Studie belegt dramatische Entkirchlichung - Weniger Gott, mehr Politik?

Eine aktuelle Studie empfiehlt den Kirchen, sich weniger mit dem Religiösen und mehr mit dem Politischen zu beschäftigen. Das passt in die Selbstverzwergungslogik mancher Funktionäre und könnte sich als unheiliger Irrtum erweisen.

Steht der Kirche das Wasser bis zum Hals? Kirche St.Katharina von Alt-Graun im Reschensee, Südtirol /dpa
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Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

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Jeden Tag werden in Deutschland rechnerisch gesehen rund 754 Kinder christlich getauft. Das sind immerhin rund 38 Prozent aller Geburten täglich. Der Anteil der Kirchenmitglieder an der Gesamtbevölkerung beträgt knapp 50 Prozent. Das sind statistische Zahlen. Legt man sie neben die Ergebnisse der jetzt veröffentlichten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) sind sie doch erstaunlich.  

Laut den von der Evangelischen Kirche und der Deutschen Bischofskonferenz jetzt vorgelegten Umfragezahlen gibt es in Deutschland nur noch 13 Prozent kirchlich-religiös eingestellte Menschen. An Gott und Jesus glauben nur noch 19 Prozent der Deutschen. Alle anderen sind irgendwie distanziert, säkular oder alternativ. Und das Vertrauen in die Kirchen sei auf dem Tiefpunkt, so die Schlussfolgerung der repräsentativen Befragung. Aber warum also entscheiden sich überhaupt noch so viele für die Taufe? 

Keine Frage, die Entkirchlichung unserer Gesellschaft nimmt kräftig Fahrt auf. Sie ist neben der Digitalisierung und Globalisierung wahrscheinlich die wichtigste und dramatischste Großentwicklung der letzten 70 Jahre. Dabei ist vor allem die Selbstverständlichkeit von Kirchenmitgliedschaft, religiöser Praxis im Alltag und dem gesellschaftlichen Ansehen der kirchlichen Institutionen völlig erodiert. Vor 20 Jahren gingen noch rund 20 Prozent der Katholiken regelmäßig in die Kirche, jetzt sind es nur noch rund 6 Prozent. Und die neue Studie erklärt: die Katholische Kirche genieße ungefähr so viel Vertrauen wie islamische Institutionen, knapp hinter den Parteien. Doch was sagt das aus?

Kein Zurück zur Volkskirche

Der katholische Kardinal Reinhard Marx hat mal gesagt, er wolle gar nicht in die 1950er Jahre zurück, denn da sei Glaube und Religion keine individuelle Entscheidung gewesen, sondern oft nur Gewohnheit und Konvention. Nun scheint es so, dass die Kirchenmitgliedschaftsstudie genau das nur ungenügend berücksichtigt. Gott, Glaube und Kirche sind heute etwas völlig anderes als früher. Die schrumpfende Kirche wird aber alarmistisch beschrieben, anstatt zu konstatieren, dass das, was „Kirche“ meint, etwas völlig Verschiedenes geworden ist von dem, was es mal war. 42 Prozent der Katholiken gehen mehr als einmal im Jahr in die Kirche, das ist wenig angesichts der Vergangenheit, aber das ist angesichts heutiger Lebensgewohnheiten vielleicht gar nicht so ganz wenig. Nur ein Zurück zu alten Zeiten, das gibt es natürlich nicht mehr. 

Die neue Studie liefert ein Ergebnis, das den kirchlichen Funktionsträgern schmecken könnte, aber dem eine gewisses Paradoxie inne wohnt. „Heiliges wird nicht erwartet, die Nachfrage nach Religion ist gering“, stellen die Autoren fest. Sie diagnostizieren, dass 43 Prozent der katholischen und 37 Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder derzeit „austrittsgeneigt“ seien. Von einem Austritt abgehalten würden sie, wenn die Kirchen „deutlicher bekennen würden, welche Schuld sie auf sich geladen haben“. Radikale Reformen seien nötig, mehr Gleichberechtigung der Geschlechter und Veränderung! Kurz: die Krise der Institution belastet das Vertrauen. Aber was ist der Weg in die Zukunft? Weder die evangelische noch die katholische Kirche haben mit den jeweils sehr unterschiedlichen Wegen der letzten Jahrzehnte eine Strategie gegen den Säkularisierungstrend gefunden. Auch eine veränderte, reformierte und schuldbewusste Kirche wird keine schlichte Rückkehr des Religiösen bringen. 

Kirchen müssen Religionsanbieter bleibe

Der Meinungsforscher Thomas Petersen warnt gegenüber Cicero deswegen vor Fehlschlüssen. „Wenn Unternehmensberater den Kirchen empfehlen, sich doch vom Religiösen zu trennen und sich aufs Gesellschaftspolitische zu verlagern, ist das zwar nachvollziehbar, nur, dann sind die Kirchen eben keine Kirchen mehr, sondern NGOs.“ Der Markt für das Religiöse schrumpfe in der Gesellschaft, aber eine Kirche könne sich qua Definition kein neues Geschäftsfeld suchen. Im Übrigen habe der Versuch der letzten Jahrzehnte, sich mit politischen Themen einen Namen zu machen, eben keinen Erfolg gehabt, so Petersen.  

