Streitgespräch - „ Deutschland hat seine Naivität kultiviert “

In der Ukraine wird der „European Way of Life“ verteidigt, meint der CSU-Politiker Manfred Weber. Das ist ein Schönreden der Realität, sagt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Ein Streitgespräch über Krieg und Frieden.

Herfried Münkler und Manfred Weber diskutieren die Implikationen des Ukraine-Kriegs für den Westen / Max Kratzer und Jeannette Petri
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Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

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Herfried Münkler ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Bekannt wurde er durch seine Beschäftigung mit Machiavelli. Ein viel beachtetes Werk Münklers war auch „Die neuen Kriege“ (2002). Zuletzt erschien von ihm „Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch“ (2021).

Manfred Weber ist Vorsitzender der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament. Der CSU-Politiker trat bei der Europawahl 2019 als Spitzenkandidat für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten an.

Der Krieg in der Ukraine wird als Zeitenwende beschrieben. Aber zunächst konkret: Wie bewerten Sie die Entwicklung in den umkämpften Regionen, Herr Weber? 

Manfred Weber: Nach allem, was wir heute wissen, handelt es sich bei den jüngsten Vorfällen, etwa denen aus dem Ort Butscha in der Nähe von Kiew, um eine neue Eskalationsstufe, die einen Zivilisationsbruch markiert, den wir auf europäischem Grund und Boden erleben. Weltweit gibt es solche kriegerischen Gräueltaten leider Gottes nach wie vor, aber in Europa hatten wir gedacht, dass so etwas mit dem letzten großen Krieg, mit dem Jugoslawienkrieg, überwunden ist. Präsident Wladimir Putin ist ein Kriegsverbrecher – und mit ihm das russische System. Deshalb müssen wir auch alle Möglichkeiten nutzen, die wir auf internationaler Ebene haben, um Gerechtigkeit walten zu lassen.

Lassen sich jetzt schon historische Vergleiche anstellen? Ist es richtig, bereits von Kriegsverbrechen zu sprechen, vom Kriegsverbrecher?

Herfried Münkler: Wenn man die Grundsätze des Völkerrechts anlegt, dann ist das wohl so. Das beginnt bei der Führung eines Angriffskriegs, der am 24. Februar begonnen hat, und endet bei den Massakern an der Zivilbevölkerung. Für mich ist interessant zu erfahren, ob die Massaker von regulären russischen Einheiten verübt wurden oder von irregulären Verbänden, etwa Kadyrows Tschetschenen. Denn mir erschließt sich die Logik hinter den grausigen Massakern nicht. Wenn man die Zivilbevölkerung einschüchtern wollte, hat ein solches Massaker genau den gegenteiligen Effekt. Für die Ukrainer wurde noch mal deutlich: Kapitulieren und Aufgeben gibt es nicht. Bei dem russischen Rückzug zeigt sich, dass sich das Militär offenbar gegenüber den politischen Vorgaben verselbstständigt hat. Und das ist kein gutes Zeichen.

Welches Ziel vermuten Sie hinter dem Agieren Russlands?

Münkler: Nach Carl von Clausewitz gibt es den Zweck eines Krieges, der sagt mir, was ich mit dem Krieg erreichen will. Ziele hingegen sagen mir, was ich in dem Krieg erreichen will. Und mir scheint, dass sich das im Laufe des Ukraine­kriegs ändert. Zweck war zunächst, eine Marionettenregierung zu installieren, gewissermaßen einen Quasi-Lukaschenko in Kiew. Jetzt läuft es vermutlich eher auf das Ziel hinaus, die Ukraine vom Osten und Süden her zu verkleinern und auf diese Weise den russischen Zugang zum Schwarzen Meer westlich des Asowschen Meeres deutlich zu erweitern. Das ist eine erhebliche Veränderung in der Zwecksetzung des Krieges. Das heißt aber auch, dass wir in der augenblicklichen Phase davon ausgehen müssen, dass dieser Krieg noch Monate dauern kann. 

