Perspektiven nach Corona, Teil 2/3 - Vom Ende der Freiheit

In der Pandemie dominierte - auf Kosten der demokratischen Kultur unseres Landes - obrigkeitsstaatliches und konformistisches Denken bei den meisten Entscheidungsträgern aus Politik, Justiz und Medien.

Zeigte während der Pandemie wenig Verständnis für die demokratische Tradition der Bundesrepublik: Angela Merkel / picture alliance
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Autoreninfo

Christoph Lütge ist Philosoph mit Schwerpunkt Wirtschaftsethik. Er ist Inhaber des Peter-Löscher-Stiftungslehrstuhls und Direktor des „Institute for Ethics in Artificial Intelligence“ an der Technischen Universität München. Bis Februar 2021 war Lütge Mitglied des Bayerischen Ethikrats. 

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Die Pandemie ist vorbei, ihre Auswirkungen werden uns noch lange begleiten. Der Philosoph Christoph Lütge versucht in einem dreiteiligen Beitrag zu klären, was in der Coronakrise eigentlich vorgefallen ist und was diese Krise mit uns als demokratischer Gesellschaft gemacht hat. Im ersten Teil beschrieb Lütge, wie den Individuen Handlungsmacht, Mündigkeit und Würde genommen wurden.

Die Coronakrise war eine politische Krise, und sie war vor allem eine Krise der Demokratie. Dass autoritäre Staaten autoritäre Maßnahmen erlassen, ist kein Wunder. Aber dass Demokratien dasselbe tun, sogar teilweise Autokratien in der Schärfe der Maßnahmen übertreffen, das überrascht doch. Vor allem deshalb, weil doch Demokratie eigentlich bedeutet, dass es Kontrollinstanzen gibt.

Die zentrale historische Errungenschaft der politischen Philosophie der Aufklärung besteht darin, die Idee der Gewaltenteilung als wechselseitige Kontrolle entwickelt zu haben. Und selbst wenn man die ersten (wenigen) Monate der Coronakrise als Ausnahmesituation betrachten wollte: Für die Zeit ab Herbst 2020, spätestens ab Anfang 2021 kann das nicht mehr behauptet werden. Spätestens ab hier hatte die Demokratie versagt.  

Demokratie ist eben gerade keine „Schicksalsgemeinschaft“, was Merkel in ihrer Regierungserklärung von 2010 als Narrativ zu etablieren versuchte. Im Gegenteil, in einem liberalen demokratischen Staat müssen sich die Bürger – wie etwa John Rawls betonte – über viele Dinge gerade nicht einig sein, sondern es reicht, dass ein weitgehender Konsens nur über ein paar grundsätzliche fundamentale Gegebenheiten herrscht, und das sollten möglichst wenige sein. „Seid (produktiv) uneinig“, so könnte man dieses Prinzip formulieren – welches in den Coronajahren sträflich vernachlässigt worden ist.

Wo war die demokratische Tradition unseres Landes? 

In der Coronakrise jedenfalls hatte man immer wieder den Eindruck, den Entscheidungen einiger weniger (etwa der MPK, der Kanzlerin, des Gesundheitsministers oder einzelner Ministerpräsidenten) ausgeliefert zu sein, ohne dass dazu noch eine ernstzunehmende Kontrollinstanz bestand. Hier ist einmal mehr das Bundesverfassungsgericht zu nennen, das in einer historisch beispiellosen Weise versagt hat: Ein Verfassungsgericht hat die klare Aufgabe, den anderen Gewalten, der Exekutive und der Legislative, Grenzen zu setzen.

Dieser Auftrag besteht nicht einfach nur darin, im Punktuellen tätig zu werden. Er besteht gerade auch darin, Tendenzen vorzubeugen und Signale an die Politik zu senden, dass die grundsätzliche Richtung nicht stimmt. Das Bundesverfassungsgericht und sein Präsident Stephan Harbarth haben nichts dergleichen getan (selbst eine Impfpflicht nicht abgelehnt), und darin besteht eine historische Schuld, gerade angesichts der Bedeutung des obersten Gerichts in einer Demokratie.  