Knapp 80 Prozent der Befragten sagen aber laut der Studie, die Kirchen sollten sich weniger auf Gottesdienste konzentrieren. Klimaschutz, Seenotrettung für Flüchtlinge, Demokratisierung der Kirche seien wichtig. Was also geht vor? Es steht doch zu befürchten, dass hier die Befragung einer Self-fulfilling Prophecy aufsitzt, sie bestätigt nur, was sie selbst als Mindset voraussetzt. Es wurden rund 5000 Leute repräsentativ und anonym befragt, um, so die Macher, die „soziale Erwünschtheit“ bei der Beantwortung der Fragen zu minimieren. Doch wen wundert es, wenn die Mehrheit, die mit Religion nichts mehr anfangen kann, den Kirchen empfiehlt, sich weniger mit dem Religiösen zu beschäftigen?

Kohlgraf: Ostern bleibt Ostern

Bei der Vorstellung der Studie hat der katholische Bischof von Mainz, Peter Kohlgraf, dann auch sozusagen trotzig reagiert, als er sagte, er werde auch künftig an Ostern über die Auferstehung Christi predigen, auch wenn die Mehrheit der Menschen lieber andere Themen im Programm hätte. Unerhört, mögen manche ihm vielleicht zurufen, die Studie verlangt etwas anderes. Doch Kohlgraf sagt zu recht: „Wir würden uns in die Tasche lügen, wenn wir davon ausgehen, dass wir uns einfach nur besser auf die Menschen einstellen müssen und dann wieder alles in Ordnung sein wird. Es gibt nicht nur ein Problem des religiösen Angebots, sondern auch der religiösen Nachfrage.“

Anders bewertet das, wenig überraschend, die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Irme Stetter-Karp. Die „erschreckenden“ Ergebnisse der Erhebung seien ein „deutliches Signal“, dass nun Veränderungen vorangetrieben werden müssten. Etwa, dass Priester heiraten dürfen, homosexuelle Partnerschaften gesegnet und Führungspersonen demokratisch gewählt werden, das wünschten sich die Katholiken und auch alle anderen. Doch hier beginnt das in der Kirche beliebte Spiel des beherzten Aneinander-Vorbei-Redens. Die einen wollen die Institution reformieren und die anderen das Kerngeschäft stärken. Insgesamt ändert beides nichts an der grundlegenden Zeitenwende. Das zeigt nicht nur ein Vergleich mit der evangelischen Kirche, das belegt auch die Studie. Kein Reformprozess bringt die Volkskirche zurück. Und auch keine „Reformverweigerung“ lässt den Gottglauben vom Himmel regnen.

Der Religionssoziologe Detlef Pollack, der selbst an der Studie mitgewirkt hat, weist auf Fehlinterpretationen hin. Keinesfalls sollte die katholische Kirche in der Krise nun von der evangelischen Kirche zu lernen versuchen. Weder Individualisierung noch Politisierung hätten bei der Kirche zu Wachstum und mehr Nachfrage geführt. Es reiche überhaupt nicht aus, „katholische Theologie über eine Abgrenzung von der Kirchenhierarchie zu betreiben", schreibt er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Gegen eine Kirche als „heiliger Rest“ 

Kurz gesagt: Kirchenkritik bringt die Skeptiker nicht zurück in die Kirche. Bischof Kohlgraf sagt, die Kirche dürfe sich nicht als „heiliger Rest“ verstehen, „der sich schmollend zurückzieht und abschottet“. Doch auf der anderen Seite braucht kein Mensch eine Kirche, die sich selbst und ihr Kerngeschäft verachtet und  nur darauf schielt, endlich wieder beliebt und attraktiv zu werden.

Und so bietet die Studie auch verblüffende Zahlen, die in die simple Soziologen-Logik nicht zu passen scheinen. Von den Konfessionslosen in Deutschland sagen 34 Prozent, sie hätten Kontakt zu einer Person gehabt, die in der Kirche tätig ist. Und diese Begegnung ist für die Mehrheit dieser ansonsten Kirchenfernen bedeutsam gewesen. Wieso, möchte man fragen. Insgesamt hatten rund 50 Prozent aller Befragten Kontakt zu einem Kirchenmenschen, 30 Prozent von ihnen sagen, die Begegnung sei sogar wichtig für ihren persönlichen Glauben gewesen. Verblüffend! Und so ist auch ein Ergebnis der Studie, dass die Kirche weiterhin eine hohe Reichweite genießt und für ihr soziales Engagement geschätzt wird. 

Selbstverzwergung der Kirche

Die Kirche betrachtet und betrauert gerne ihren eigenen Niedergang. Die Evangelische Kirche lässt diese Kirchenmitgliedsstudie bereits seit 1972 anfertigen, ohne dass es irgendeine positive Wirkung gehabt hätte. Dieses Jahr ist das erste Mal die katholische Kirche dabei, das scheint kein gutes Zeichen zu sein. Bei aller Säkularisierung und Entkirchlichung stellt sich bisweilen der Eindruck ein, dass die institutionalisierten und mit reichlich Kirchensteuermillionen noch gutausgestatteten Kirchen an dem, was sie eigentlich ausmacht, ebenso ein schrumpfendes Interesse haben wie die Mehrheit im Land.

Erstaunlich ist, dass die Studie bei der Vertrauenshitliste „Kirche“ und „Caritas/Diakonie“ getrennt ausweist. Will man das Religiöse da in eine Badbank abschieben? „Caritas/Diakonie“ stehen hinter den Universitäten und der Justiz auf Platz drei der vertrauenswürdigsten Institutionen. Das scheint eine zu positive Botschaft, die in die Selbstverzwergungsstratgie mancher Kirchenverwalter nicht zu passen scheint. Bevor über „Mehrwert“ und „gesellschaftliche Relevanz“ gesprochen wird, sollten die Kirchen mal überlegen, was sie eigentlich fern aller Umfrage selber sein wollen. Vielleicht hat das dann doch mehr mit der Taufe der 754 Kinder täglich zu tun, als mit den Umfrageergebnissen.

 

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