilgesellschaftlicher Entwicklungsprozesse.

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Die Demokratie, die Ressource für Stabilität, Zusammenhalt und Stärke unserer Gesellschaft, wird derzeit vor allem als gefährdet und bedroht beschrieben. Die Palette der vieldiskutierten Aushöhlungen demokratischer Institutionen und Prozesse umfasst dabei nicht nur Verfassungsänderungen im europäischen Ausland, wie z.B. in Ungarn und Polen, die nach Ansicht politischer Experten auf eine Aufhebung der Gewaltenteilung hinauslaufen.

In Deutschland sind es, neben den politischen Radikalismen, aktuell die andauernden Debatten um die Meinungsfreiheit in Zeiten von Wokeness und Cancel Culture, die als demokratiegefährdend ausgemacht werden.  

„Demokratiefördergesetz“ läuft auf betreutes Denken hinaus

Wie liberal, wie offen, wie tolerant kann oder muss eine Demokratie sein angesichts solcher Gefahren? Und wie ist es zu der ausgemachten Schwächung unserer Staatsform gekommen? Konsequent sind die Bürger sowohl als Problem als auch als Stellschraube für die Lösung identifiziert worden. Folgerichtig setzte sich die Forderung nach einer Stärkung demokratischen Denkens lagerübergreifend medial durch. Ohne zuvor genauer zu bestimmen, woraus denn ein solches politisches Lernprogramm bestehen müsste, ist die Überzeugung seiner Notwendigkeit dann in der Politik angekommen.

Die Bundesregierung will das erkannte wie nebulöse Defizit nun per Gesetz beheben, mit dem sogenannten „Demokratiefördergesetz“. So sollen die als mündig beschriebenen Bürger von Regierungsseite aus mit der Hilfe ausgewählter und staatlich finanzierter Organisationen der Zivilgesellschaft den Wert und die Schutzwürdigkeit ihrer Demokratie wiederentdecken.

Das klingt irgendwie gut, läuft aber zugleich auf betreutes Denken hinaus. Also eigentlich doch das Gegenteil von Demokratie. Wieder einmal könnte sich bewahrheiten, dass „gut gemeint“ das Gegenteil von „gut“ ist. Benötigen wir tatsächlich ein solches Gesetz, das Demokratie zum Gegenstand ideologieanfälliger Gesinnungsförderung macht, anstatt grundlegend zu fragen, welches Menschenbild eigentlich hinter der Demokratie, hinter Freiheit und Verantwortung des Einzelnen in der Demokratie steckt? Was müsste also gefördert werden, um die Demokratie zu stärken? Gewiss keine oberflächliche und wenig nachhaltige Hurra-Gesinnung, die Demokratie zur Leerformel einer gewünschten Haltung macht.

 

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Elementar für ein demokratisches Gemeinwesen sind auf gemeinsame Beratung angelegte und klar geregelte Aushandlungsprozesse. Sie sollen auf allen staatlichen Ebenen in unserem Land, also von der Kommune bis zum Bund, dazu dienen, im politischen Alltag das für die Bürger Nützliche zu fördern und das für sie Schädliche abzuwenden. Keiner dieser allzu vertraut klingenden Aspekte ist freilich selbstverständlich, selbsterklärend oder garantiert, sondern muss immer wieder aufs Neue vermittelt, erlernt, eingeübt und natürlich geschützt werden, um das Ziel der Entfaltung des Einzelnen in Gemeinschaft gewährleisten zu können.

Deswegen sollten wir unsere Demokratie nicht allein als liberal und sicher nicht – wie etwa bei Viktor Orbán – in illiberaler Weise beschreiben, sondern als deliberativ verstehen, also vom Lateinischen deliberare: „erwägen, überlegen; sich entscheiden, beschließen“. Demokratie braucht unterscheidungsfähige Akteure, klare Entscheidungsstrukturen und Geduld, keine Gesinnungspflege.