Aber auch auf anderen Ebenen der Jurisdiktion ist gerade in Deutschland leider ein massives Versagen während der Coronakrise zu konstatieren. Das geht auch bis in Teile der Rechtswissenschaft und Jurisprudenz hinein: Wenn wir denn eine so gut gelebte demokratische Tradition in diesem Bereich haben, wo ist sie? Wenn wir hier aus der Geschichte gelernt haben, wo ist das Ergebnis?  

Es geht hierbei letztlich auch um die Frage, welchen Status Freiheitsrechte haben. Aus liberaler Sicht kann es nur eine Antwort geben: Freiheitsrechte sind Abwehrrechte gegen den Staat, sie werden nicht aus Gnade gewährt. Es hat immer wieder Versuche gegeben, Freiheitsrechte anders zu definieren und letztlich auf einem stärker hegelianisch gewendeten Staatsverständnis Freiheit zu basieren. Nach der Erfahrung dieser Krise kann man nur noch sagen: Diese Versuche sind gescheitert. Man kann nun einmal seinen Kuchen nicht haben und zugleich essen. Das ist die Lehre aus einer historischen Krise, aus der die Theorie lernen muss, so wie auch etwa die liberalen Theoretiker des 18. Jahrhunderts aus den Krisen ihrer Zeit gelernt haben. 

Obrigkeitsstaatliches Denken

Mit dem obrigkeitsstaatlichen Denken stehen aber (manche) Juristen nicht allein da: Auch das hat die Krise offenbart, wie anfällig manche, auch große Theoretiker gegenüber staatlichen Ideen sind. Beispielhaft ist hier Jürgen Habermas zu nennen, der in seinem Artikel vom Oktober 2021 de facto nichts anderes als eine Corona-Diktatur forderte, in der der Staat mit dermaßen absurd weitgehenden Sondervollmachten ausgestattet wäre, dass auch noch der letzte sagen muss: Mit Demokratie hat dies nichts mehr zu tun.  

Man könnte vieles von dem Genannten als reine Sandkastenspielereien abtun – wenn es nicht Einfluss auf Politiker hätte. Das bedeutet nicht, dass ein autoritäres System schon ausgebaut wäre. Diese Gefahr sehe ich derzeit eher weniger, weswegen es auch nicht richtig ist, das aktuelle System in den zwei Jahren der Krise als Diktatur zu bezeichnen. Aber es geht sehr wohl darum, dass ein schleichender Prozess des Aushöhlens der Demokratie von innen in Gang kommen kann. Es kann sehr wohl dazu kommen, dass Politiker mit (einmal unterstellt) besten Absichten ein demokratisches System untergraben und aushöhlen.

Historisches Beispiel dafür ist Heinrich Brüning, der in der Weimarer Zeit von 1930 bis 1932 mit Notverordnungen ohne Zustimmung des Parlaments regierte, damit durchaus nicht diktatorische Absichten verfolgte, aber letztlich das Vertrauen in die demokratischen Institutionen systematisch zum Erodieren brachte – sodass dann ein anderer nur noch zugreifen musste, um das System auch tatsächlich zum Einsturz zu bringen. Diese Gefahr halte ich nicht für unrealistisch.  

Übrigens wurden auch in früheren Krisen oft als erstes die Liberalen stummgeschaltet. Historisch gesehen sind die Institutionen dieses Landes auf das Thema Freiheit nicht richtig justiert. Während der Krise wurde das an einigen weiteren Stellen besonders sichtbar. 

Zum einen im Parlament: Während etwa in Großbritannien während der gesamten Krise ausführlich und kontrovers im Parlament gestritten wurde, fand dies in Deutschland lange Zeit nur in Ansätzen statt. Zum anderen aber auch in der Zivilgesellschaft: Ohne konkrete Akteure zu nennen, haben doch viele Vertreter und Organisationen der Zivilgesellschaft nicht das geleistet, was man sich von ihnen versprochen hätte, nämlich, auf den Verlust von Freiheiten immer wieder hinzuweisen und dagegen etwas zu tun. Auch das erfolgt in anderen Ländern ganz anders. In Deutschland passierte es – wenn überhaupt – in den sozialen Medien, insbesondere auf Twitter. 

