Nach der Wahl - Ampelmütig

Die Erwartungen an die erste Ampelkoalition auf Bundesebene sind groß. Olaf ­Scholz, Christian Lindner, Annalena Baerbock und Robert Habeck stellen derzeit demonstrativ Harmonie, Gestaltungswillen, Aufbruch zur Schau. Aber ziehen wirklich alle an einem Strang? Und wie krisenfest ist die Konstruktion?

Der große Sprung nach vorn? Olaf Scholz, Annalena Baerbock, Christian Lindner und Robert Habeck / Michael Pleesz
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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So viel Zuversicht, wie Cansel Kiziltepe ausstrahlt, war in den letzten Jahren selten bei Sozialdemokraten. „Wir Sozialdemokraten sprechen von Fortschrittsregierung, die Grünen von Klimaregierung, die FDP von Reformregierung“, sagt die Finanzpolitikerin aus Berlin-Kreuzberg, die zum linken SPD-Flügel gehört, Mitte Oktober in ihrem Bundestagsbüro an der Straße Unter den Linden. „Da können wir auf einen Nenner kommen.“ Eine Ampel sei etwas anderes als die Große Koalition, die die 46-Jährige seit ihrem Einzug in den Bundestag 2013 ertragen musste. „Gesellschaftspolitisch sind wir nah beieinander: Doppelstaatlichkeit, Kampf gegen Rechtsextremismus, Asylrecht, da werden wir entschiedener vorangehen als mit der Union.“ 

Kiziltepes Optimismus passt zu dem, was Olaf ­Scholz, Christian Lindner, Annalena Baerbock und die anderen Ampelverhandler Tage später bei der Präsentation der Sondierungsergebnisse demonstrieren: Harmonie, Gestaltungswillen, Aufbruch. Diese von Olaf Scholz geführte Regierung, so auch die Erwartung in der Bevölkerung, soll anpacken, was in 16 Jahren und besonders in der lähmenden Großen Koalition seit 2018 liegen gelassen wurde: Digitalisierung, Demografie, Dekarbonisierung. Aber kann die Ampel ihrem Anspruch gerecht werden – geht die Parteibasis, gehen die Bundestagsfraktionen mit, wenn es um schmerzhafte Kompromisse geht? Oder könnte ein „Schwarzer Schwan“, wie Epidemien, Wirtschaftskrisen, Naturkatastrophen oder Kriege genannt werden, die ehrgeizigen Pläne zunichtemachen, die sich SPD, FDP und Grüne in den Koalitionsvertrag schreiben werden? 

Der erste schwarze Schwan

Die Energiewende ist das einfachste und kniffligste Thema zugleich. Die EU hat mit ihrem 2021 beschlossenen Klimaschutzgesetz einen klaren Rahmen gesetzt: Bis 2030 müssen die EU-Länder die Treibhausgasemissionen um 55 Prozent gegenüber dem Niveau von 1990 senken, 2050 sollen sie Klimaneutralität erreichen. Die letzte Bundesregierung hat mit einem eigenen Klimaschutzgesetz festgeschrieben, dass bis 2030 die Emissionen um 65 Prozent sinken sollen, Klimaneutralität soll schon 2045 erreicht werden. So weit der Rahmen.

Doch bei der Frage, wie das Ziel erreicht werden soll, scheiden sich die Geister – auch in der Ampel. Während die Grünen einen zügigen Ausbau von Wind- und Solarenergie und einen schnellstmöglichen Ausstieg aus der Kohle fordern und ein zusätzliches Investitionsprogramm bis 2030 über 500 Milliarden aufsetzen wollen, haben die Sozialdemokraten einen besonderen Blick auf die Arbeitsplätze, insbesondere in energieintensiven Branchen. Die FDP wiederum warnt davor, die Bedürfnisse eines Industrielands nicht aus dem Blick zu verlieren: Bezahlbarkeit und Versorgungssicherheit sind hier die Schlagworte. Statt Verboten – etwa von Verbrennermotoren – setzen die Liberalen auf die Innovationsbereitschaft der Industrie. 

