Springer Verlag - Der Feind meines Feindes

Drei Männer, drei Frauen und der Springer-Verlag: Der große Medienskandal eskaliert und nimmt eine unerwartete Wendung. Was steckt hinter dem Rausschmiss des Bild-Chefs Julian Reichelt? Offenbar haben andere Medien auf Grundlage falscher Informationen berichtet. Über die Rückabwicklung einer Affäre.

Die Springer-Affäre ist mittlerweile ein Drama in mehreren Akten / Lisa Rock
Anzeige

Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

So erreichen Sie Mathias Brodkorb:

Anzeige

Einmal erklärte Julian Reichelt, der ehemalige Chefredakteur von Bild, ausgerechnet den Boulevardjournalismus zur Stütze der Demokratie. Er gebe Menschen, die sich nicht gehört fühlten, nämlich eine „Stimme“. Er sei ein „Ventil“, um politischen Radikalismus zu verhindern. Für die Kritiker von Bild und Springer muss das wie Hohn klingen. Seit mehr als zwei Jahren steckt der Konzern in einer tiefen Krise. Von „Machtmissbrauch“ zur Erlangung sexueller Gefälligkeiten durch Reichelt ist die Rede, vom „Vögeln, fördern, feuern“ (Spiegel). Von einem „Terrorregime“ gar wird in dem von TRZ-Media (Jan Böhmermann) produzierten Podcast Boys Club berichtet und davon, dass sich Bild von „rechts zu rechtsextrem“ gewandelt habe.

Diese Kritik richtet sich auch gegen den Chef des Konzerns, Mathias Döpfner. Er ist der mächtigste Mann bei Springer und dirigiert fast die Hälfte der Unternehmensanteile. Aus der „Affäre Reichelt“ ist längst auch die „Affäre Döpfner“ geworden. Ihm wird vorgeworfen, Reichelt allzu lang gedeckt zu haben. Seit die Zeit aus persönlichen Nachrichten Döpfners zitiert hat, gilt er als rechtsverdächtig und Ossi-Hasser. Er soll im Vorfeld der Bundestagswahl Reichelt außerdem „angewiesen“ haben, zugunsten der FDP zu berichten. 

Döpfners Freundschaft zu Stuckrad-Barre

Schiebt man die medialen Gewitterwolken der vergangenen zwei Jahre beiseite und lässt den Film einfach noch einmal von vorne ablaufen, könnte sich eine andere Geschichte ergeben. So jedenfalls wird es im 18. Stock der Axel-Springer-Straße 65 in Berlin kolportiert. Und es hat viel mit persönlichen Eitelkeiten zu tun.

Es waren einmal drei Männer: Mathias Döpfner, Julian Reichelt und Benjamin von Stuckrad-Barre, der exzentrische Schriftsteller. Döpfner band Stuckrad-Barre nicht nur 2008 als Starautor mit überschaubaren Verpflichtungen und vielen Freiheiten an den Konzern. Während Döpfners Verhältnis zu Reichelt vertrauensvoll, aber professionell blieb, entstand mit Stuckrad-­Barre eine enge Männerfreundschaft. Sie fuhren gemeinsam in den Urlaub, gerne auch in Luxushotels wie das Chateau Marmont in Hollywood. Döpfner gab anlässlich des 100. Geburtstags des Konzerngründers bei ihm sogar ein Theaterstück über Axel Springer in Auftrag. Und er machte den Schriftsteller zum Paten eines seiner Kinder.

Stuckrad-Barre genoss das alles. Später wird dieser auf die Frage, warum er sich je mit Springer eingelassen habe, sein eigenes Leben glattbügeln. Das sei „eigentlich Marxismus“ gewesen, „den Klassenfeind von innen schädigen“. Wenn es genug „Schmerzensgeld“ gäbe, hätte er aber kein Problem damit, auch für Daimler-Benz zu arbeiten: „Ich bin offen dafür.“ Stuckrad-Barre ist ein prinzipienfester Mann.