Massive Vertrauensbrüche seitens der Politik

Insgesamt gab es einen mindestens dreimaligen massiven Vertrauensbruch seitens der Politik: Ende 2020 mit der Verhängung des Lockdowns, den ich seinerzeit als Offenbarungseid bezeichnete, 2021 mit dem Beginn der Impfnötigung bis zur teilweisen Impflicht (die man immer wieder bestritten hatte) und 2021/2022 mit der immer weiteren Verlängerung von Maßnahmen, die längst sinnlos geworden waren und die ursprünglich auch nur kurz hätten gelten sollen.  

Wirklich liberal sein heißt hier: wachsam sein. Wachsam auch gegenüber zunächst scheinbar kleinen Verlusten von Freiheit, gegenüber scheinbar kleinen Einschränkungen. Liberale haben die Pflicht, misstrauisch zu sein, gegenüber allen Institutionen. In der Coronakrise ist das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen massivst erodiert. In Deutschland wurde dies im Forsa-Trendbarometer Anfang Januar 2023 besonders sichtbar: Alle Institutionen, am stärksten der Bundeskanzler, hatten massiv an Vertrauen verloren.

Aber hierin ist vielleicht auch eine Chance zu sehen: Die Deutschen brauchen mehr Misstrauen gegenüber dem Staat, wie sie ja durchaus gegenüber anderen Einrichtungen misstrauisch sind. Dieses Misstrauen kann letztlich konstruktiv wirken. Viele verlieren das in Deutschland vielleicht stärker als anderswo vorhandene Gefühl vom Verwurzeltsein mit dem Staat (die vermeintliche Schicksalsgemeinschaft) – und dies kann auch seine guten Seiten haben.  

Bevor man zum Vertrauen zurückkehren kann, brauchen wir als Balance zunächst einmal mehr von diesem Misstrauen gegen den Staat – denn die Politik ist offensichtlich ebenfalls misstrauisch gegenüber den Bürgern. Dieses Misstrauen von oben, das besonders in Deutschland herrscht(e), muss jetzt ergänzt werden durch ein Misstrauen von unten, sonst ist keine Kontrolle möglich. Wir müssen mehr Antikörper gegen einen übergriffigen Staat entwickeln, und das heißt auch: schon bei kleinen Anzeichen die Stimme gegen drohende Freiheitsverluste erheben, schleichende Entwicklungen anprangern.  

Konformismus und Gesellschaft 

Die Coronakrise hat bei vielen Menschen Seiten hervorgebracht, die man nicht erwartet hätte. Gerade bei einer ganzen Reihe Prominenter, die eigentlich als Nonkonformisten galten, zeigten sich plötzlich unerwartete Züge: Da gab es etwa Sänger und Bands, die plötzlich für Impfungen und andere Maßnahmen agitierten.  

Hier ist auch der Fall Richard David Precht zu nennen: 2020 formulierte er zunächst, wir müssten jetzt alle einfach nur gute Staatsbürger sein, also hinnehmen, was die Politiker beschließen. Im WDR5 sagte Precht im Mai 2021: „Ich vertraue darauf, in einem Staat zu leben, der sich in der Pandemie-Bekämpfung nach Kräften bemüht, richtige Entscheidungen zu treffen. Ich glaube, wir können uns darauf verlassen, egal was wir von der einen oder anderen Maßnahme halten.“ Ist es nicht ein wesentliches Grundmoment der Philosophie, dass man alles hinterfragen kann und auch sollte? Systematische Kritik, das war die Devise von Sokrates über Kant bis zu Karl Popper. Und plötzlich sollte das alles nicht mehr gelten? 