Weber: Nach meiner Auffassung passiert hier etwas anderes: Eine Idee gewinnt derzeit. Wenn wir beschreiben, dass die Ukraine stärker ist als erwartet und die Russen schwächer sind als vermutet, dann steht dahinter auch etwas Größeres. Das ukrainische Volk hat verinnerlicht, was es bedeutet, dass es seinen Präsidenten selbst wählen darf. Wir hatten von Petro Poroschenko zu Wolodymyr Selenskyj einen Präsidentenwechsel, der reibungslos funktioniert hat, weil Wahlen stattgefunden hatten und das Ergebnis akzeptiert wurde. Es gibt in der Ukraine eine freie Presse. Wir haben sicher große Probleme in dem Land, ich möchte das nicht kleinreden. Aber die Menschen haben ein Gespür bekommen, was der European Way of Life bedeutet: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit. Diese Idee ist auf dem Vormarsch. Die Menschen wollen sich ihre Freiheitsidee von diesem Diktator in Moskau nicht wegnehmen lassen. Sie denken: Wir wollen das nicht wieder verlieren. Wir wollen es für unsere Kinder bewahren. Das ist es, was gerade in der Ukraine gewinnt.

Und wie bewerten Sie das russische Vorgehen?

Weber: Ich würde die These von Herrn Münkler noch mal hinterfragen, dass die politischen Vorgaben dann vom Militär nicht umgesetzt worden sind. Wer sich die Bilder von Mariupol anschaut, wer die Zerstörung der zivilen Infrastruktur sieht und die zivilen Opfer, kann nicht davon ausgehen, dass das nicht auch der politischen Vorgabe aus Moskau entspricht. Ich gehe davon aus, dass dieser Kriegsverlauf jetzt genau die Reaktion ist auf die Stärke der Ukraine, die man in Moskau nicht erwartet hat.

Herr Professor Münkler, können Sie mit der Formulierung von Manfred Weber etwas anfangen: „Eine Idee gewinnt“?

Münkler: Für mich stellt sich eher die Frage, ob die Idee, wie Herr Weber es nennt, sich am Schluss durchsetzt, das heißt, ob die Ukraine am Ende zum Sieg in der Lage ist, ob sie dafür die Waffen bekommt, ob sie den langen Atem hat, um durchzuhalten. Wenn das der Fall ist, dann kann man hoffen, dass ein erheblicher Teil der Ukraine, der aber kleiner sein wird als das Gebiet, das sie einst hatte, in freier Selbstbestimmung ihre politische Struktur und auch die Frage ihrer bündnispolitischen Anlehnung entscheiden kann. Das allerdings ist noch nicht entschieden. Vielmehr hat sich das militärische Agieren verselbstständigt. Putin hat immer wieder erklärt, dass die Ukrainer ein Brudervolk seien, tendenziell eigentlich Russen. Wenn er jetzt auf diese Weise Krieg führt, hat das mit Brüderlichkeit und Befreiung nichts mehr zu tun. Die operative Umsetzung des Projekts ist ein Dementi seiner zentralen ideologischen Annahmen. Das ist strategisch und militärisch im Hinblick auf die ursprüngliche Zwecksetzung unlogisch. Das heißt aber nicht, dass sich eine Idee durchsetzt, es heißt nur, dass der fürchterliche Krieg weitergeht. In meinen Augen ist die Formel vom „Sieg einer Idee“ ein Schönreden dessen, was der Fall ist. 

Was muss passieren? Ist ein sofortiges Gasembargo das Mittel, um den Krieg zu verkürzen oder nicht?

Münkler: Die Frage des Gasembargos beziehungsweise Importstopps von Energieträgern ist eine hochambivalente Geschichte. Bei uns wird die Debatte ein bisschen durch diese folkloristische Formulierung bestimmt, die – glaube ich – von Joachim Gauck stammt: „Frieren für den Frieden“. Doch so einen Slogan kann sich allenfalls Boris Johnson leisten. Die britische Gesellschaft ist eben keine Industriegesellschaft mehr, sondern eine Dienstleistungsgesellschaft. Die sind nicht auf diese Weise auf Rohstoffe und Energielieferungen angewiesen. Bei uns würde ein Embargo zum Kollaps der Ökonomie führen, und insofern will es wohl bedacht sein, ob man sich das leisten kann.

Weber: Letztlich können wir viel über Gas und Embargos reden, die Effekte werden immer nur indirekt sein. Das Einzige, was der Ukraine jetzt direkt hilft, sind Waffen und Munition. Und da gibt es noch viel zu tun. Ich möchte es ausdrücklich auch mit dieser besonderen deutschen Verantwortung verbinden: Das letzte Mal, als auf Kiew geschossen worden ist und Kiew bombardiert worden ist, da waren es deutsche Soldaten. Daraus resultiert eine besondere geschichtliche Verantwortung, die uns aufgibt, der Ukraine jetzt zu helfen.

