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Große Koalition - Abgerechnet wird zum Schluss!

Auch wenn die Koalitionsverhandlungen derzeit zu Gunsten der SPD verlaufen, dass Ergebnis steht noch nicht fest. Zu viel Euphorie ist deswegen unangebracht

Autoreninfo

Hartmut Palmer ist politischer Autor und Journalist. Er lebt und arbeitet in Bonn und in Berlin.

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Es stehe „10:2 für die SPD im Koalitionspoker“, titelte BILD und mahnte empört: Wenn die Union es zulasse, „dass die SPD-Mitglieder per Briefentscheid bestimmen, welche Politik die CDU-Chefin Merkel machen darf“, dann habe sie sich selbst aufgegeben. So oder so ähnlich las oder hörte man es diese Woche überall. Auch bei Cicero wurde online schon das Sterbeglöckchen für die Konservativen geläutet: Erpressbar seien CDU und CSU geworden, wachsweich in den Händen eines SPD-Vorsitzenden, der zwar die Wahl verloren habe, aber nun – mit Hilfe seiner Basis – dabei sei, die Koalitionsverhandlungen zu gewinnen. Schlimmer noch: Der das Wohl der Partei über das des Landes stelle und sich so absolutistisch aufführe, wie der 14. Ludwig.

Gut gebrüllt, verehrte Löwen. Sigmar Gabriel wird es gefallen haben. Er ist zwar kein Schachspieler, der alles bis ins Letzte plant, aber ein Instinkt-Politiker, der weiß, wie Menschen ticken, die konkurrierenden oder gar feindlichen Parteien, Gruppen oder Lagern angehören: Je lauter die einen schreien, desto wohler fühlen sich die anderen. Je drastischer also die Kommentatoren und Fernsehmoderatoren den drohenden Untergang der Union und den nahenden Sieg der SPD (trotz der total vergeigten Bundestagswahl) an die Wand malen, desto eher wird die muckende SPD-Basis geneigt sein, das Verhandlungsergebnis toll zu finden.

Wenn Gabriel also so etwas wie ein Drehbuch im Kopf gehabt haben sollte, dann muss dort genau das drin gestanden haben, was gerade passiert: Aufruhr bei den Konservativen über den Siegeszug der Sozis. Empörung über die Umdeutung und Umkehr des Ergebnisses der Bundestagswahl vom 22. September. Je lauter die Niederlage der Schwarzen und je dramatischer der Punktgewinn der Roten beschrien werden, desto größer ist die Chance, dass die Sozialdemokraten sich tatsächlich als die wahren Sieger fühlen – und dem Verhandlungsergebnis zustimmen. Genau das ist Gabriels Plan.

Bei den SPD-Mitglieder ist die Große Koalition unbeliebt


Denn spätestens seit dem Parteitag in Leipzig weiß der SPD-Chef und wissen es auch seine Mitstreiter in der Führung, dass die Stimmung an der Basis alles andere als schwarz-rot ist. Die Große Koalition mag im Volk populär sein. Bei den SPD-Mitgliedern ist sie es nicht. So wie die Delegierten in Leipzig ihre Führung abstraften, würde es vermutlich auch die Basis tun, in deren Sinne oder sogar deren Auftrag sie dort abstimmten – nur eben drastischer. Die Chancen, dass eine knappe Mehrheit der SPD-Mitglieder am Ende mit Nein stimmt, ist derzeit mindestens genauso groß wie ein mehrheitliches Ja zur Großen Koalition. Die Sache steht auf der Kippe.

Schon Willy Brandt wusste um die Neigung der Sozialdemokraten, eigenen Regierungen das Leben schwer zu machen. Als er 1987 in seiner Abschiedsrede als SPD-Vorsitzender ein Resümee seines politischen Lebens zog, zitierte er sein Vorbild aus Lübecker Jugendjahren, den späteren antifaschistischen Widerstandskämpfer Julius Leber. Der habe, warnte Brandt, „die Lust an der Ohnmacht eine sozialdemokratische Erbsünde“ genannt. Gabriel weiß, dass dieses Erbgut auch in den Genen der politischen Enkel, Urenkel und Ur-Ur-Enkel des großen Vorsitzenden steckt.

Was also bleibt ihm übrig? Er muss tagtäglich seine Generalsekretärin oder die Verhandlungsführer der Arbeitsgruppen vor die Kameras und die Mikrophone schicken und das hohe Lied von der ruhmreich siegenden SPD anstimmen lassen, weil sonst die Show nicht funktioniert. Dass die Unterhändler der anderen Seite das Spiel mitmachen, liegt vermutlich daran, dass auch sie wissen, wie sehr es darauf ankommt, die SPD-Basis bei Laune zu halten und in der Gewissheit zu wiegen, am Ende werde alles gut. Ganz abgesehen davon, dass viele CDU- und CSU-Funktionäre inzwischen selbst – sehr zum Leidwesen ihrer ideologischen Unterstützer – bei Bedarf so sozialdemokratisch oder grünlich denken, wie die Kanzlerin.

Abgerechnet aber wird am Schluss. Mag die SPD zurzeit auch als Siegerin erscheinen – ob sie wirklich gewonnen hat, wird man erst sehen, wenn der Koalitionsvertrag vorliegt. Dann aber wird man nicht nur die großen Überschriften lesen müssen, sondern das Kleingedruckte. Sollte sich dort der Satz finden, dass alles, was vereinbart wurde, selbstverständlich unter „Finanzierungsvorbehalt“ steht, dann wäre der Vertrag das Papier nicht wert, auf dem er steht. Gleiches gilt für das andere Zauberwort, mit dem man beim Polit-Poker den Gegner ruhig zu stellen pflegt. Es heißt „Prüfauftrag“. 

Die SPD-Mitglieder werden den Vertrag genau prüfen
 

Der „Finanzierungsvorbehalt“ wurde 2009 auf Betreiben von Wolfgang Schäuble in den Koalitionsvertrag zwischen Union und FDP geschrieben. Und weil Guido Westerwelle damals unbedingt als neu gewählter Außenminister mit der Kanzlerin zu einem EU-Gipfel reisen wollte, war er damit einverstanden, dass eine Reihe von noch nicht zu Ende verhandelten, strittigen Punkten in die Abteilung „Prüfauftrag“ verwiesen wurde.

So wurden die Liberalen ausgetrickst: Wenn sie Steuern senken oder andere Wohltaten an ihre Klientel verteilen wollten, scheiterten sie (Ausnahme: Die Hotellerie) am „Finanzierungsvorbehalt“. Und die meisten der zur Prüfung ausgeschriebenen anderen Punkte wurden so lange geprüft, bis die Legislaturperiode vorbei war. So kann es gehen, wenn man das Kleingedruckte nicht liest – oder ignoriert.

Sigmar Gabriel sollte nicht darauf setzen, dass seine Genossen sich am Ende täuschen lassen. Nicht alle werden sich am Mitgliederentscheid beteiligen, mindestens 20 Prozent müssen mitmachen, wenn das Abstimmungsergebnis zählen soll. Aber diejenigen, die sich beteiligen, werden genau hinsehen. Sie werden weder „Prüfaufträge“ akzeptieren noch einen allgemeinen „Finanzierungsvorbehalt“.

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