Berlin ist überall - Geheime Wahlen sind ein Schutzschild für anonyme Feiglinge

Die peinlichen drei Wahlrunden im Berliner Abgeordnetenhaus fielen unter den Schutz der anonymen Wahl. Meist schlägt dann die Stunde der listigen Heckenschützen - und das auf Kosten der ehrlichen und mutigen Politiker dieses Landes und des Ansehens der Demokratie insgesamt.

Franziska Giffey (SPD) bei der Wahl des neuen Bürgermeisters im Plenarsaal des Berliner Abgeordnetenhauses / picture alliance
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Autoreninfo

Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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Das ist – je nach Sichtweise – das Schöne oder Schlimme bei geheimen Wahlen im Parlament: Hinterher kann jeder das Ergebnis nach Belieben interpretieren. Selbst wenn alle beteiligten Abgeordneten nachträglich offenlegten, wem sie ihre Stimme gegeben oder verweigert haben, bewiese das nichts. Denn der Wahrheitsgehalt solcher Aussagen ist mit Vorsicht zu genießen – und Gegenbeweise sind nicht möglich.

Im Bundestag und in den Landesparlamenten sind geheime Abstimmungen selten – bei der Wahl des Regierungschefs und gegebenenfalls bei einem Misstrauensvotum. Sonst wird offen abgestimmt. Deshalb sind geheime Wahlen die große Stunde für anonyme Feiglinge jeder Art – für parteiinterne Rebellen, für vermeintlich oder tatsächlich Zukurzgekommene, für Rachsüchtige und zum Begleichen offener Rechnungen. Hier kann, wer will, es dem ungeliebten Partei- oder Fraktionsvorsitzenden mal richtig zeigen – ohne dass er Farbe bekennen muss. Denn das könnte Ärger nach sich ziehen und im schlimmsten Fall den Verlust des sicheren Wahlkreises oder Listenplatzes bei der nächsten Wahl.

Prädikat „Dit is Berlin“ trifft ausnahmsweise nicht zu

Die peinlichen drei Wahlrunden im Berliner Abgeordnetenhaus verdienen ausnahmsweise nicht das Prädikat „Dit is Berlin“. Auch ist der Verweis auf den „failed state“ ausnahmsweise nicht angebracht. Dass ein Bewerber nicht alle Stimmen der vermeintlich hinter ihm stehenden Koalition bekommt, ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Das war bei Angela Merkel vier Mal so und bei Olaf Scholz gleichfalls. Das ist bei der Bestellung von Ministerpräsidenten fast zur Regel geworden.

Wenn die tatsächlich erreichte Stimmenzahl unter der „rechnerischen“ bleibt, ist das ärgerlich, aber meistens nicht weiter tragisch. Das Minus ist nach Amtsantritt schnell vergessen. Ganz anders verhält es sich, wenn die Abweichler, weniger freundlich: Heckenschützen, den Kandidaten der Mehrheit scheitern lassen. 

Selbst wenn ein Wahlergebnis exakt das Stimmenverhältnis von Regierungsparteien und Opposition widerspiegelt, heißt das noch lange nicht, dass beide Seiten ihre Reihen geschlossen haben. Wahrscheinlich kommt es durchaus vor, dass es auf beiden Seiten gleich viele Abweichler gibt. Das schöne Bild von geschlossen agierenden Fraktionen ist dann nicht anderes als eine mathematische Täuschung. 

Wohl der berühmteste Heckenschützen-Fall

Der Heckenschützen-Fall mit den weitreichendsten Folgen war zweifellos das 1972 gescheiterte konstruktive Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Willy Brandt (SPD). Oppositionsführer Rainer Barzel (CDU) fehlten zwei Stimmen. Brandt blieb Kanzler, konnte seine umstrittene Ostpolitik fortsetzen und machte die SPD bei der folgenden Bundestagswahl zum ersten Mal zur stärksten Fraktion. Die Umstände von Barzels Niederlage wurden nie geklärt. Mindestens zwei Unions-Abgeordnete waren von der DDR mit jeweils 50.000 DM bestochen worden.  

Spektakulär war auch der Fall des „Heide-Mörders“ im Jahr 2005. Damals fehlte Heide Simonis im schleswig-holsteinischen Landesparlament gleich vier Mal eine Stimme aus den Reihen von SPD, FDP und Südschleswigschem Wählerverband. Wer der Anonymus war, ist bis heute unbekannt. Simonis jedenfalls gab enttäuscht und verletzt auf, Peter Harry Carstensen (CDU) wurde ihr Nachfolger.