Münkler: Es wäre wahrscheinlich sinnvoll gewesen, wenn wir auf den bemerkenswert weitsichtigen Robert Habeck gehört hätten, als er sich vor ungefähr einem Jahr für Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen hat. Dann wäre heute vieles einfacher. Er wurde indes von seiner eigenen Partei zurückge­pfiffen. Aber wir sehen, es gibt durchaus Politiker, die strategisch denken und einen politischen Weitblick haben. Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch an die damalige Abgeordnete Annalena Baerbock, die sich nach der Krimannexion gegen Nord Stream 2, vor allem aber gegen den Verkauf des größten deutschen Erdgasspeichers an Gazprom ausgesprochen hat. Ja, die Klügsten dieser Generation sind offenbar bei den Grünen gelandet. Tut mir leid, Herr Weber, dass ich das so sagen muss, und ich sage das als Sozialdemokrat.

Welche Verantwortung tragen CDU und CSU, trägt die Regierung von Angela Merkel dafür, dass keine Waffen an die Ukraine geliefert wurden?

Weber: Bei Nord Stream 2 müssten wir doch eher über die Verantwortung von Gerhard Schröder und der SPD sprechen. Aber klar, in Berlin wurden Fehler gemacht. Ich habe mich 2019 im Europawahlkampf massiv gegen Nord Stream 2 gestellt. Ich habe 2014, als die Krim von den Russen besetzt worden ist, gesagt, jetzt muss hart reagiert werden. 

Sie haben häufiger mit Bundeskanzlerin Merkel gesprochen. Wieso hat sie nicht auf Sie gehört?

Weber: Die Regierungszeit von Angela Merkel waren trotz großer Krisen gute Jahre für unser Land. Und in Sachen Russlandpolitik war ganz Deutschland von der Friedensdividende besoffen. Wir waren zufrieden, wir haben uns ausgeruht. Wir haben uns wohlgefühlt mit unserem Business-Modell: Günstige Energie, günstige Vorprodukte, die veredeln wir in Deutschland und verkaufen sie in die ganze Welt hinaus. Die Globalisierung, die offenen Märkte haben 30 Jahre Wohlstand über unser Land gebracht. Und Deutschland hat seine Naivität kultiviert. Nord Stream 2 ist ganz eindeutig der Inbegriff dafür. Übrigens, der heutige Inbegriff für unsere Naivität ist das Investitionsschutzabkommen mit China. Es ist ein Symbol für mich, für ein Einfach-weiter-so mit dem Geldverdienen, anstatt zu reflektieren, worauf es heute ankommt.

Dann gibt es doch aber auch eine Verantwortung deutscher Regierungen für diese Politik.

Weber: Es geht auch darum, in welchen Mentalitäten wir leben. Aber sicher gibt es auch eine Regierungsverantwortung. Das Versagen der deutschen Regierung in der jetzigen Situation unter Bundeskanzler Olaf Scholz ist: immer nur getrieben zu sein. Das ist schon fatal. Wenn wir Europäer mit den Amerikanern in der Lage gewesen wären, vor dem 24. Februar ein drastisches Maßnahmenpaket auf den Tisch zu legen, dann wäre es Putin vielleicht schwerer gefallen, diesen Krieg vom Zaun zu brechen. Denn mit unserem konzertierten Agieren nach dem 24. Februar hat Russland nicht gerechnet.

Aber nach dem 24. Februar war der Westen einig wie nie?

Weber: Keineswegs, man muss daran erinnern, dass selbst nach dem 24. Februar die deutsche Bundesregierung Nord Stream  2 noch halten wollte. Man darf daran erinnern, dass auch Waffenlieferungen zunächst weiter abgelehnt worden sind. Erinnern wir uns, dass es bei Swift über eine Woche gedauert hat, bis Deutschland Bewegung gezeigt hat. Das heißt, alles wurde nur immer gegen das Zögern Berlins auf den Weg gebracht. Und die Naivität geht weiter. Das Gleiche gilt jetzt gegenüber China. Wir müssen jetzt deutlich machen: Wenn Taiwan attackiert wird, dann wird es harte Konsequenzen haben. Das heißt, wir reden nicht nur über einen isolierten Konflikt im Osten Europas, sondern über die Weltordnung von morgen.

