Causa Hans-Georg Maaßen - Die Wissenschaftsfreiheit stirbt zentimeterweise

Darf Hans-Georg Maaßen, der Verfassungsschutzpräsident im Ruhestand, sich rechtswissenschaftlich betätigen und in einem bekannten Kommentar zum Grundgesetz mitschreiben? Darüber wird gerade gestritten.

Kompetent und umstritten: Hans-Georg Maaßen / dpa
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Autoreninfo

Volker Boehme-Neßler ist Professor für Öffentliches Recht, Medien- und Telekommunikations- recht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Davor war er Rechtsanwalt und Professor für Europarecht, öffentliches Wirtschaftsrecht und Medienrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Technik (HTW) in Berlin.

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Hans-Georg Maaßen nimmt kein Blatt vor den Mund. Er äußert seine politischen Meinungen dezidiert und pointiert. Im politischen Spektrum würde man ihn sicherlich im äußerst konservativen Milieu einordnen. Vor allem in der Asylpolitik vertritt er Ansichten, die sich diametral von der Auffassung der Regierung unterscheiden. Er kritisiert die Asylpolitik der Ampel-Koalition hart. Zuletzt hat er die Silvesterkrawalle in Berlin zum Anlass genommen, eine andere Asylpolitik zu fordern.

Maaßen ist ein hoch qualifizierter Jurist mit ausgewiesener Expertise im Asylrecht. Seit Jahren ist er deshalb Mitautor eines renommierten Kommentars zur deutschen Verfassung. Dort beschäftigt er sich auch mit dem Grundgesetz-Artikel zum Asylrecht. Er vertritt dabei eine restriktive Auslegung des Asylgrundrechts. Vor dem Hintergrund seiner politischen Haltungen ist das wenig verwunderlich. Ein Rechtsprofessor, der ebenfalls in diesem Kommentar mitschreibt, hat jetzt den C.H.Beck-Verlag aus München, in dem der Kommentar erscheint, aufgefordert, Maaßen von der Liste der Autoren zu streichen.

Seine Begründung: Maaßens politische Ansichten und seine in der Tat oft sehr missglückten und völlig inakzeptablen Äußerungen auf Twitter. Er bekommt inzwischen Unterstützung in verschiedenen Medien, aber auch deutliche Kritik. Der Verlag und die beiden Herausgeber des Buches weigern sich. Sie halten an Maaßen fest. Sie verweisen auf seine hohe fachliche Kompetenz. Seine politischen Ansichten halten sie für eine Privatsache, solange er sich auf dem Boden des Grundgesetzes bewegt. Und das bezweifelt niemand ernsthaft.

Cancel Culture in der Demokratie

Der Verfasser dieses Textes teilt die politischen Ansichten von Hans-Georg Maaßen nicht einmal im Ansatz und würde ihm inhaltlich immer widersprechen. Aber hier geht es nicht um die umstrittene Person, sondern um die Wissenschaftsfreiheit, die Meinungsfreiheit und letztlich die Demokratie. Es ist eine beunruhigende Tendenz, die sich in immer weiteren Bereichen der öffentlichen Diskussion beobachten lässt. Man diskutiert konträre Ansichten nicht mehr.

Meinungen, die dem – vielleicht nur angeblichen – Mainstream widersprechen, werden aus der Diskussion entfernt. Und noch viel problematischer: Personen, die eine solche abweichende Ansicht vertreten, werden persönlich angegriffen, nicht selten stigmatisiert und aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen. Das haben wir in den Hochzeiten von Corona immer wieder erlebt. Wer die Corona-Politik kritisch hinterfragt hat, war ganz schnell als „Querdenker“ oder „Coronaleugner“ abgestempelt – und öffentlich nicht mehr sichtbar. Ob die Argumente sachlich Substanz hatten, war irrelevant. Das sollte in einer Demokratie ein abschreckendes Beispiel sein, kein Muster für zukünftige Debatten.
 

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Diese Cancel Culture ist zutiefst undemokratisch. Eine Grundidee der Demokratie ist der freie Wettbewerb der Ideen, Argumente und Lösungsvorschläge. Die Demokratie erkennt man daran, wie souverän sie mit abweichenden Meinungen umgeht. Alles kann im demokratischen Diskurs diskutiert werden. Daraus entwickelt sich dann die Lösung, die von der Mehrheit durchgesetzt und von der Minderheit akzeptiert und mitgetragen wird.

Die Cancel Culture steht für das Gegenteil: Bestimmte Meinungen sind tabu – und unbequeme Personen dürfen nicht mitdiskutieren. Das ist für eine Demokratie gefährlich. Denn nur wenn alle Aspekte eines Themas gesehen, diskutiert und berücksichtigt werden, wird die überstimmte Minderheit am Ende die Mehrheitsentscheidung akzeptieren. Und ohne diese Akzeptanz funktioniert die Demokratie auf Dauer nicht. 

Das Wesen von Wissenschaft

Forschung und Lehre sind frei, heißt es ganz klar und eindeutig im Grundgesetz. So schützt die Verfassung die Freiheit der Wissenschaft. Dahinter steht die Erkenntnis, dass nur eine freie Wissenschaft wertvoll für Staat und Gesellschaft sein kann. Im Kern ist Wissenschaft der freie Austausch und die kritische Diskussion aller denkbaren Ideen. Natürlich sind davon nicht nur kluge und wertvolle, sondern auch abseitige und gefährliche Ideen geschützt.

Letztlich erkennt man aber erst durch die wissenschaftliche Diskussion, welche Idee gut und wertvoll ist – und welche dumm oder schädlich. Um es zuzuspitzen: Das Wesen von Wissenschaft ist Freiheit. Mit der Wissenschaftsfreiheit des Grundgesetzes lässt sich die Cancel Culture noch nicht einmal ansatzweise vereinbaren. Ideen und Personen von vornherein von der Diskussion auszuschließen, macht auf Dauer die Wissenschaft kaputt.

Unzählige kleine Entscheidungen 

Natürlich plant niemand, die Wissenschaftsfreiheit in Deutschland abzuschaffen. Es gäbe auch in keinem Parlament eine Mehrheit dafür. Aber für die Wissenschaftsfreiheit gilt dasselbe wie für die Freiheit insgesamt: Sie stirbt zentimeterweise. Es sind unzählige kleine Entscheidungen, Geschehnisse, Weichenstellungen und Verhaltensweisen, die sich auf die Dauer summieren und die Wissenschaftsfreiheit beschädigen. Deshalb muss die demokratische Öffentlichkeit auch bei kleinen Ereignissen aufmerksam und empfindlich sein.

Um solch eine kleine, aber fatale Entscheidung geht es hier. Es ist nicht wichtig, ob Hans-Georg Maaßen im Grundgesetzkommentar mitschreiben darf oder nicht. Es geht aber nicht, dass ein fachlich anerkannter Autor wegen seiner politischen Meinungen aus der (akademischen) Öffentlichkeit verbannt werden soll. Das ist Cancel Culture und verletzt die Idee der Demokratie und der Wissenschaftsfreiheit.

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