Lenken mit Steuern

Geht es nach dem Bundesverband Erneuerbare Energien (BEE), dem die frühere Grünen-Chefin Simone Peter vorsteht, soll das Tempo des Ausbaus von Solar- und Windenergie schnell und massiv gesteigert werden: 2020 kamen knapp 1,5 Gigawatt an Onshore-­Windenergie und knapp 5 Gigawatt an Solarenergie hinzu. 2022 sollen 3,6 Gigawatt an Wind- und 12 Gigawatt an Solarenergie hinzukommen. In diesem Tempo soll es nach Vorstellung des BEE bis 2030 weitergehen. Gleichzeitig soll der CO2-Preis massiv steigen: Von heute 25 Euro pro Tonne auf 60 Euro im nächsten Jahr und 150 Euro 2025. 2030 soll der Preis dann bei 300 Euro/Tonne liegen. Die Forderungen entsprechen weitgehend den Forderungen von Klimaaktivisten wie Fridays for Future (FFF) – und sind nah am Wahlprogramm der Grünen.

Beides falsch, sagt der Ökonom Manuel Frondel, Leiter des Kompetenzbereichs „Umwelt und Ressourcen“ am RWI-Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, selbst Fürsprecher der Einführung der CO2-Bepreisung. Die Lenkungswirkung des CO2-Preises sei unbestritten, aber eben mittel- und langfristig, eine kurzfristige massive Erhöhung könnte dagegen kontraproduktiv wirken: „Im Zusammenspiel mit den derzeit steigenden Preisen für fossile Energieträger könnte die Akzeptanz für die Energiewende in der Bevölkerung sinken“, sagt Frondel. Er rät der Regierung stattdessen zu einer Senkung der Stromsteuer auf das absolute Minimum. Der Vorteil: Diese Maßnahme sei sofort spürbar für jeden Bürger – und befördere durch den dann günstigeren Strompreis die Sektorenkopplung. Denn die Bürger haben bei billigerem Strom eine größere Motivation, auf E-Autos umzusteigen. 

Windräder nur mit Stromnetz

Auch beim Ausbau der Erneuerbaren empfiehlt der Ökonom, zunächst zu bremsen – bis die Netze ausgebaut seien. In Kurzform lautet seine Empfehlung: Erst bis 2026 den „Südlink“ fertig bauen, der den Strom aus dem Norden in die energiehungrigen Bundesländer bringen kann, dann Windparks vor der Küste in Betrieb nehmen, um den nötigen Strom zu erzeugen. 

Massiver Ausbau also erst ab 2026? Frondel ist überzeugt, dass Deutschland das Klimaziel 2030 so erreichen kann. Dafür müssten die Wind- und Solarparks rechtzeitig, also in dieser Legislaturperiode, ausgeschrieben werden, damit sie 2026 ans Netz gehen können. „Wenn wir aber schon jetzt massiv ausbauen, bringt das jährlich mehrere Milliarden an Kosten für die Erhaltung der Netzstabilität mit sich. Dazu gehören Entschädigungszahlungen der Bundesnetzagentur an Betreiber von Energieanlagen für Erneuerbare, die abgeschaltet werden müssen, weil der Strom nicht ins Netz eingespeist werden kann.“ 

Für mehr Windparks vor der Küste – und nicht an Land, wie von Grünen und BEE gefordert – sprechen Frondel zufolge die weit höhere Effizienz und die geringeren „politischen“ Kosten. Denn der Widerstand der Bürger gegen Windräder vor der Haustür werde eher noch wachsen: Die Grünen wollen 2 Prozent Deutschlands für den Bau von Windrädern freigeben. Neben ästhetischen Argumenten ist ein wichtiger Grund für den Protest das reale Sinken des Wertes einer Immobilie, wenn in Sichtweite ein Windrad entsteht. 

AKWs doch noch weiterlaufen lassen?