Münkler: Hier stimme ich teilweise zu. Aber ich bin überzeugt, Herr Weber, die Sache ist noch um einiges schlimmer. Deutschland hat darauf gesetzt, dass man den Gebrauch militärischer Macht durch den Einsatz wirtschaftlicher Macht blockieren kann. Das war eines der wesentlichen strategischen Grundelemente der europäischen Friedensordnung gewesen. Und die Idee, Russland an der Friedensdividende teilhaben zu lassen, war zunächst durchaus plausibel. Es herrschte die Überzeugung, wir wollen uns dieses große Projekt einer regelbasierten und auf Werte gestützten Weltordnung nicht von einem Störenfried – also Putin – kaputt machen lassen. Putin wurde zu wenig Bedeutung beigemessen, weil man dem Mechanismus der ökonomischen Bändigung vertraute. Es war ein riskantes Projekt. Man hätte es eigentlich nur mit entsprechenden Sicherungen und Puffern eingehen dürfen.

Ist die Vorstellung einer durch wirtschaftliche Verflechtungen gebändigten Staatenwelt nicht weiter plausibel?

Münkler: Ich halte das nach wie vor für ein strategisch interessantes Projekt, aber es wurde versäumt, Puffer einzubauen, Reserven einzurichten. Es wurde insgesamt versäumt, für diesen Zug eine Notbremse zu installieren. Stattdessen haben wir, wie gesagt, den größten deutschen Gasspeicher noch an den russischen Staatskonzern Gazprom verkauft. Das war der eigentliche Fehler. Das Problem war, dass man sich hemmungslos auf das eine Konzept der wirtschaftlichen Verflechtung eingelassen hat, dass man den Staat der Herrschaft der Betriebswirte ausgeliefert hat. Man hat das nicht als eine Strategie betrachtet, sondern als eine Glaubensüberzeugung, nämlich die des Neoliberalismus – und die hat zur Blindheit gegenüber den Risiken geführt. Letztlich war diese Naivität, die Herr Weber beschrieben hat, auch eine Einladung zum Missbrauch. Putin hat dann die Erfahrung gemacht, dass er mit dem Regelbruch nicht nur durchkommt, sondern damit sogar Gewinne macht.

Ist mit dem Ukrainekrieg nun dieses Denken überwunden?

Münkler: Diese naive Herangehensweise an die Idee einer regelbasierten Weltordnung war weitverbreitet und ist wenig reflektiert worden. Das galt für die Politik und auch für die Politikwissenschaft, von der ich ja komme. Realisten galten allgemein als Kriegstreiber – oder was auch immer. In der Politik scheint jetzt ein Umdenken angefangen zu haben. In meinem Fach sind die Zäsur und die Reflexion ihrer Folgen noch nicht wirklich angekommen.

Herr Weber, seit wann ist Ihnen klar, dass die Strategie des Westens im Umgang mit Russland so nicht aufgeht?

Weber: 2014 war für mich ein Bruch. Mit der Krimannexion wurden das erste Mal wieder auf europäischem Boden Grenzen mit militärischer Gewalt verschoben. Ab dem Zeitpunkt war ich bei den Skeptikern dabei, bei denen, die gewarnt haben. Zur historischen Einordnung möchte ich aber ergänzen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die eigentliche Revolution war, dass sich große Teile Europas von diesen imperialen Gedanken verabschiedet haben, eben aufgehört haben, in Einflusszonen zu denken, sondern im Grenzabbau, in Zusammenarbeit, in Partnerschaft. Und heute stehen wir vor der Frage: Wie gehen wir damit um, dass in unserer Nachbarschaft ein Staat in diesen alten imperialen Denkmustern verhaftet ist. Meine Antwort ist klar: Putin darf den Krieg nicht gewinnen.

Es gibt nicht nur Putin. China steht an seiner Seite. Erdogan ist auch kein verlässlicher Streiter für die Freiheit. Ist es nicht voreilig, den Siegeszug der liberalen Demokratien zu verkünden?

Weber: In meiner Fraktion habe ich Kollegen aus Mittel- und Osteuropa, aus dem Baltikum. Und wissen Sie, was die dann sagen? Der Krieg in der Ukraine ist ein weiteres Kapitel im Kampf für die Freiheit, am Ende wird die Idee siegen. Wir haben vor 30 Jahren auch gewonnen. Und auch in den vergangenen 15 Jahren haben die Menschen in der Ukraine gezeigt: Wir wollen in Freiheit leben. Die Freunde aus Osteuropa sagen: Ihr westlichen Vertreter, seid nicht so verzagt, wir werden gewinnen. Es wird vielleicht Rückschläge geben, es wird schwierig werden, aber die Idee ist zu stark, um zu verlieren. Übrigens habe ich auch junge Russinnen kennengelernt, beispielsweise Daria Navalnaya, die Tochter von Alexei Nawalny. Sie war bei uns im Europäischen Parlament, als wir ihm den Sacharow-Preis überreicht haben. Sie berichtet, dass es auch in Russland viele junge Menschen gibt, die durchaus etwas mitkriegen vom Rest der Welt. Und deshalb ist die Grundsatzfrage: Engagieren wir uns für unsere Idee oder nicht?

