Anne Wills letzte Sendung - Tschüss dann, Frau Will

Gut 16 Jahre lang war der TV-Talk von Anne Will ein Pflichttermin für politische Beobachter. In ihrer letzten Sendung machte sie noch einmal das ganz große Fass auf und sprach mit ihren Gästen über die multiplen Krisen unserer Zeit.

Finale Runde bei Anne Will, unter anderem mit Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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„Die Welt in Unordnung – Ist Deutschland den Herausforderungen gewachsen?“ Der Sendungstitel der allerletzten Folge Anne Will, die am 1. Advent 2024 ihren Ausstand im Ersten moderierte, war gut gewählt. Kein konkretes Thema, sondern eine Bestandsaufnahme aller Krisen, mit denen sich Deutschland und die Ampel-Regierung, die diese teils selbst verursacht hat, derzeit herumschlagen muss, sollte es sein. 

„Wir haben uns vorgenommen: Wir kehren nochmal zusammen, was es in diesem Jahr an großen Krisen, an großen Linien, an Kriegen gab, das waren gleich einige“, so die Moderatorin in ihrer allerletzten Anmoderation. Nahostkonflikt, Ukraine-Krieg, Klimawandel, Ampelkrise: ein Bauchladen an Themen, besprochen in einer Stunde, acht Minuten und elf Sekunden, inklusive Abschiedszeremoniell. 

Zu Gast waren: Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), der Schriftsteller Navid Kermani, habilitierter Orientalist und Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Raphael Gross, Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum, sowie die Politikwissenschaftlerin Florence Gaub, Direktorin des Forschungsbereichs am NATO Defense College.

Geopolitische Fragen

„Ich habe Angst vor einem Szenario, dass der Westen die Ukraine mehr oder weniger fallen lässt, sicher nicht so schlagartig wie Afghanistan, aber doch so, dass man sich an diesen Krieg gewöhnt, so wie man sich an den Krieg im Donbass gewöhnt hat seit 2014, und die Ukraine verbluten lässt.“ Mit dieser Aussage von Kermani, die er im Interview mit dem Tagesspiegel vor anderthalb Monaten getätigt hatte, begann die Diskussion.
  

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Nun ist es immer so eine Sache, wenn sich Schriftsteller in geopolitische Debatten einmischen respektive sich zu geopolitischen Fragen äußern. Da ist dann häufig mehr Pathos als Analyse im Köcher. „Die Ukraine hat zu wenig zum Leben, aber zu viel zum Sterben“ ist dann auch so ein typischer Satz, den Kermani in der Sendung sagte. Aber einen Punkt hat er sicherlich: Denn in der Ukraine, sagen Leute, die sich damit auskennen, geht es derzeit kaum noch vor und zurück. 

Mechanischer Aktionismus

Die Ukraine und Russland sind also gleichermaßen gefangen in einem Stellungs- und Abnutzungskrieg, der zwar tagtäglich hunderte Menschenleben kostet, aber weder für die eine, noch die andere Kriegspartei irgendeinen Nutzen hätte. Noch mehr Waffen liefern! Das ist so ein Reflex, der gerne greift, wenn aus moralischem Anspruch mechanischer Aktionismus wächst. „Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir mehr tun müssen, um die Ukraine zu unterstützen“, sagte Robert Habeck bei Anne Will, obgleich ein Wettrüsten in der Ukraine den Ukraine-Krieg wohl kaum beenden wird.  

Zum Thema sei an dieser Stelle dieser sehr gute Podcast des Journalisten und Kriegsreporters Paul Ronzheimer (Bild/Welt) empfohlen. Darin bespricht er mit seinem Kollegen Julian Röpcke, was der Stand der Dinge in der Ukraine ist. Und vielleicht wäre es, nachdem die Ukraine derzeit in den zweiten Kriegswinter seit dem russischen Überfall geht, auch schlicht an der Zeit für eine realistische Bestandsaufnahme, aus der hervorgeht, wie die strategischen Ziele aussehen sollen und inwiefern sich diese in der Ukraine von der Ukraine erreichen lassen. 

Florence Gaub zum Beispiel sagt, dass es desto besser für Russland sei, je länger der Krieg noch laufe: „Für die russische Regierung geht es um einen größeren globalen Konflikt; um eine neue Weltordnung“, so Gaub. Und weiter: „Es geht bei der Ukraine nicht nur um Waffenlieferungen, es geht auch um Training. Und Training braucht Zeit.“ Erfolge dieser Trainings erwartet Gaub erst im Laufe des kommenden Jahres. Sie sagte aber auch: „Ein Konflikt hat eine innere Uhr. Ultimativ werden die beiden Kriegsparteien irgendwann entscheiden müssen: Sind wir jetzt bereit, an den Entscheidungstisch zu kommen, weil wir beide müde sind?“ 

Bedrängt von akuten Problemen

Das Problem aus deutscher Sicht: „Deutschland ist in Bezug auf viele Weltprobleme faktisch irrelevant“, sagte Schriftsteller Kermani richtigerweise. Das gilt in Teilen für die Ukraine, aber freilich auch für viele andere Probleme und Krisenherde dieser Welt. Zum Beispiel für den Konflikt im Nahen Osten, der letztlich ohne Deutschland stattfindet, weil Länder wie die USA, als größter Unterstützer Israels, oder Katar, das gute Kontakte zur Hamas unterhält, deutlich wichtiger sind in dem Zusammenhang.