Ein Schwarzer Schwan für die Ampelregierung könnte die Netzstabilität werden: Was, wenn es in den nächsten Jahren zu einem für ein Industrieland wie Deutschland folgenreichen Blackout kommt? Denn Deutschland beschreitet im internationalen Vergleich mit seinem gleichzeitigen Ausstieg aus der Kernkraft und der Kohle einen riskanten Weg: Allein bis 2030 wird der Stromverbrauch von heute 571 auf mindestens 645 Terawattstunden steigen, weil dann mehr Elektroautos unterwegs sind und Teile der Industrie von fossiler Energie auf Strom umstellen. Was, wenn der Ausbau der Erneuerbaren trotz aller Bemühungen nicht vorankommt? Wegen steigender Preise und der Gefahr eines Blackouts würden besonders energie­intensive Industrien ihre Produktion dann verlagern. „Eine Lösung wäre der Bau neuer Gaskraftwerke als Back-up, aber die stehen momentan noch nicht zur Verfügung“, sagt Frondel. Als Ausweg bliebe unter anderem der verstärkte Stromimport, etwa Atomstrom aus Frankreich, wenn bei uns „Dunkelflaute“ herrscht. 

Bekommt die Atomkraft also eine zweite Chance? In der FDP-Fraktion machte zuletzt ein Papier des Arbeitskreises Energie & Naturschutz die Runde, das einen Fahrplan für den Weiterbetrieb der sechs verbliebenen Atomkraftwerke beinhaltet, die bis Ende 2022 abgeschaltet werden sollen. Es wäre kein Wiedereinstieg in die Atomkraft, sondern die Nutzung der AKWs als Brückentechnologie, bis die Erneuerbaren ausreichend ausgebaut und eine Lösung der Speicherfrage gefunden wäre. Ein Weiterbetrieb über die nächsten 15 bis 20 Jahre würde zudem über die Jahre etwa eine Gigatonne CO2 einsparen. 

Die Wahrscheinlichkeit, dass die Grünen bei diesem Thema, das die Partei vor vier Jahrzehnten zusammenbrachte, einen Spurwechsel vollziehen, ist allerdings gering. Auch Ökonom Frondel glaubt nicht daran, selbst wenn er es aus pragmatischen Gründen befürwortet. Er erinnert daran, dass die inzwischen großzügig entschädigten Betreiber kein Interesse an einem Weiterbetrieb hätten. Andererseits: Im Oktober fragte der grüne Vordenker Ralf Fücks auf Twitter: „Energiepreise gehen durch die Decke, unsere Abhängigkeit von Russland wächst, Anteil der Kohle (!) am Energiemix steigt – aber die Frage scheint Tabu, ob das der richtige Zeitpunkt ist, die letzten AKWs stillzulegen. Klima first?“

Energiepreise gehen durch die Decke

Noch während die Ampelkoalitionäre in diesem Oktober und November verhandeln, taucht am Horizont ein Schwarzer Schwan auf, der gerade auf die Energiewende-Vorhaben entscheidenden Einfluss haben könnte: eine veritable Energiekrise. Laut Statistischem Bundesamt war Heizöl im September 76,5 Prozent teurer als im Vorjahr, Benzin kostete 28,4 Prozent mehr. Bis zum Wintereinbruch könnten die Preise explodieren. Das befeuert die ohnehin wachsende Inflation – und behindert den dringend benötigten Wirtschaftsaufschwung nach Corona.

Das scheint Klimaaktivisten kaum zu kümmern: Im Oktober ruft der Fridays-for-Future-Aktivist Louis Motaal zu einer Großdemo vor der SPD-Zentrale auf, um die Verhandlungen zu beeinflussen. „Die FDP könnte jetzt alles vermasseln: Sie will den Klimaschutz alleine dem Markt überlassen“, schreibt er da. „Und weil die Grünen unbedingt regieren wollen, könnten sie sich auf fatale Kompromisse einlassen, die das Klima weiter anheizen.“ Die Ampel ist noch nicht fertig gebaut, da werden die Risse zwischen FFF und der Ökopartei schon tiefer.