Bildung ist die Grundlage eines demokratischen Gemeinwesens

Deswegen braucht es zur Demokratieförderung ein altes Mittel: Bildung. Allgemeine und breite Bildung ist die Grundlage für eine konstruktive Teilhabe und Teilnahme am demokratischen Gemeinwesen. In einer mittel- bis langfristigen Strategie muss es also darum gehen, das individuelle Urteilsvermögen aller Bürger zu stärken und Neugier zu wecken, um der Diskursverengung und Polarisierung in der Gesellschaft grundsätzlicher und nachhaltiger zu begegnen. Es braucht Toleranz, aber eine, die auf Urteilsvermögen und Neugier gebaut ist und nicht nur wechselseitiges Desinteresse widerstreitender Gruppen pflegt. Wäre demzufolge – im Falle einer tatsächlich notwendigen Gesetzesinitiative – nicht eher die Zeit, ein „Urteilsvermögens- und Neugierfördergesetz“ vorzulegen, um die Dringlichkeit des Problems, die Lösungsansätze und die praktische Entschlossenheit politisch angemessener sichtbar zu machen?

Doch der Demokratie droht auch eine neue Skepsis anderer Art. Zu langsam im Blick auf die Zielerreichung seien die demokratischen Aushandlungsprozesse, tönt es aktuell aus der einen Ecke: Dem Klimawandel und seinen bedrohlichen Folgen etwa könne man mit den Mitteln der Demokratie und der Sozialen Marktwirtschaft doch gar nicht wirksam begegnen, so die immer häufiger hörbare und demokratietheoretisch wie -praktisch beunruhigende Basta-Formel. Andere Bürger wiederum fühlen sich angesichts der aktuellen Fülle gesellschafts-, sozial-, wirtschafts-, finanz-, außen-, verteidigungs- und sicherheitspolitischer Herausforderungen von der Politik abgehängt, ungehört oder übergangen. So weit, so bekannt.

Lediglich Symptombekämpfung

Doch das vorliegende „Demokratiefördergesetz“ setzt allein auf eine staatlich gelenkte Symptombekämpfung: Die Zivilgesellschaft bzw. ihre Organisationen sollen durch finanzielle Zuwendungen in die Lage versetzt werden, die die Demokratie gefährdenden Extremismen zu bekämpfen. Extremismen entgegenzutreten, mag ein richtiges Ziel sein. Doch der Ansatz, allein bei irgendwelchen kommunikativen oder politisierten Phänomenen anzusetzen, greift viel zu kurz. Mehr noch, es kann zum Gegenteil führen.

Es wird gesprochen von der Auseinandersetzung mit Polarisierungen, Intoleranz, Cancel Culture, Hate Speech. Insgesamt sind das Haltungen, die auf Befürchtungen, Vorurteile, Unkenntnis, leichtfertig verallgemeinerte Negativerfahrungen, widrige Lebensumstände, persönliche Misserfolge und viele weitere Faktoren zurückgeführt werden können. Solche dauerhaften oder momentanen Haltungen wiederum prägen das individuelle Urteilsvermögen. Sie können eine Fixierung in der Wahrnehmung hervorrufen und verursachen so ein entsprechend einseitig ausgerichtetes Handeln, das durch Vergewisserungen in der jeweiligen Echokammer noch verstärkt wird.

Doch ruft eine solche trivial anmutende Analyse nicht vielmehr nach mehr Bildung und Ausbildung des individuellen Urteilsvermögens und damit nach einer Bildungsdebatte, die nach Corona ohnehin überfällig scheint? Es greift doch wohl zu kurz, wenn allein wohlmeinende NGOs, Vereine und Verbände, die sich hehren Zielen wie etwa Antirassismus, Klimaschutz, Anti-Diskriminierung, verschrieben haben, nun zum Backbone unserer Demokratie gemacht werden. Bevor es bloß um die Fassade gehen kann, wird ein Fundament benötigt. Für ein Fundament aber braucht es gute Schulen und Hochschulen, Kindergärten und auch Volkshochschulen. Und vor allem eine positive Bewertung von Bildung, einen Bildungsruck, der durch die Gesellschaft gehen muss.