„Wir sind umzingelt von Wirklichkeit. Der ganze Tag ist bedrängt von akuten Problemen, die gelöst werden müssen“, analysierte der Bundeswirtschaftsminister richtig, wenn auch etwas sehr verkopft am Sonntagabend. Dass die Bundesregierung manch ein Problem, das nun gelöst werden muss – von der semi-sozialistischen Energie- und Wirtschaftspolitik bis zum verfassungswidrigen Nachtragshaushalt – selbst verursacht hat, kam ihm allerdings nicht über die Lippen. Auch das mittlerweile eher schlechte Verhältnis zu Frankreich, ebenfalls kurz Thema bei Anne Will, hat Deutschland mit-verursacht. 

Kermani fehlt eine große Vision für die Europäische Union, die, auch darauf wies Kermani hin, durchaus gewisse Legitimationsprobleme hat aus demokratischer Sicht. Und während die Briten bereits ausgetreten sind, hat in den Niederlanden kürzlich der Rechtsaußen Geert Wilders die Parlamentswahlen gewonnen. Auch Wilders kokettierte in den vergangenen Jahren immer wieder mit einem Ausstieg seines Landes aus der EU. Italien steigt unter Meloni zwar nicht aus – anderes war durchaus befürchtet worden – orientiert sich aber stark national. Und Deutschland? Nun ja, um Deutschland macht man sich durchaus Sorgen in der EU, da befürchtet wird, wir könnten in diesem Jahrzehnt zum „kranken Mann Europas“ werden. 

Dem Schweizer Gross, Historiker und Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum, unterstellte Will mit einem Augenzwinkern, er könne sich die Krise der EU – sollte es eine solche überhaupt geben, worüber sich die Runde nicht einig war am Sonntag – gelassen ansehen. Gross sagte: „Wir alle haben den Eindruck, dass Rechtsstaatlichkeit, demokratische Einrichtungen, Menschenrechte; dass all diese Errungenschaften der Aufklärung und der Zeit danach unter Druck sind. Und dass auch einige dieser europäischen Länder schon sehr weit weg sind von Rechtsstaatlichkeit.“ Er plädierte dafür, gemeinsame Werte nicht geographisch festzumachen, sagte etwa, dass ihm ein Menschenrechtsaktivist in Shanghai wohl näher sei als Viktor Orban oder Donald Trump.  

Nach der Rückkehr der Geiseln

Anschließend ging es um den Nahostkonflikt, wo seit dem Gefangenenaustausch – verurteilte Straftäter palästinensischer Herkunft gegen von der Hamas entführte Geiseln – nun wieder gekämpft wird. Wie die Deutsche Presse-Agentur am Wochenende berichtete, hat das israelische Militär seine Einsätze am Boden mittlerweile auf das gesamte Palästinensergebiet ausgeweitet. Hunderttausende Palästinenser sind nach Anweisungen des israelischen Militärs aus dem umkämpften Norden des abgeriegelten Küstengebiets bereits in den Süden geflohen, wo es nun auch verstärkt Kämpfe am Boden geben dürfte.

Israel hält an seinen Zielen fest: Nach der Rückkehr der Geiseln soll die Hamas eliminiert werden. Daran gibt es unter anderem von Emmanuel Macron Kritik, der das Ziel als unrealistisch wertet. „Dass Israel im Gazastreifen humanitäre Belange und kriegsrechtliche Vorgaben einhalten muss, ist unbestritten“, sagte Habeck bei Will. Aber auch: „Mit der Hamas wird es sicherlich aus israelischer Sicht keinen Frieden mehr geben können.“ 

Schmerzen beider Völker

Kermani plädierte dafür, „die Schmerzen beider Völker zu sehen“. Er sagte: „Es wäre gut, wenn die Welt, die diesen Konflikt 20, 30 Jahre ignoriert hat, (...) jetzt sieht: So kann es doch nicht weitergehen. Und darüber nachdenkt: Wie kann eine Lösung aussehen, auch während des militärischen Konfliktes?“ Er sagte außerdem, dass auch die Palästinenser Geiseln der Hamas seien. Ob dem generell wirklich so ist, lässt sich allerdings diskutieren. 