Zoe Mayer hat keine Angst davor, die Aktivisten zu enttäuschen. Die 26-Jährige, in weißen Sneakers und knöchelfreier Hose, ist gerade in Berlin angekommen. Direkt gewählt für die Grünen in Karlsruhe, hat sie die chancenlosen SPD- und CDU-Kandidaten auf die Plätze verwiesen. Mayer kommt selbst aus der Klimabewegung, findet es „sehr, sehr wichtig, dass jemand diesen ganzen Prozess kritisch begleitet“. Aber man müsse eben die Bevölkerung mitnehmen – und das sei nicht nur eine Plattitüde.

Grüne Newcomer sind erfahren

„Demokratie ist immer ein Kompromiss, weil man nichts durchkriegt, wenn man nicht die Mehrheit auf seiner Seite hat“, sagt sie an einem sonnigen Tag in Berlin, zwischen einer Grünen-Sitzung und einer Führung in ihrem neuen Wohnviertel Wedding. „An dem Punkt, wo wir Teile der Gesellschaft abhängen und die breite Akzeptanz verlieren, würde es sehr schnell nach unten gehen.“ Das Durchschnittsalter der 118 Grünen im neuen Parlament ist 42. 22 Abgeordnete sind unter 30, viele von ihnen sind FFF-Aktivisten oder stehen der Klimabewegung nah. Ältere Grünen-Abgeordnete, so hört man es auf den Fluren des Bundestags, sollen sich Sorgen machen, dass der Konflikt zwischen Idealismus und Realpolitik bei den Neuabgeordneten zur Belastung für die Koalitionsverhandlungen werden könnte. 

Naiv, weltfremd, unerfahren? Die Klischees, die den grünen Neuabgeordneten zugeschrieben werden, bekommen bei genauem Hinsehen schnell Risse. Viele von ihnen haben bereits Erfahrung in der Kommunalpolitik und Fächer wie Agrar- oder Forstwirtschaft studiert. Mayer war sieben Jahre in der Kommunalpolitik. 2014 zog sie mit 18 Jahren als jüngste Stadträtin in der Geschichte Karlsruhes in den Gemeinderat ein, war Sprecherin für Klimaschutz und Wirtschaftsförderung, 2019 wurde sie Fraktionsvorsitzende. „Ich weiß, was man im politischen Geschäft durchsetzen kann und was nicht“, sagt die junge Wirtschaftsingenieurin, die seit 2019 zu Klimaschutz im Gebäudesektor promoviert.

Auch für Baden-Württembergs Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, den viele Klimaaktivisten für seine autofreundliche Politik verdammen, findet sie gute Worte. Sie schätze ihn für seine „Herangehensweise, bei Konflikten alle an den Tisch zu holen“.

Kompromissbereitschaft ist lernbar

Vor acht Jahren stand Cansel Kiziltepe im Bundestag so am Anfang wie heute Zoe Mayer. Allerdings war sie da etwas besser vorbereitet: Seit 2005 hatte sie beim dezidiert linken SPD-Urgestein Ottmar Schreiner als Referentin gearbeitet. Für Kiziltepes Fraktion gilt Ähnliches wie für die Grünen-Fraktion: Sehr viele Gesichter sind neu, sehr viele sind jung. Und viele sind dezidiert links: 49 Mitglieder der neuen Fraktion gehören den Jusos an. Über den Zuwachs freut sich Kiziltepe, die Mitglied im Leitungskreis der Parlamentarischen Linken ist, ein Klub, in dem sich die linken SPD-Abgeordneten versammeln. Der hat nun einen überdurchschnittlich hohen Zuwachs erfahren.