Es braucht keine „Denkbetreuer“ in der Demokratie

Ob gegenwärtig ChatGPT, Populismus, Radikalisierung oder wachsende Zweifel besonders unter jungen Menschen an der Leistungsfähigkeit unseres demokratischen Systems für Verunsicherung sorgen, stets gerät ein Mangel an Differenzierungsfähigkeit und an Bereitschaft zur Unterscheidung in den Blick. Es sind das individuelle Urteilsvermögen und das Vertrauen in die Freiheit des Einzelnen, die konstruktive Aushandlungsprozesse und mithin auch die Demokratie überhaupt erst möglich machen – nicht die „richtigen“ Haltungen, die die „Denkbetreuer“ bereithalten.

Es bleibt dabei: Wissens- und Kompetenzerwerb haben auch im digitalen Zeitalter den Charme einer „Allzweckwaffe“, mit der man Unbeständigkeit, Ungewissheiten, Komplexität und Uneindeutigkeiten bewältigen kann. Oder in der Version der Brüder Grimm: Wer Gefahren oder Herausforderungen nicht (er)kennt, sorgt sich nicht, hat keine Bedenken oder fürchtet sich nicht – und muss letztlich „ausziehen, um das Fürchten zu lernen“, wie es im Titel eines bekannten Märchens heißt.

Urteilsvermögen ist für Aristoteles das Wesen des Denkens

Es ist daher so überfällig wie lohnend, die angedeuteten Aspekte des Wissens und der Unterscheidungsfähigkeit in den Blick zu nehmen, die wir unter dem Begriff des Urteilsvermögens kennen und die beispielsweise für den antiken Philosophen Aristoteles das Wesen des Denkens, Fühlens und Handelns ausmachen. Für Aristoteles ist Urteilsvermögen übrigens gleichbedeutend mit Unterscheidungsvermögen: Dem Menschen ist dieses Vermögen in die Wiege gelegt, es ist eine ihm gattungsspezifisch eigene Fähigkeit, deren Art und Ausmaß freilich je nach individueller Ausstattung oder Talenten differieren.

Jeder Mensch, so erklärt Aristoteles, ist von Natur aus begierig und fähig, im Sinne dieses Unterscheidungsvermögens zu lernen, zu verstehen und zu handeln. Und diese Fähigkeit zu entdecken, zu entfalten und zu verfeinern, ist die lebenslange Aufgabe des individuellen Bildungsprozesses – so lassen sich der aristotelische Bildungsansatz und das zugrundeliegende Menschenbild sehr verkürzt zusammenfassen.

Wenn dem Unterscheiden im Erkennen und Handeln eine so zentrale Rolle zukommt, gilt dies ebenso für die essentiellen Kriterien des Unterscheidens. Um eine Kultur, um Geschichte, um politisch Notwendiges, die Meinung oder den Standpunkt eines anderen angemessen beurteilen zu können, benötigt man Kriterien, wie beispielsweise schön und hässlich, gerecht und ungerecht, angemessen und unangemessen, wahr und falsch, nützlich und schädlich. Diese Unterscheidungskriterien und ihre Voraussetzungen wiederum zu erlernen und ihre Anwendung „einzuüben“, ist keineswegs trivial, sondern braucht Neugier, Zeit, Geduld, eigenes Zutun, Anleitung und viel Erfahrung, wie auch Aristoteles betont.