Schließlich wurde die Hamas, nachdem verurteilte Palästinenser von Israel aus den Gefängnissen entlassen wurden, im Gazastreifen gefeiert. Im Westjordanland wurden jüngst zudem zwei Männer von einem palästinensischen Mob gelyncht, weil sie im Verdacht standen, mit Israel kooperiert zu haben. Insofern darf zumindest als strittig gelten, ob sich so einfach ein Unterschied machen lässt zwischen den Palästinensern und der Hamas. 

Gross: „Wenn jemand diese Sprache der Gewalt bedient, wie das die Hamas gemacht hat am 7. Oktober, dann ist es unglaublich schwer, schnell zu sagen: Wir sehen irgendwie eine Friedensoption.“ Und weiter: „Ich habe keine Lösung. Ich sehe keine Lösung im Moment.“ Er glaubt nicht daran, dass das Interesse groß genug sei auf beiden Seiten, den Konflikt zu lösen. Kermani sieht zudem die Gefahr, dass sich Israel von der Weltgemeinschaft isolieren könnte, wenn das Land seine Offensive weiter fortsetzt. 

Habeck: „Ich würde widersprechen, dass es exakt so gelaufen ist, wie sich die Hamas das vorgestellt hat. Bestimmte Dinge sind nämlich nicht passiert, die Hisbollah ist nicht eingetreten in diesen Konflikt. (...) Die arabischen Staaten um Israel drumherum wollen zwar auf Israel einwirken, aber den Versöhnungsprozess, der davor eingesetzt hatte, auch fortführen. (...) Das kann nicht im Sinne von Hamas sein.“ Habeck glaubt, ähnlich wie bei der Ukraine, dass man erkennen müsse, dass die Dinge, wie sie gelaufen seien, so nicht weiterlaufen können. Und Habeck erinnerte daran: „Die Hamas will Israel auslöschen.“ Er hofft, dass aus dem aktuellen Konflikt am Ende wieder mehr Raum für Dialog entstehen könnte. 

Finanzierung aller Ampelprojekte

Abschließend kam auch noch die Haushaltkrise der Ampelregierung zur Sprache. „Wir versuchen, diese Gelder zu kompensieren“, so Habeck, wollte aber in der Sendung am Sonntag nicht viel konkreter werden. Nicht konkret zu werden, sei derzeit „weise“, so Habeck, sagte aber immerhin, dass die Kompensation nur gelingen könne, „wenn an anderer Stelle Zumutungen ertragen werden“. 

Anders formuliert: Geht es um den verfassungswidrigen Nachtragshaushalt scheppert derzeit noch vor allem die Luft, ohne, dass dabei größere Erkenntnisse zur Finanzierung aller Ampelprojekte transportiert würden. Und damit können wir den inhaltlichen Teil dieser Sendungsbesprechung dann auch beenden, auch, wenn Will Habeck noch einige Minuten zu grillen versuchte. Der ließ sich außer einem Plädoyer für mehr Zuversicht nichts mehr von Gehalt abringen. 

Kermani nutzte die Gunst der Minute und baute Will eine Brücke zum Abschied aus dieser allerletzten Sendung: „Bevor Sie jetzt Ihr Schlusswort sagen, möchte ich einmal sagen, es ist ja Ihre letzte Sendung: Dankeschön.“ Und Habeck pflichtete bei: „Danke Ihnen für 16 Jahre Aufklärung. Das war stilprägend.“ 

„Seien Sie nett zu ihr, sie ist es auch“

Es folgten Wills Schluss- und Abschiedsworte an die Zuschauer gerichtet: „Ich möchte mich bei Ihnen auch bedanken für das große Vertrauen und das Interesse, das Sie uns entgegengebracht haben. Wir haben ja, muss man sagen, in den etwas mehr als 16 Jahren dann doch etliche Stunden miteinander verbracht. Ich muss sagen, mir war das eine Freude.“ Es sei ihr eine „echte Ehre“ gewesen, auch wenn das etwas pathetisch klingen möge. Will bedankte sich beim NDR und bei ihrem Team. „Das werde ich Ihnen nie vergessen, was Sie hier geleistet haben.“ 

Künftig übernimmt Caren Miosga den Sonntagabend als Nachfolgerin von Anne Will – „und wird das ganz sicherlich super machen“, so Will. Die scheidende Moderatorin borgte sich noch ein Zitat, das Miosga ihrerseits über ihre Nachfolgerin Jessy Welmer bei den „Tagesthemen“ formulierte: „Seien Sie nett zu ihr, sie ist es auch.“ Es folgte ein Best-of-Zusammenschnitt von Anne Will aus den vergangenen Jahren, anschließend gab es Blumen für die Gastgeberin und einen Applaus ihres Teams, das zu ihr auf die Bühne kam. Cicero sagt: Tschüss dann, Frau Will. Machen Sie es gut. 
 

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