„Es ist gut, dass mal frischer Wind in die Fraktion kommt“, sagt sie, die sich bei den ersten Fraktionssitzungen an ihre eigene Zeit als „Frischling“ im Bundestag erinnerte: „Man denkt, dass man an einem Tag die Welt ändern kann.“ Aber wie viel Kompromiss ist mit diesen jungen, idealistischen Abgeordneten zu machen? „Es dauert zwei bis drei Jahre, bis man versteht, dass man nicht mit dem Kopf durch die Wand kann“, sagt sie. Bis heute zählt sie zu den SPD-Abgeordneten, die am häufigsten gegen die Fraktionsdisziplin stimmen. Allerdings habe der Fraktionsvorstand auch Möglichkeiten, Abgeordnete zu „sanktionieren“, wie Kiziltepe sich ausdrückt. Sie beschränkt sich bei ihren abweichenden Voten auf bestimmte Themen, allen voran Auslandseinsätze der Bundeswehr. „Da folge ich meinem Gewissen“, sagt sie. Bei anderen Themen hat sich der Pragmatismus parlamentarischer Arbeit durchgesetzt: „In einem Parlament braucht man Mehrheiten und Kompromisse.“ Und dann stimme man eben auch Gesetzen zu, die einem nicht weit genug oder sonst wie gegen den Strich gehen. 

Streitpunkt Schuldenbremse

Also zwei, drei Jahre, bis die jungen Wilden sich die Hörner abgestoßen haben? Was, wenn sich die Jungen an Kompromissen stoßen, die Sozialdemokraten und Grüne den Liberalen gegenüber machen müssen? Die schon in den Sondierungen gekippte grün-rote Wiedereinführung einer Vermögenssteuer war ein erster Stich ins Herz der Parteilinken. 

Folgt man dem Sondierungspapier, hat sich Christian Lindner mit seinen roten Linien durchgesetzt: keine Steuererhöhungen und keine Aussetzung der Schuldenbremse. Aber wo soll das Geld für die Investitionen herkommen? Im Sondierungspapier ist von „Superabschreibungen für Investitionen in Klimaschutz und Digitalisierung“ die Rede. Zudem solle der Haushalt auf „überflüssige, unwirksame und umwelt- und klimaschädliche Subventionen und Ausgaben“ überprüft werden, um zusätzliche finanzielle Spielräume zu schaffen.

Eine „Flexibilisierung“ der Schuldenbremse sieht Kiziltepe jedoch als unumgänglich an. „Ich bin keine Schuldenmacherin, aber nach dem Investitionsstau der letzten Jahre müssen wir jetzt massiv in Umwelt und Bildung investieren“, sagt sie. Eine Kompromissvariante wäre es, derartige Investitionen von der Schuldenbremse auszunehmen.

Schattenkanzler Kühnert

Um die Zusammenarbeit mit der studierten Volkswirtin Kiziltepe, auch wenn sie der Parlamentarischen Linken angehört, macht man sich in FDP-Kreisen keine Sorgen. Anders sieht es aus mit einem, der immer mehr ins Machtzentrum der SPD aufrückt und seine Rolle als Medienstar immer wieder nutzt: Kevin Kühnert. 

Es gilt als offenes Geheimnis, dass der 32-jährige ehemalige Juso-Chef und heutige Parteivize auf ein rot-rot-grünes Bündnis spekulierte – nur wenige Tage vor der Bundestagswahl beschimpfte er FDP-Chef Lindner als „Luftikus“. Mit Genugtuung stellten die Liberalen dann fest, dass der Agent Provocateur Kühnert immerhin nicht zum Sondierungsteam gehörte.
Dennoch gilt Kühnert, nun erstmals im Bundestag, wegen seines Profilierungsdrangs als wandelndes Pulverfass. Von seinem Willen zur Macht konnten sich die ARD-Zuschauer Anfang Oktober überzeugen: Eine sechsteilige Dokumentation über seinen Aufstieg in der SPD zeigte nicht nur, welch großen Einfluss Kühnert unter den Jusos genießt, die nun eine bedeutende Größe in der Fraktion darstellen. Auch Kühnerts demiurgenhaftes Verhältnis zu den Parteichefs Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken belegt die Doku.