Neugier meint hier weder den Hunger nach Enthüllungen aller Art noch ein bloßes Anfangsinteresse, sondern die permanente Lust am Verstehen des Ungekannten oder Neuen mit dem Ziel eines Wissenserwerbs oder Erkenntnisgewinns. Im Unterschied zu den aktuellen vielfältigen Diskursverengungen und -ausschlüssen zeichnet sich Neugier als Wissbegier nicht zuletzt auch durch die Bereitschaft aus, die eigenen Urteilskriterien im Licht abweichender oder neuer Eindrücke immer wieder zu überprüfen. Zugegeben: Das ist ein hehrer Anspruch, insbesondere im Zustand einer diskursiven Fixiertheit, etwa aufgrund einer Dauerempörung, oder in der zweifellos anstrengenden argumentativen Auseinandersetzung mit moralisch aufgeladenen oder überhöhten Positionen.

Abwertung der Meinungen Andersdenkender als Gefahr für die Demokratie

Eines der beeindruckendsten Zeugnisse für die Unverzichtbarkeit des Urteilsvermögens, gepaart mit Meinungsfreiheit, bietet John Stuart Mill, der einflussreiche britische Sozialphilosoph im 19. Jahrhundert, in seiner Schrift „Über die Freiheit“: Dort sieht er die Ausgrenzung und Abwertung der Meinung des anderen als eine der großen Gefahren für die Demokratie an, da man sich und anderen damit die Möglichkeit nehme, die tatsächliche Überzeugungskraft des eigenen Standpunkts (oder der eigenen Urteilskriterien) beweisen oder revidieren zu können – was den Erkenntnisfortschritt und damit das Gemeinwohl schwächt.

Sich für die Meinungen des anderen zu interessieren, sie auf Stichhaltigkeit überprüfen zu wollen und den anderen gerade nicht als inadäquates Gegenüber auszuschließen, sondern ernst zu nehmen und fragen zu wollen, ist in dieser Perspektive das Gebot einer konstruktiven „intellektuellen“ Neugier. Ohne sie werden ein zivilisierter Umgang miteinander, demokratische Willensbildung und konstruktive Auseinandersetzungen schlicht nicht möglich sein – oder zumindest massiv erschwert, wie die aktuellen Kulturkämpfe im politischen Diskurs, auf der Straße und in den Medien schmerzlich zeigen.

Mehr Aristoteles und Goethe 

Urteilsvermögen, verstanden als Unterscheidungsfähigkeit, sowie Selbstkritik und Bescheidenheit dürften vor diesem Hintergrund die Schlüsseltugenden für die Bewältigung der Gegenwart wie auch der Ungewissheiten der Zukunft sein. Und die zentrale Aufgabe für jedes Individuum wie für alle pädagogischen Experten und Laien, Bildungseinrichtungen, soziale Umfelder und die Politik dürfte somit darin liegen, die Bildungsbiographie auf das Erlernen und Umsetzen dieser und anderer Tugenden auszurichten – mit dem Ziel der Entfaltung von Individualität als Weg zum Glück des Einzelnen in der Gemeinschaft.

Eine solche Erinnerung an vermeintlich Selbstverständliches ist offenkundig geboten in Zeiten der Informationsflut, der Echokammern und der teils gezielten Unterkomplexität in aktuellen Debatten um unsere gemeinsame Zukunft. Es braucht gerade kein betreutes Denken als Nachvollzug vorgegebener Inhalte, sondern die verantwortungsvolle Anleitung zum Selbst-Denken, zum reflektierten und selbständigen Unterscheiden des für den Einzelnen und die Gemeinschaft Nützlichen, Angemessenen, Gerechten, Guten und Schönen.

Mehr Aristoteles, mehr Goethe und mehr Bach für die Entwicklung des Unterscheidungsvermögens, so könnte man es zusammenfassen – und wenn es denn unbedingt ein Gesetz sein muss, dann kein „Demokratiefördergesetz“, sondern ein „Urteilsvermögens- und Neugierfördergesetz“. Oder wir führen endlich eine substantielle Bildungsdebatte.

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