Die Ängste der Deutschen - Mehr Fatalismus wagen

Nach der neuen „Angststudie“ fürchten sich die Deutschen mehr vor einer Überforderung des Staates durch Flüchtlinge als vor steigenden Mieten. Schuld daran sind die Politiker. Mit ihren Sicherheitsversprechen überfordern sie sich selbst

Wenn Angst politisch wird, wird sie zur Gefahr für das politische System / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Glaubt man dem Klischee von der „German Angst“, dann ist Angst ein sehr deutsches Phänomen, zumindest ein sehr bundesdeutsches. Gab man sich zu Kaisers Zeiten und erst recht danach hierzulande gerne nassforsch und betont zackig, so ist der Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg vom gestiefelten Pickelhaubenträger zum Angsthasen in Birkenstocks mutiert – könnte man meinen.

Falsch gedacht. Wie die am Donnerstag von der R+V Versicherung vorgestellte Studie „Die Ängste der Deutschen“ zeigt, hat in Deutschland die große Gelassenheit Einzug gehalten. „German Angst“? Fehlanzeige.

Seit 1992 befragt das Wiesbadener Versicherungsunternehmen alljährlich rund 2.400 Bundesbürger nach ihren Befindlichkeiten und Sorgen hinsichtlich Wirtschaft, Politik, Umwelt, Familie und Gesundheit. Und siehe da: Nie war man in Deutschland entspannter als heute. Klima? Greta? Weltuntergang? Für die Befindlichkeiten der Menschen spielen diese in der Öffentlichkeit massiv kolportierten Aufregerthemen keine Rolle. Offensichtlich sind das – man hat es sich fast gedacht – vor allem Medienphänomene.

Baden in Sorglosigkeit

Die tatsächlichen Sorgen der Deutschen, sofern sie überhaupt vorhanden sind, liegen auf ganz anderen Gebieten: der  Überforderung des Staates durch Flüchtlinge, inneren Spannungen durch den Zuzug von Ausländern, die Gefährdung der Weltpolitik durch Trump und der Überforderung der Politiker. Erst auf den hinteren Plätzen folgen Themen mit unmittelbar privatem Bezug: die Bezahlbarkeit des Wohnraumes etwa (Platz 6), die Pflege im Alter (Platz 7) oder die steigenden Lebenshaltungskosten (Platz 10).  Das ist auch gar nicht verwunderlich. Denn Ängste sind Ausdruck realer Lebenssituationen. Je besser es den Menschen geht, desto weniger betreffen ihre Sorgen ihr unmittelbares Umfeld.

Generell gilt jedoch: Selbst die größten Ängste der Deutschen sind vergleichsweise schwach ausgeprägt. Bereiteten hierzulande in den 00er Jahren steigenden Lebenshaltungskosten und später vor allem die EU-Schuldenkrise vielen Menschen erhebliche Sorgen, so badet der Deutsche des Jahres 2019 in einem Meer von Zufriedenheit und Sorglosigkeit. Eine Konstante gibt es jedoch seit Jahrzehnten: Die Deutschen misstrauen ihren Politikern. 47 Prozent der Befragten zweifeln derzeit daran, dass Politiker ihren Aufgaben gewachsen sind – und das in Jahren großer persönlicher Zufriedenheit. In Krisenzeiten ist diese ohnehin hohe Skepsis gegenüber dem politischen Führungspersonal naturgemäß noch größer. Das bedeutet im Klartext: Dass es dem Land momentan recht gut geht, ist aus Sicht der Bevölkerung kein Verdienst der Politik. Und wenn eine Krise kommen sollte, wähnt man das Land in den Händen einer überforderten Kaste.

Wo Angst politisch wird

Hier spiegelt sich ein Dilemma. Denn Politik spielt nun einmal gerne mit Ängsten. Schließlich ist Angst unsere grundlegendste, unsere tiefste Emotion. Und unsere größte Motivation. Deshalb versuchen wir alles, um uns eine möglichst angstfreie Umwelt zu schaffen: Wir bauen Häuser und Städte, Zäune und Mauern, erleuchten die Nacht und sichern den Tag. Und schließlich schaffen wir uns einen Staat, der uns von Kälte, Hunger und Not befreien soll.

Spätestens hier wird Angst politisch. Und das Spiel mit der Angst zu einer Gefahr für das politische System. Denn mit ihren Sicherheitsversprechen überfordert sich die Politik selbst. Kein Staat, keine Partei und kein Politiker dieser Welt kann uns ein sorgenfreies oder gar angstfreies Leben bescheren. Das Leben kann schiefgehen. Es birgt Gefahren. Unvorhersehbares kann jederzeit geschehen. Das gilt erst recht in einer zunehmend komplexen und zentral nicht mehr steuerbaren Welt.

Mehr Fatalismus wagen 

In ihrem verständlichen Bemühen um Zuspruch erliegen Politiker jedoch der Versuchung, den Menschen eine möglichst angstfreie Existenz zu versprechen: frei von sozialen Sorgen, von Arbeitslosigkeit, von Umweltkatastrophen und belegten Kindergartenplätzen. Aber die Problemlösungsfähigkeit von Politik ist begrenzt, zumal in spätmodernen Gesellschaften. Das Ergebnis: Sie wird als zunehmend inkompetent wahrgenommen. Doch statt sich das selbst und den Bürgern einzugestehen, reißt sie immer mehr Kompetenz an sich, von der Ernährung bis zur Kindererziehung – ein Teufelskreis mit absehbaren Folgen.

Vielleicht sollten wir einfach mehr Fatalismus wagen. Nicht jedes Problem ist durch Politik lösbar, und nicht auf jede Angst hat Politik eine Antwort. Und im Grunde ist das ja auch gut so. 

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