Die Abneigung gegen Reichelt

Dann kam das Jahr 2017. Der damalige Bild-Chef, Kai Diekmann, ging – und Reichelt folgte ihm auf dessen Posten nach. Stuckrad-Barre und Reichelt seien sich in ihrem gesamten Leben überhaupt nur dreimal begegnet, „kein Mal freiwillig“, behauptet der Schriftsteller im Spiegel-Interview. Reichelt widerspricht. Schon vor etwa 20 Jahren habe er ihn für Bild tagelang auf einer Lesereise begleitet. An der tiefen Abneigung ändert das indes nichts.

Stuckrad-Barre habe sich von Sommer 2020 an als PR-Berater für Reichelt und die Bild angeboten und drei Imagefilme produzieren wollen, heißt es. Im aktuellen Roman-Bestseller „Noch wach?“ des Schriftstellers wird der Ich-Erzähler berichten, gemeinsam mit der Figur Sophia in Wahrheit an einem Komplott gegen den „Chefredakteur“ gewerkelt zu haben: Auch dort geht es um einen Imagefilm. Aber aus alldem wurde nichts, Reichelt lehnte ab. Und dann legte der Schriftsteller los. Plötzlich wurde alles ziemlich kompliziert.

 

Mehr Medienthemen:

 

Im Oktober 2020 fliegt Stuckrad-­Barre eine scheinbar brisante Information aus der Redaktion der Bild zu. Es geht um den Satz „Achtung: Julian will keine Chinesen.“ Das steht in einem internen Protokoll der Chefredaktion. Es ging dabei um die Besetzung einer Stelle. Reichelt wollte aus Sicherheitsgründen offenbar „keine Chinesen“ im eigenen Laden. Die mutmaßliche Quelle für den Satz: eine Redaktionsassistentin, die zugleich eine Affäre mit dem Schriftsteller unterhalten haben soll. Funfact: Auch Reichelt kannte sie bereits etwas näher. Aber nun verlor sie wegen Pflichtverletzung ihren Job. Für einen Mitarbeiter der Bild-Redaktion, der bis heute von Reichelt schwärmt, ist Stuckrad-Barre denn auch der eigentliche Auslöser der Springer-Krise: „Als sich die Gelegenheit bot, hat er eine konzertierte Aktion gestartet. Wahrscheinlich aus hehren Motiven, aber das glauben Moralisten ja immer von sich.“

Kein Rausschmiss trotz sexueller Beziehungen

Der Schriftsteller verbreitete die Information mit einer eindringlichen Botschaft: „Dieser abartige Rassist, Sexist, Hetzer braucht’s jetzt mal auf die harte Tour.“ Immer mehr Frauen, so berichtet er es später, hätten sich an ihn gewandt und um Hilfe gebeten. Nicht nur ein Rassist also, sondern auch ein Sexist: Antifa und Metoo auf einmal. Was für ein wunderbarer Ego-Plot! Als gesichert gilt, dass Stuckrad-Barre mehrfach an den Konzernchef Mathias Döpfner herantrat. Seine Forderung: Reichelt müsse abgelöst werden. Aber Döpfner zögert über Wochen und Monate. Der Popliterat konnte bloß „Gerüchte“ transportieren, aber keine „Beweise“, ja, nicht einmal ernsthafte „Hinweise“ liefern, sagt dazu ein Mitarbeiter des Springer-Konzerns. Und bloß auf der Basis von Gerüchten zu handeln, wäre einem „Rufmord“ gleichgekommen.