Bei geheimer Wahl offene Rechnungen beglichen haben 1974 auch zwei Abgeordnete des niedersächsischen Landtags. Die CDU hatte eine Stimme weniger als die Koalitionspartner SPD und FDP. Doch der CDU-Spitzenkandidat Ernst Albrecht hatte, als es darauf ankam, zwei Stimmen mehr, wurde Ministerpräsident und blieb es 14 Jahre lang. Wer ihm zur Macht verholfen hat, weiß außer den Beteiligten bis heute niemand.

Den Stimmzettel im Schutz der Anonymität zu nutzen, um einen Politiker loszuwerden und dabei die Mehrheitsverhältnisse zu verändern, ist eine Variante von Abweichlern. Es gibt auch noch eine andere – nämlich die pädagogische. Diese Erfahrung musste Christian Wulff (CDU) 2010 bei der Wahl zum Bundespräsidenten machen. Die Regierungsparteien CDU/CSU und FDP verfügten in der Bundesversammlung über die absolute Mehrheit. Doch Wulff verfehlte sie gleich zweimal, weil Unionsabgeordnete Merkel und Wulff aus unterschiedlichen Gründen einen Denkzettel verpassen wollten. Zudem war mancher FDP-Mann unzufrieden, weil die eigene Partei das Präsidentenamt bereitwillig der Union ohne Gegenleistung überließ. Erst im dritten Wahlgang schlug sich die rechnerische Mehrheit auch im Wahlergebnis nieder: absolute Mehrheit für Wulff.

 

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Viele Wahlen mit ähnlichem Verlauf wären anders ausgegangen, wäre offen abgestimmt worden. Dann hätte den meisten Abweichlern wohl der Mut gefehlt, den Erfolg der eigenen Partei oder Koalition zu gefährden. In gewisser Weise sind geheime Wahlen also ein Schutzschild für politische Feiglinge. Man fragt sich ohnehin, was in einem Politiker vorgeht, der seine Wähler um ihre Stimme bittet, um den Amtsinhaber zu behalten oder abzulösen, um dann im Parlament genau das Gegenteil zu tun.

Das Wahlgeheimnis ist ein für die Demokratie unverzichtbares Gut – aber in erster Linie für Wähler. Niemand soll und darf benachteiligt oder bevorzugt werden, weil er sein Kreuz bei A oder B macht. Keine Hintermänner sollen die Gelegenheit bekommen, Stimmen zu kaufen. Die Wahl soll frei sein – und frei ist eine Wahl nur, wenn sie auch geheim ist. Das gilt uneingeschränkt für die Wähler. 

Mutige Politiker brauchen keine geheimen Wahlen

Die Lage ist bei Abgeordneten eine völlig andere. Wer kandidiert, bekennt sich offen zu einer Partei und wirbt automatisch für den Spitzenkandidaten. Aber wenn es zum Schwur kommt, darf er dann das Mandat seiner Wähler missbrauchen, um dem eigenen Spitzenkandidaten zu schaden? Das hat mit Gewissensfreiheit nicht viel zu tun. Abgeordnete von SPD und CDU, die es am Donnerstag mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren konnten, für Kai Wegner zu stimmen, hätten ja ihr Mandat aufgeben können. Gut, dann wären die Diäten und die Versorgungsansprüche weg gewesen. Aber wer wird denn so krämerisch denken, wenn ihn das Gewissen quält?

Personalentscheidungen in Parlamenten fallen im Geheimen. Das hat sich so eingebürgert. Aber hat es sich auch bewährt? Eher nicht. In der Gesellschaft wächst die Neigung, eingegangene Verpflichtungen nicht so ernst zu nehmen, wenn die eigene Stimmungslage dem entgegensteht. „Wie’s mir gefällt“ wird auch in den Parlamenten zu einer sich schnell verbreitenden Attitüde. Da wird das Gewissen beschworen, um kleinkarierte Spielchen zu betreiben. Das klappt freilich nur im Schutz der Anonymität.

Politik ist nichts für Feiglinge; sie sollte es jedenfalls nicht sein. Ehrliche und mutige Politiker brauchen keine geheimen Wahlen. Ehrliche und mutige Politiker lassen ihre Parteifreunde und Parteigenossen wissen, wofür sie stehen – und vor allem auch ihre Wähler. Wenn alle wissen könnten, wer wen wählt, wäre das ein Beitrag zur politischen Hygiene. Geheime Wahlen dagegen verführen die Feigen und Unehrlichen. Das ist nicht nur in Berlin so. Berlin ist überall.

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