Die Geschlossenheit der SPD hält seit Anfang des Jahres, Olaf Scholz’ Erfolg bei den Wählern hat dem Kanzler in spe Autorität verliehen. Aber was, wenn Kühnert bei einem linken Herzensthema mitten in der Legislatur seine Leute zum Aufstand ruft? Kühnerts Einfluss könnte bewirken, dass eines der drängendsten Themen dieser Legislaturperiode links liegen bleibt: die Rente. „Stabile Renten“ gehörten zu den Kernversprechen, mit denen Olaf Scholz die Wahl gewann. Und das ungeachtet der Tatsache, dass die allermeisten Experten sich einig sind, dass unser System dringend einer Reform bedarf: Mit den „Babyboomern“ geht jetzt ein sehr geburtenstarker Jahrgang in Rente. Es werden also deutlich mehr Rentner, gleichzeitig haben die Babyboomer wenige Kinder bekommen. Relativ zur Anzahl der Babyboomer werden also wenig Einzahler in die Rentenversicherung da sein – 2035 wird es nur noch einen Beitragszahler pro Rentner geben, danach wird es immer mehr Rentner und weniger Beitragszahler geben.

Unausweichliche Rentenreform

Die Folge: Schon heute muss der Staat jährlich 100 Milliarden Euro ins Rentensystem pumpen – etwa 28 Prozent des Bundeshaushalts. Dieser Anteil, so warnte ein in diesem Jahr vom Wirtschaftsministerium beauftragtes Gutachten, werde bis 2040 auf über 44 Prozent und bis 2060 auf über 55 Prozent ansteigen. Allerdings nur, wenn die Regierung sich wie die letzte um eine Rentenreform drückt. Die letzte Groko schrieb 2018 stattdessen „Haltelinien“ bis 2025 fest: Die Beiträge sollten nicht über 20 Prozent des Bruttolohns steigen, das Rentenniveau darf nicht unter 48 Prozent sinken. 

Stillstand also, Status quo, gegen den Renten­experten wie Axel Börsch-Supan – führender deutscher Rentenexperte und Direktor am Münchner Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik und Mitglied der Leopoldina – seit Jahren anreden. „Man muss alle großen Stellschrauben, die die Rentenversicherung hat, bedienen. Ansonsten wird eine überdreht“, sagt Börsch-Supan. „Die Beiträge müssen sanft ansteigen, das Rentenniveau muss sanft fallen, die Steuerzuschüsse müssen ansteigen, aber auch nicht übertrieben, und man muss allmählich das Rentenalter erhöhen.“ Das Problem: Kaum etwas ist bei der Bevölkerung so unpopulär wie eine Rentenreform, allein der Begriff „Erhöhung des Rentenalters“ ist für jede Oppositionspartei ein willkommenes Geschenk. 


Die letzte große Reform zog unter dem Protest der Sozialverbände vor zwei Jahrzehnten die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder durch – damals entstand die sogenannte Riester-Rente – 2007 beschloss die erste Merkel-Groko die stufenweise Anhebung des Rentenalters auf 67. Börsch-Supan schlägt schon seit 2005 vor, eine automatische Anhebung des Rentenalters ins Gesetz zu schreiben: Steigt die Lebenserwartung der Deutschen um zwei Jahre, wird das Renteneintrittsalter um ein Jahr erhöht.

„Das bedeutet, dass das Rentenalter wirklich nur erhöht wird, wenn wir tatsächlich länger leben“, sagt er. Davon war im Wahlkampf aber bei keiner Partei die Rede. Scholz will das Problem lösen, indem er die allgemeine Beschäftigungsquote steigert – und die der Frauen verbessert, also für mehr Beiträge sorgt. Die Grünen fordern eine „Bürgerversicherung“, in die auch Beamte und Selbstständige einzahlen. Im Sondierungspapier findet sich nun immerhin ein Zugeständnis an die FDP: der Einstieg in eine kapitalgedeckte Rentenversicherung ab 2022.

Digitalisierung

Auch Achim Berg verfolgt die Verhandlungen für die erste Ampelkoalition auf Bundesebene aufmerksam. Der Informatiker vertritt seit 2017 als Präsident des Verbands Bitkom die Interessen der Informations- und Telekommunikationsbranche – und war ein gern gesehener Gast bei Angela Merkel, wenn es um Digitalisierung ging.

2018 stand Berg Pate, als die Groko den „Digitalpakt Schule“ auflegte: Mit staatlicher Förderung sollten die deutschen Schulen endlich in der Gegenwart ankommen. Das Ergebnis? Bis Juni dieses Jahres wurden von den inzwischen 6,5 Milliarden Euro an Fördermitteln nur 852 Millionen Euro abgerufen. „Die Gründe, warum wir bei der Digitalisierung nicht vorankommen, sind die zu große Verteilung von Verantwortlichkeiten, ein sehr besonderes Verhältnis zum Datenschutz – und eine gewisse Bräsigkeit“, sagt Berg.

Ein eigenes Ministerium

In der letzten Bundesregierung versuchte Dorothee Bär sich als Staatsministerin für Digitalisierung, hatte aber weder genügend finanzielle Ressourcen noch Personal. Kanzleramtsminister Helge Braun machte das Thema zur Chefsache, war dann aber vor allem mit der Pandemie beschäftigt. Eine gute Note vergibt Achim Berg einzig an Gesundheitsminister Jens Spahn, der die digitale Patientenakte entscheidend vorangebracht habe.

Trotz aller Lippenbekenntnisse zur Digitalisierung ist das Ergebnis niederschmetternd: Laut dem European Center for Digital Competitiveness liegt Deutschland bei der digitalen Wettbewerbsfähigkeit heute in Europa auf dem vorletzten Platz, knapp vor Albanien. Nun, fordert Berg, müsse das Thema endlich in eine Hand, in einem eigenen Digitalministerium, gerne auf Basis eines bestehenden Ministeriums. „Der Minister muss echte Durchgriffsrechte gegenüber anderen Ministerien haben“, sagt er. Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen haben es vorgemacht: Dort agiert der FDP-Politiker Andreas Pinkwart seit 2017 sehr erfolgreich als Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie. Dass das Sondierungspapier der Ampel vorschlägt, alle Gesetze einem „Digitalisierungscheck“ zu unterziehen, ist da schon ein Schritt in die richtige Richtung.

Endgegner Bürokratie

„Die Hälfte der CO2-Einsparungen im nächsten Jahrzehnt können wir durch digitale Fortschritte erreichen, durch intelligente Verkehrsführung oder digitale Zwillinge in der Produktion“, sagt Berg. Dafür sei aber eine massive Entbürokratisierung nötig: Viele Schulen hätten das Geld aus dem Digitalpakt nicht abgerufen, weil dafür 30 bis 60 Seiten dicke Medienkonzepte gefordert wurden. Dasselbe gilt für den Ausbau von Breitband- und Handynetzen: Die Genehmigung für den Bau eines Mobilfunkmasts in Deutschland betrage oft ein bis zwei Jahre, einige Verfahren liefen bereits neun Jahre. Berg empfiehlt einen Blick nach Spanien: Dort dürfen die Mobilfunkanbieter bauen – und müssen die Masten nur wieder abbauen, wenn sie gegen geltendes Recht verstoßen. Das sei aber fast nie der Fall.

Mehr gezielte Unterstützung erhofft sich Berg auch für Branchen, bei denen deutsche Unternehmen heute führend sind. Dazu gehörten Betriebssysteme für Quantencomputing, aber vor allem künstliche Intelligenz in den Bereichen Medizin und autonomes Fahren. Wer da die Nutzung von Daten zu sehr einschränke, stelle sich in der KI selbst ein Bein. „KI ohne Daten – das ist wie ein Schwimmbad ohne Wasser“, sagt Berg.

Noch kniffliger als der Datenschutz ist in der Bundesrepublik ein anderes Thema: der Föderalismus. „Man sollte schon mal die Frage stellen, ob das in allen Bereichen so sinnvoll ist. Brauchen wir wirklich in jedem Bundesland einen eigenen Datenschutzbeauftragten? Weshalb haben wir keine gemeinsame Schulcloud, auf die dann alle deutschen Schulen zugreifen können?“ Dass diese Bundesregierung sich an das Bohren dieses Brettes macht, daran will Berg aber selbst nicht so recht glauben.

 

Dieser Text stammt aus der November-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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