Aber die Gerüchte wollten nicht abebben. Also zogen Springer und Reichelt im März 2021 die Notbremse. Der Chefredakteur nahm eine „Auszeit“, und der Konzern beauftragte die externe Rechtsanwaltskanzlei Freshfields mit einer Untersuchung des Falles. Es sollte um jeden Preis der Eindruck der Befangenheit vermieden werden. Das Untersuchungsergebnis: Die sexuellen Beziehungen zwischen Reichelt und verschiedenen Mitarbeiterinnen stellten sich als grundsätzlich „einvernehmlich“ dar, viele der ihn belastenden Aussagen seien widersprüchlich gewesen. Der Nachweis eines „Machtmissbrauchs“ jedenfalls gelang aus Sicht von Freshfields nicht. Durch die Verquickung von Beruf und Privatleben sei zwar ein „Fehlverhalten“ als Führungsperson erwiesen, für „arbeitsrechtliche Konsequenzen“ hätte es aber nicht gereicht. Knapp zwei Wochen später kehrt Reichelt auf den Posten des Chefredakteurs zurück.

In anderen Unternehmen hätte schon dieser Befund für einen Rausschmiss genügt. Aber nicht bei Springer. Das hat einen kuriosen Grund. Nach modernen Unternehmensstandards gilt es als unschicklich, wenn Führungskräfte mit Untergebenen sexuelle Beziehungen eingehen. Kommt es dennoch dazu, ist die Trennung der Betroffenen durch Versetzung das Mittel der Wahl. Als die Reichelt-Affäre tobt, gibt es solche Vorschriften für Springer aber nicht. Einer der einflussreichsten Medienkonzerne der Welt befindet sich zu diesem Zeitpunkt nicht auf der Höhe der Zeit.

Die zweite Phase der Springer-Affäre

Eigentlich hat der Konzernvorstand im Nachgang der Weinstein-Affäre 2017/2018 ein entsprechendes Regelwerk ausarbeiten lassen. Das konnte allerdings nicht in Kraft treten. Der Betriebsrat von Springer hätte dem Vorhaben zustimmen müssen, verweigerte aber die Unterstützung. Das sei ein zu tiefer Eingriff des Konzerns in das Privatleben seiner Mitarbeiter, hieß es damals. Dass Julian Reichelt vorerst auf seinen Posten zurückkehren konnte, verdankte er also kurioserweise auch der Arbeitnehmervertretung. Heute hat Springer entsprechende Regularien.

Die erste Phase der Springer-Krise war damit abgeschlossen. Erst ging es um Aufklären und Aussitzen. Irgendwann werde sich die Lage schon beruhigen. Nur einen unternehmerisch besonders sensiblen Punkt gab es: Döpfner hatte sich längst entschlossen, auf den amerikanischen Medienmarkt vorzustoßen. Fast 50 Prozent der Unternehmensanteile gehörten inzwischen nordamerikanischen Beteiligungsgesellschaften, dabei entfallen fast 40 Prozent auf Kohlberg Kravis Roberts & Co. (KKR). Bereits 2015 hatte Springer zudem Business Insider für 442 Millionen Dollar gekauft, 2021 sollten dann für rund eine Milliarde Euro die Zeitung und der digitale Nachrichtendienst Politico hinzukommen. Döpfners erklärtes Ziel: Springer zum „weltweit führenden Digitalverlag“ auszubauen. Für die Geschäfte in den USA, wo Political Correctness und Metoo noch viel sensibler verhandelt werden als in Europa, war die Reichelt-Affäre eine denkbar schlechte Randbedingung.

Als die New York Times (NYT) am 17. Oktober 2021 in einem großen Artikel gegen Reichelt und Springer schoss und sich dabei offenbar auch auf interne Unterlagen des Unternehmens stützen konnte, ging Springer zur zweiten Phase in der Affäre über. Da sich die Lage nicht beruhigte, musste Reichelt gegen eine Abfindung im siebenstelligen Bereich gehen. Aus dem Aussitzen des Problems wurde dessen vermeintliche Beseitigung. Wenn es um die Wahrung des Unternehmenswertes geht, zählen persönliche Loyalitäten am Ende wenig. Der Artikel in der NYT war dabei bloß ein geeigneter Anlass. Der wirkliche Grund, bestätigt ein Beteiligter, sei die Tatsache gewesen, dass Reichelt und eine Mitarbeiterin selbst dann noch heimlich eine Beziehung gepflegt haben sollen, als die Krise schon als überstanden galt. Hierüber hätte er „mindestens sieben Führungspersonen und Vorstandsmitglieder belogen“. Mit der entsprechenden Mitarbeiterin ist Reichelt immer noch liiert. Den Vorstand belogen zu haben, bestreitet er.