Münkler: Aber, Herr Weber, so einheitlich ist die Gemeinschaft derer, die nach der Osterweiterung der EU dazugekommen sind, ja gar nicht. Die Wiederwahl von Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orbán, mit dem die CSU in der Vergangenheit gerne gekuschelt hat, ist im Grunde eine Katastrophe für die Europäer. Und die Serben stehen so halb in der Tür der EU, in die sie eigentlich nicht hineingehören, aber sie haben natürlich ein ungeheures geopolitisches Druckmittel: Wenn wir sie draußen lassen, dann ist das ein potenzielles Einfallstor für eine destruktive russische Politik, die Europa weiter schwächen will, etwa durch eine größere russische Militärpräsenz in Serbien. Die Idee, für die Sie, Herr Weber, werben und die Sie auf der Siegesbahn sehen, ist ja selbst innerhalb des Verbunds der Europäischen Union so unangefochten nicht. Gelingt es Brüssel, die Regeln der EU innerhalb der 27 zur Geltung zu bringen? Oder hat man nicht auch hier schon wieder bestimmte Risse, die dazu führen, dass die einen sehr viel stärker am liberalen Rechtsstaat hängen und die anderen sehr viel weniger? Auf diese Weise hat Putin ein relativ einfaches Spiel mit den Europäern. Also: Statt sich auf den Sieg einer Idee zu verlassen, sollten die Europapolitiker darüber nachdenken, wie sie das ungarische und das serbische Problem lösen können.

Weber: Sie können auch schon nach Frankreich schauen, um Risse oder Probleme zu beschreiben. Aber ich bin zutiefst überzeugt, wenn Sie in Ungarn oder in Frankreich die Menschen fragen, wollt ihr in der freien Demokratie leben, in einem freiheitlichen Rechtsstaat leben, dann sagen ihnen die Leute mit überwältigender Mehrheit: Ja, ich will nicht in einer Diktatur leben. Das ist der Kern, die Systemfrage. Das Eintreten für den European Way of Life ist Grundkonsens. Aber es gibt Risse, und ich möchte nicht sagen, dass alles perfekt ist. Ich sage nur, wir müssen uns bewusst werden, dass es um Grundsatzfragen geht. Es geht nicht nur um einen russisch-ukrainischen Konflikt. Putin hat ja auch erklärt, dass beispielsweise Finnland nicht Nato-Mitglied werden dürfte. Natürlich haben die Finnen das Recht, frei zu entscheiden, ob sie Nato-­Mitglied werden oder nicht. Genauso wie die Ukraine das freie Recht hat. Deswegen dürfen wir nicht in Einflusszonen denken. Das ist der falsche Weg.

Herr Münkler, Sie argumentieren, dass dieser Weg am 24. Februar an ein Ende gekommen ist und wir um des Friedens willen wieder in Einflusszonen denken und „Pufferzonen“ erwägen müssen. Wie wollen Sie den Ukrainern erklären, dass sie eine Pufferzone für unseren Frieden sein sollen?

Münkler: Nun, tatsächlich habe ich das so formuliert, als der Krieg noch nicht begonnen hatte. Und meine Vorstellung war, dass man durch eine „Finnlandisierung“ der Ukraine den russischen Bären ruhigstellen könne. Dafür ist es jetzt zu spät, und wahrscheinlich hätte der Bär sich dadurch auch nicht ruhigstellen lassen. Vermutlich erzählte Putin nur, er fühle sich durch die Nato bedroht, um ungehindert seinen imperialen Fantasien nachgehen zu können. Das ändert jedoch nichts daran, dass wir de facto in eine Konstellation der Einflusszonen eingetreten sind – und was das heißt, müssen wir jetzt begreifen. Im Hinblick auf Rohstoff- und Energieversorgung, aber auch im Hinblick auf prorussische Akteure innerhalb des mitteleuropäischen Raumes. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Vorstellung einer gemeinsamen Weltordnung als Voraussetzung zur Bearbeitung der Menschheitsfragen – Hunger im globalen Süden, Abbremsen der Migration, Kampf gegen den Klimawandel – in dieser Form vorerst vorbei ist. Sie ist gescheitert, so bitter es ist, das feststellen zu müssen.

Wie zeigt sich Ihrer Meinung nach die neue Weltordnung der Einflusszonen?

Münkler: Wir haben die fünf großen Akteure auf der Welt, USA, China, Europa, Indien und Russland, die sich, wenn es um globale Fragen, wie etwa den Klimawandel, geht, in strategische Verhandlungspositionen mit Veto-Optionen bringen. Das sind dann die, die dem Westen sagen: Wenn ihr mit Sanktionen gegen uns arbeitet, dann werden wir bei eurem Lieblingsprojekt, dem Bremsen des Klimawandels, nicht mitspielen. Das hat sich ja auch in der Vergangenheit gezeigt. Die Chinesen haben nur konditioniert mitgemacht, die Russen sowieso nicht. Indien wird unterm Strich der lachende Fünfte sein und kann die Preise für eine vom Westen forcierte Politik der Verhinderung von Klimawandel und Artensterben hochtreiben. Es ist tatsächlich eine Welt, die eher an das Europa des 19. Jahrhunderts erinnert als an das, was man im Brustton der Überzeugung als das „Europa des 21. Jahrhunderts“ apostrophiert und als große Idee für die Welt lanciert.

Was bedeutet das konkret etwa für unsere Verteidigung? 

Münkler: Ich glaube schon, dass wir jetzt den Eintritt in eine neue Runde der Verbreitung von Atomwaffen erleben werden. Wenn keiner sich auf Verträge und Sicherheitsgarantien verlassen kann, dann ist atomare Abschreckung das einzige bleibende Mittel der Wahl. Das gilt ja gerade für die Ukraine, die nach dem Zerfall der Sowjetunion ein Staat mit Atomwaffen war. Im Budapester Memorandum von 1994 hat die Ukraine zugesichert, ihre Atomwaffen an Russland abzugeben, während die USA, Großbritannien und Russland die Unverletzlichkeit der Grenzen der Ukraine garantiert haben. Russland hat diese Übereinkunft gebrochen, doch selbst die Amerikaner haben relativ spät und zögerlich ihrem Garantieversprechen ein paar Taten folgen lassen. Das ist das Bittere dabei, und deswegen glaube ich, dass der Begriff der Zeitenwende noch zu schwach ist. Es ist eine tiefe Zäsur. Es ist nicht gelungen, das rhetorische Wir der einen Menschheit in ein politisch handlungsfähiges Subjekt zu verwandeln, sondern wir sind zurück im Spiel der großen Mächte.

Weber: Ich teile die Analyse dieser tiefen Zäsur. Und tatsächlich funktioniert auch das Prinzip der nuklearen Abschreckung, denn wir können jetzt in aller Ruhe dieses Interview führen, weil wir unter dem Schutzschirm der USA leben. Aber das reicht nicht. Was wäre los, wenn Donald Trump in zweieinhalb Jahren wiedergewählt wird? Für mich ist klar, Europa muss militärisch sich selbst verteidigen können. Deswegen müssen wir endlich auf das Angebot der Franzosen antworten, die französische Atommacht auch für den Schutz Europas einzusetzen. Herr Münkler hat recht, am Ende zählt bei den Sicherheitsfragen das atomare Potenzial.

Dann teilen Sie die Analyse von Herrn Münkler, dass wir in einer Welt der Einflusszonen aufgewacht sind?

Weber: Ich teile die Sorge, dass wir in diese Welt hereinrutschen, aber ich glaube, dass wir uns nach wie vor in einem Moment befinden, in dem dies offen ist. Ich bleibe bei meiner These, wenn Putin nicht gewinnt, wenn möglichst viele Staaten diese regelbasierte Welt hochhalten, dann kann es nach wie vor gelingen, Mächte wie China zumindest von dem falschen Weg abzuhalten. Ich will nicht sagen, dass wir sie alle gewinnen, aber ich glaube, dass man sie vor dramatischen Fehlern bewahren kann. Wenn allerdings Putins Weg zumindest einen Teilerfolg bringt, dann wird es Nachahmer geben, dann ist Taiwan nicht mehr sicher, um dieses Symbolthema zu nehmen. Dann wird die heutige Weltordnung komplett zugrunde gehen. Deswegen ist jetzt die Entschiedenheit so wichtig, um diese Welt noch in die richtige Richtung zu drücken. Jetzt sind wir in wichtigen Wochen, in denen sich entscheidet, in welcher Welt wir in den nächsten Jahrzehnten leben werden.

Das Gespräch führte Volker Resing.

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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