Debatte um Juli Zeh - Vom Hetzen und Treideln 

Zwei Aussagen Juli Zehs in einem Interview lassen die immer selben Personen mal wieder entrüstet auf die Barrikaden gehen. Die Dinge und der Debattenverlauf in Sachen Zeh sind so erwartbar und so ermüdend. Denn sie folgen dem immer gleichen Muster.

Die Dinge und der Debattenverlauf in Sachen Zeh sind so erwartbar und so ermüdend / dpa
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René Schlott, geboren in Mühlhausen/Thüringen, ist Historiker und Publizist in Berlin.

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„Es ist ein so leichtes Unternehmen, und es spielt sich so rasch ab, dass man sich beeilen muss, um zurechtzukommen. Die Eile, Gehobenheit und Sicherheit einer solchen Masse hat etwas Unheimliches. Es ist die Erregung von Blinden, die am blindesten sind, wenn sie plötzlich zu sehen glauben.“ Auch wenn es nach dem ersten Lesen so scheinen mag, als handelten diese Sätze vom zeitgenössischen Phänomen des „Shitstorms“ in den sogenannten sozialen Medien, so sind sie doch wesentlich älter und entstammen einem ganz anderen Kontext.

Denn das, was Elias Canetti (1905-1994) hier in seinem Jahrhundertwerk „Masse und Macht“ beschrieb, ist die „Hetzmasse“. Mit Blick auf den Zustand der Debattenkultur in diesem Land kommen Canettis Beobachtungen einem dieser Tage wieder in den Sinn, auch wenn der spätere Literaturnobelpreisträger mit der „Hetzmasse“, vor allem ein Phänomen aus der Frühzeit des Menschen beschrieb.

Eine optimistische Zeit

Doch „auch heute nimmt jeder an öffentlichen Hinrichtungen teil, durch die Zeitung“, hielt der spätere Literaturnobelpreisträger Canetti 1960 am Ende seines Kapitels zur „Hetzmasse“ fest. „Man hat es nur, wie alles, viel bequemer.“ In der Tat: Im digitalen Zeitalter braucht es nicht einmal mehr das gedruckte Blatt. Die „Hetzmasse“ entlädt sich heute in täglich wechselnden Erregungen auf Twitter. Neuestes Beispiel in einer endlos scheinenden Kette: Juli Zeh und das gemeinsam mit Simon Urban, dem Co-Autor ihres aktuellen Bestsellers „Zwischen Welten“, gegebene Interview in der Neuen Zürcher Zeitung, das am vergangenen Samstag online erschien.

Auf die darin gestellte Frage „Wann hat das Ihrer Meinung nach begonnen mit der Unversöhnlichkeit in der deutschen Debattenkultur?“ antwortet Zeh: „Vielleicht war es eher ungewöhnlich, dass es in den neunziger und den zweitausender Jahren in Deutschland so ruhig war. Unsere Generation war nicht sehr aktivistisch, es war eine absolut optimistische Zeit, mindestens ein Jahrzehnt lang hatte man nach der Wiedervereinigung den Eindruck: Alles wendet sich zum Besseren. Wir lebten am Ende der Geschichte.“ Auf Twitter wurde Zeh aufgrund dieser Aussage vorgeworfen, sie verharmlose den Rechtsterror und die rassistischen Mordanschläge in der Bundesrepublik der 1990er Jahre, auch wenn sie danach gar nicht gefragt worden war. 

Bewusst missverstehen, böswillig verkürzen

Die Fälle wechseln, doch das Prinzip bleibt das stets gleiche: das bewusste Missverstehen, die böswillige Verkürzung, der Versuch der moralischen Ausgrenzung zur Überhöhung der eigenen Position und, profaner noch, zur Selbstvergewisserung über die Zahl der generierten Likes und Retweets auf der Plattform eines US-amerikanischen Milliardärs, den man doch eigentlich verachtet und von dessen Netzwerk man sich schon lautstark und im Brustton eigener moralischer Überlegenheit verabschiedet hatte.

Doch als Mittel der Distinktion taugt der schnelle Tweet zum allgemeinen Juli Zeh-Bashing, weil man sich zu den vermeintlich „feinen Leuten“ zählt, die ohnehin nie ein Buch von ihr kaufen und lesen würden oder spätestens jetzt früher im Zustand der Arglosigkeit gekaufte Bücher entsorgen würden. Man konnte ja seinerzeit nicht ahnen, dass die Dame ein Problem damit haben könnte, dass wieder deutsche Panzer durch die Ukraine rollen

Gesellschaftliche Polarisierung

Die Dinge und der Debattenverlauf in Sachen Zeh sind so erwartbar und so ermüdend. Sie folgen dem immer gleichen Muster. Sie gehen von den immer selben Personen aus und werden von den immer selben Personen verstärkt. Erhalten in den immer gleichen Leitmedien ihr Echo. (Das gilt selbstverständlich umgekehrt auch für diesen Text.) Gewonnen ist am Ende nichts – weder Einsicht noch Erkenntnis. Und Empathie, verstanden als Bereitschaft im freiheitlichen Verfassungsstaat die Position des anderen als legitim anzuerkennen und auf Augenhöhe eine Sachfrage weiter zu diskutieren, schon gar nicht. Aber darum geht es erkennbar auch gar nicht mehr. 

„Meiner Überzeugung nach ist die Mehrheit der Menschen nach wie vor nicht nur am eigenen Marktwert, sondern ernsthaft an den Belangen unseres Landes interessiert.“ Ob Zeh diese Aussage aus ihrer Tübinger Poetikdozentur 2010 heute wieder so uneingeschränkt treffen würde? Twitter sieht Zeh übrigens nicht als Ursache, sondern als Symptom für den gesellschaftlichen Grad der Polarisierung. 
 

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Zehs Antwort auf die Frage der NZZ nach dem Wandel der Debattenkultur deckt sich jedenfalls mit einem wissenschaftlichen Befund, der sich mittlerweile auch in Zahlen belegen lässt. In regelmäßigen Umfragen erhebt das Institut für Demoskopie Allensbach seit 1953 die Antwort auf die Frage: „Haben Sie das Gefühl, dass man in Deutschland seine politische Meinung frei sagen kann?“.

Während 1991 noch 78 Prozent der Befragten diese Frage bejahten, sank der Wert zehn Jahre später auf 66 Prozent und bei der letzten Erhebung 2021 auf nur noch 45 Prozent. Fast genauso viele Befragte gaben an, bei der politischen Meinungsäußerung besser vorsichtig zu sein. Nach der Umfrage haben die Anhänger der Grünen mit 62 Prozent derzeit noch am ehesten das Gefühl ihre Meinung frei sagen zu können.

Eintreten für Frieden und Freiheit

Auch eine andere Aussage Zehs im NZZ-Interview sorgte für Twitter-Zorn bei den üblichen Verdächtigen aus dem vornehmlich akademischen und journalistischen Waffennarren-Milieu, dem seinerzeit die Freiheitseinschränkungen während der Pandemie nicht weit genug gehen konnten. Auf die Frage: „Sie sind Richterin am Brandenburgischen Verfassungsgerichtshof. Was hat sie an den Corona-Massnahmen am meisten irritiert?“ antwortet Zeh „Ich glaube, das waren schon die Ausgangssperren. Die stehen für eine totalitäre Strafsituation, ich habe das fast als apokalyptisch empfunden.“

Als der ehemalige Verfassungsrichter Udo Di Fabio nahezu wortgleich im Januar 2021 in einem Spiegel-Interview mit Blick auf die staatlichen Grundrechtseinschränkungen während der Pandemie erklärte, „Ausgangsbeschränkungen und Hausarrest sind ja eigentlich ein Mittel für Autokratien und Diktaturen“, blieb ein Shitstorm aus. Ebenso wenig erregte wenig später Thomas Brussigs in der Süddeutschen Zeitung erhobene Forderung „Mehr Diktatur wagen“ den Widerspruch der Twitterwächter, die das Eintreten für Frieden und Freiheit oder gar das Grundgesetz sofort unter Rechtsverdacht und gegebenenfalls in Diktatorennähe stellen.

Das mühsame Ziehen von Schiffen

Dieser Tage erschien in der Münchener Edition Text+Kritik ein Heft zu Leben und Werk von Juli Zeh, für das der Verlag mit einem Zitat des Schriftstellers und frühen Zeh-Förderers Burkhard Spinnen wirbt. In seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Heinrich-Böll-Preises 2019 an Zeh hatte er an die Adresse der Preisträgerin erklärt: „Wir alle brauchen Autoren wie dich, die mit der Stärke ihrer Persönlichkeit und der Kraft ihres Ausdrucks gegen den Unsinn ankämpfen, der die Welt zu überschwemmen droht.“ 

In dem Text+Kritik-Heft beschreibt Zeh die Methode ihrer Poetologie recht anschaulich mit der Metapher des „Treidelns“ – dem mühsamen Ziehen von Schiffen oder Lastkähnen per Hand auf Flüssen und Kanälen. Und der in den USA lehrende Germanistik-Professor Stephen Brockmann analysiert in einem Beitrag unter dem unaufgeregten Titel „Eine tragfähige Version des Liberalismus“ Zehs engagierte Literatur und ihre öffentlichen Beiträge „als entschiedene Befürworterin der liberalen Demokratie“. 

„Was Alle denken“

Schon 2009 hatte Juli Zeh in dem gemeinsam mit Ilja Trojanow verfassten Buch „Angriff auf die Freiheit“ angesichts von zunehmender Überwachung die individuellen Freiheitsrechte gegenüber den vermeintlichen Sicherheitsversprechen des Staates verteidigt. Im gleichen Jahr erschien auch ihr Longseller (inzwischen in der 33. Taschenbuchauflage) „Corpus Delicti“, in dem die quotenstärkste Talkshow „Was Alle denken“ heißt. Nicht nur in dieser Hinsicht kann der Roman einer Gesellschaft, die die Freiheit zugunsten von Gesundheit und Sicherheit aufgegeben hat, als geradezu prophetisch gelten. In „Über Menschen“ (2021) verweigert die Protagonistin den „Treueschwur auf die Apokalypse“ und gerät ins gesellschaftliche Abseits und in die brandenburgische Provinz, in der auch Zehs neues Buch spielt. 

In eben diesen „Zwischen Welten“ fällt der vieldeutige Satz: „Wenn öffentliche Kommunikation der Treibstoff der Polarisierung ist, wird man die fortschreitende Polarisierung nicht mit öffentlicher Kommunikation stoppen können.“ Die Süddeutsche Zeitung hat das Buch – dessen Inhalt viele bereits jetzt aufgrund von Interviewaussagen bewerten, ohne eine Zeile gelesen zu haben – in ihrer letzten Wochenendausgabe als ein Werk gefeiert, in dem Juli Zeh über sich hinauswächst. Es erscheint offiziell erst morgen und steht schon auf Platz 2 der meistverkauften Bücher – der „verantwortungsloseren Hetzmasse“, so Canetti, zum Trotz.

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