Die Lügen der Hauptbelastungszeugin

Nun hätte die Sache eigentlich zu Ende gewesen sein können. Wenn da nicht die Hauptbelastungszeugin, die dritte wesentliche Frau in der Affäre, gewesen wäre. Auch sie hatte eine Liaison mit Reichelt und wechselte im Herbst 2019 zu Bild nach San Francisco und Los Angeles, ihr Vertrag lief Mitte 2020 aus. Im August 2022 reichte sie dann in den USA in insgesamt elf Punkten Schadensersatzklage gegen den Konzern ein, unter anderem wegen „sexueller Belästigung“. In den Beweisunterlagen findet sich auch der fragliche Artikel der NYT. Die Anwaltskanzlei schildert gegenüber dem Gericht, wie Reichelt sie bei einem Treffen in Wien zum Sex in sein Hotel abkommandiert haben soll. In der Klageschrift heißt es dazu rührselig, dass sie nach dem Ereignis „weinend“ in ihr Hotel zurückgegangen sei und realisiert habe, dass sie ohne „sex on demand“ mit Reichelt „out at Bild“ gewesen wäre.

Die Realität dürfte – zumindest in diesem Fall – eine andere sein. Reichelt übermittelt mit anwaltlicher Versicherung den gesamten Chatverlauf mit der Hauptbelastungszeugin an diesem Abend in Wien. Und es ist nicht er, der sie ins Hotel befiehlt, sondern umgekehrt sie, die nach einem Treffen fragt. Von einem Drängen Reichelts kann an keiner Stelle die Rede sein.

Am nächsten Morgen wird der Wien-­Aufenthalt mit folgenden Sätzen per Textnachricht beschlossen. Er: „Ich hab übrigens wahnsinnig gut geschlafen.“ Sie: „Ich auch. Wir sollten das doch mal öfter machen.“ Auch diese Belege führen dazu, dass Reichelt gegen Reschke Fernsehen (ARD) eine einstweilige Verfügung in ganzen elf Punkten erwirken kann. Tagelang war deshalb ein Beitrag aus dem Februar 2023 aus dem Verkehr gezogen, nun ist er in zensierter Fassung wieder online. Was darin fehlt, ist das Eingeständnis, dass sich die Berichterstattung auch auf Falschangaben ausgerechnet der Hauptbelastungszeugin stützte.

Reichelts Rache

Eigentlich war die Klage Reichelts große Chance. Hätte der Konzern sie zu Fall gebracht, wäre er ein Stück weit rehabilitiert gewesen. Das Problem für ihn war nur, dass mit Einleitung der zweiten Phase in der Affäre die Interessen von Springer und Reichelt diametral auseinanderliefen. Springer konnte kein Interesse daran haben, in die Verlängerung zu gehen. Also wurde eine andere Lösung gefunden: Springer zahlte gegen die Rücknahme der Klage an die Hauptbelastungszeugin einen Betrag von angeblich 250 000 Euro. 

Der Konzern entschied sich erneut für das Unternehmenswohl. Andernfalls hätte man sich auf eine jahrelange gerichtliche Auseinandersetzung mit erheblichem Imageschaden und auf hohe Anwaltshonorare einstellen müssen. Interne Schätzungen seien von vier bis fünf Millionen Euro ausgegangen, sagt ein Konzernmitarbeiter. Da wirken ein paar Hunderttausend Euro wie ein Schnäppchen. Aber gelogen wurde gegenüber Freshfields von einer gewissen „Nora“ auch zugunsten Reichelts, wie der Podcast Boys Club aufdeckte. Heute schäme sie sich dafür.