Allerdings fühlte sich der Philosoph nach einiger Zeit wohl auch nicht mehr ganz wohl in seiner Haut, denn er vollzog gleich mehrere Schwenks, insbesondere kritisierte er ab Ende 2021 deutlich die Kinderimpfungen. Und in seinem Buch mit Harald Welzer prangerte er gar die mangelnde Kritikfähigkeit des deutschen Medien-Mainstreams an – einer Kritik, der ich mich nur anschließen kann (obwohl ich den beiden Autoren sonst in vielem nicht zustimme).  

Auch andere würden vermutlich so manches gerne vergessen, was sie geäußert und gefordert haben, etwa Ungeimpfte aus dem gesellschaftlichen Leben komplett auszuschließen oder gar auf ihre Beatmung zu verzichten.

 

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Hier spielt noch ein zweites Moment hinein: nämlich das Bild, das führende Politiker von der Gesellschaft haben, die sie regieren. Ein solches Bild dürfte wohl jeder Politiker im Stillen oder offen haben. Es dient ihm bzw. ihr als Richtschnur, ob das, was man beschließt, im Grundsatz in die „richtige“ Richtung geht. Kann es sein, dass dieses Bild ein Update benötigt?  

Zum einen gehört zu diesem Bild auch das Thema Freiheit, was alle Kanzler vor Merkel wussten. Zum anderen aber hat sich (insbesondere in der langen Merkel-Ära) die tatsächliche gesellschaftliche Entwicklung weit abgekoppelt von jenem Bild des deutschen Michel, das Merkel, Lauterbach und andere von ihr haben. Hier gibt es gesellschaftliche Umbrüche, die lange ignoriert wurden. Teile der Politik und auch der Medien tun immer noch so, als würden wir in den Achtzigern leben. Die Gesellschaft ist in vieler Hinsicht deutlich pluraler geworden. Auch die Parteienlandschaft hat sich völlig verändert, sie ist mit dem Rechts-Links-Schema schon lange nicht mehr zu erfassen. 

In den Autoritarismus abgeglitten

Insgesamt hat eine Entfremdung der Politik von den Bürgern stattgefunden, die über das hinausgeht, was vielleicht in langen Amtszeiten üblich sein mag. Und das hat in der Ära Merkel stattgefunden. Merkel und andere haben das Gespür dafür vermissen lassen, was „geht“. Sie haben die Grenzen dessen, was eine liberale, pluralistische Gesellschaft aushalten kann, weit überreizt. Merkel hat die liberale Seite der Bundesrepublik kaum oder nur in Ansätzen verstanden.  

Letztlich konnte erst dies dazu führen, dass Deutschland in der Corona-Krise besonders stark in den Autoritarismus abgeglitten ist – und zumindest Teile der Politik fanden daran Gefallen, denn in Umfragen stiegen die Zustimmungswerte der Regierenden jedenfalls zunächst steil an. Im Februar 2021, während des langen Lockdowns, äußerte Merkel wie selbstverständlich: „Es wird keine neuen Freiheiten geben.“ 

In anderen Ländern dagegen schlugen auch Regierungschefs deutlich differenziertere Töne an. So warnte die estnische Premierministerin Kaja Kallas bereits im Juni 2021 davor, dass die Corona-Politik dazu führen würde, ein in Teilen der Gesellschaft angelegtes autoritäres Bedürfnis zu befriedigen. In Deutschland nahm die Politik solche Warnungen jedoch nicht zur Kenntnis.  

Am Ende bleibt für mich das Fazit: Man darf Politik nicht den Politikern überlassen. Wenn man glaubt, man könne die Politik den „Fachleuten“ überlassen, dann riskiert man, in den Autoritarismus abzugleiten. Jeder Einzelne hat die Pflicht, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten einzubringen: Man investiert damit in die Bildung von Antikörpern gegen Autoritarismus.  

Lesen Sie morgen im dritten und letzten Teil, wie Wissenschaft und Ethik in der Krise versagt haben.

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