Was Springer nicht in seinem Interesse tat, will Reichelt nun offenbar selbst herbeiführen: seine Rehabilitation und vielleicht auch ein wenig Rache an Mathias Döpfner. So erklärt man sich jedenfalls allenthalben, wie eine namhafte Hamburger Wochenzeitung an private Chatnachrichten des Konzernchefs geraten ist, die diesen sogar zu einer öffentlichen Entschuldigung genötigt haben. 

Vom Familiendrama oder attischer Tragödie

Reichelt soll zudem dem Berliner Verleger Holger Friedrich Unterlagen zur Verfügung gestellt haben. Der ließ seine Berliner Zeitung daraus aber keine Geschichte fabrizieren, sondern schwärzte Reichelt beim Springer-Konzern an. Eingehandelt hat ihm das inzwischen ein Verfahren beim Presserat, Verhandlungstermin im Juni. Quellenverrat gilt im Journalismus als Todsünde. Reichelts Anwalt will wegen des laufenden Verfahrens zu all den Vorwürfen nichts sagen. 

Springer ist nun in die dritte Phase seiner Krise eingetreten. Nach Aufklären und Aussitzen und nach der vermeintlichen Beseitigung des Problems kommt jetzt die Abteilung Attacke. Reichelt soll zum Beispiel für seinen neuen Videokanal rechtswidrig Mitarbeiter von Bild abgeworben haben, wirft ihm der Springer-Konzern vor und klagt auf Rückzahlung der Abfindung nebst Vertragsstrafe. Was der Inhalt der Strafanzeige wegen angeblichen „Betrugs“ gegen ihn ist, will Springer nicht verraten. Reichelts Anwalt Ben Irle kann schon deshalb nichts dazu sagen, weil ihm die Strafanzeige nicht vorliegt. Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft wegen eines Anfangsverdachts die Ermittlungen aufgenommen.

Mit etwas Abstand lassen sich über die Springer-Krise jenseits eines Metoo-­Skandals, in dem Reichelt am Ende wohl kein Waisenknabe gewesen sein dürfte, mindestens drei weitere Geschichten erzählen. Da wäre zunächst der Sandkasten: Der Vater einer großen und berühmten Familie geht mit seinen verfeindeten Söhnen zum Spielplatz, und die beiden bekommen sich über Schäufelchen und Eimerchen in die Wolle. Und weil Papa nicht zugunsten seines Lieblingssohns ins Geschehen eingreift, kommt es am Ende zum Familiendrama. Oder da wäre die attische Tragödie: Der tragische Held, Chef eines großen Unternehmens, wird durch äußere Umstände und eigene sowie Fehler anderer in eine Krise eines Ausmaßes gestürzt, die nicht im Verhältnis zu seinen Fehlern steht. Aber über das Verhältnis von Fehlern und schicksalhaften Umständen kann er öffentlich selbst nicht reden, ohne gegen Regeln und Interessen des Unternehmens zu verstoßen. 

Ein Feldzug gegen den Boulevardjournalismus

Und dann wäre da noch die Option Heldenepos mit Benjamin von Stuckrad-­Barre in der Starbesetzung. Die Geschichte geht ungefähr so: Ein genialer Autor erhält ein lukratives Angebot von einem bedeutenden Medienkonzern, hofiert und gepampert vom Konzernchef höchst persönlich. Zehn Jahre lang scheint alles bestens und dann – ganz plötzlich und unerwartet – entdeckt der Starautor, dass mit Bild irgendetwas nicht stimmen kann. Von heute auf morgen wurde aus einer durchweg seriösen Zeitung ein schreihalsiges Boulevardblatt. 

Als der Schriftsteller dieses Geheimnis lüftet und Frauen ihn um Hilfe bitten, kann er nicht anders, als für sie in den Krieg zu ziehen. So ungefähr funktioniert Stuckrad-Barres Roman „Noch wach?“. Und genau an dieser Stelle kippt das Heldenepos in eine Komödie. Der Ich-Erzähler des Romans wird mehrfach davon sprechen, er sei im Grunde eine „lose Bordkanone“. Ein letztes Mal will der Autor – begleitet von breiter medialer Unterstützung – mit Springer Kasse machen. Notfalls auch auf Kosten seines ehemaligen Freundes Mathias Döpfner.

Überhaupt die Medien. Deren Berichterstattung richtet sich längst nicht mehr bloß gegen Reichelt und dessen mögliches Fehlverhalten oder gegen Döpfner. Im Zentrum der Attacke: der Boulevardjournalismus. In einer der Pod­cast-Reportagen um den Fall Springer spricht der Journalist Henry Donovan denn auch aus, worum es ihm geht: Eigentlich wolle die Mehrheit der Bevölkerung nämlich, „dass dieses Verlagshaus zugemacht wird“.

Berichterstattung voller Falschaussagen

Wenn etwas kennzeichnend für den Boulevardjournalismus in seiner äußersten Form ist, dann sind es drei Grundsätze: polemische Vereinfachung bis hin zur persönlichen Verunglimpfung, Miss­achtung von Persönlichkeitsrechten aus voyeuristischem Kalkül und der Bruch mit journalistischen Standards. Aber all das hat ganz „Mediendeutschland“ (Boys Club) in der „Affäre Springer“ weidlich praktiziert. Da wäre Reschke Fernsehen, das Belege, jedenfalls nach richterlicher Meinung, polemisch so überdehnt, dass die daraus gezogenen Schlussfolgerungen fragwürdig sind. Da wäre die Wochenzeitung Die Zeit, die persönliche Nachrichten Döpfners gegen dessen Willen veröffentlicht und dabei aus dem Kontext reißt. Und da wäre ein Verleger, der die Todsünde des Quellenverrats begeht. Offenbar haben sich wichtige mediale Akteure im Eifer des Gefechts dem anverwandelt, was sie eigentlich verachten: dem Boulevardjournalismus. 

Dabei dürfte sogar die gesamte nationale wie internationale Berichterstattung von NYT bis Spiegel auch auf falschen Tatsachen basieren. Cicero liegt ein Schreiben des mutmaßlichen Anwalts der Hauptbelastungszeugin vor, in dem dieser das Vernehmungsprotokoll von Freshfields aus dem Verkehr zieht und für nicht existent erklärt. Der Anwalt wolle seiner Mandantin das Risiko eines Rechtsstreits mit Reichelt ersparen. Aus gutem Grund, wie der „Fall Wien“ zeigt. Das Anwaltsschreiben datiert übrigens auf den 13. Oktober 2021. Vier Tage später erst, am 17. Oktober, kommt die Berichterstattung von NYT bis Spiegel ins Rollen. Grundlage ist also ein zu diesem Zeitpunkt offiziell nicht mehr existentes Protokoll. Im Juni 2022 wird der Spiegel für seinen Text „Warum Julian Reichelt gehen musste“ sogar mit dem Stern-Preis für die „Geschichte des Jahres“ ausgezeichnet. Auf Anfrage des Cicero teilt Der Spiegel mit, dass man an seiner damaligen Berichterstattung festhalte.

Nicht unwahrscheinlich daher, dass der mächtige Springer-Konzern demnächst die vierte Phase der Krise auslösen wird: das große reinigende Gewitter. Denn wie man auf den Fluren des Konzerns hört, dürfte es nicht bei Reichelt bleiben. Auch führende deutsche Medienhäuser sollen es demnächst rechtlich mit Springer zu tun bekommen.

 

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe von Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige