Meinungsfreiheit - Der kategorische Imperativ neospießiger Shitstormmoral

Selbst Normalbürger ohne rechtes Gedankengut äußern ihre Meinungen zu manchen Themen nur noch im Freundeskreis. Zu groß ist die Angst vor sonst einsetzender gesellschaftlicher Ächtung. Manche Kreise tolerieren nur noch „linkes“ Sprechen und Handeln. Ist das die vielgepriesene Freiheit?

Mit solchen Buttons kann man sich sorglos in die Öffentlichkeit wagen / picture alliance
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Autoreninfo

Dr. Stefan Grüll ist Rechtsanwalt und Publizist mit langjähriger, politischer Erfahrung als ehemaliger Abgeordneter (FDP). Der heute „parteipolitisch heimatlose Liberale“ wirbt in Vorträgen und Veröffentlichungen für eine demokratische Streitkultur. 

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Ich denke in diesem Moment an den Handwerker, mit dem ich mich unlängst über Politik unterhielt. Geboren im Brandenburgischen in die Endphase der DDR wurde er im wiedervereinigten Deutschland sozialisiert. Die Demokratie weiß er zu schätzen. Die Marktwirtschaft hat er verinnerlicht. Überzeugt von dem eigenen Können hat er vor Jahren den sicheren Arbeitsplatz aufgegeben, um sich selbstständig zu machen. Heute trägt er Verantwortung für einen Betrieb, von dem nicht nur seine Familie lebt, sondern auch die der Mitarbeiter. Mittelstand wie aus dem Lehrbuch.

Breite Schultern. Großes Herz. Empathie für die, die weniger Glück im Leben haben. Solidarisch mit denen, die die Hilfe der Gesellschaft brauchen. Knallhart, wenn es um die geht, die sich „bei uns nicht benehmen“. Dabei macht er keinen Unterschied zwischen Aus- und Inländern, Zugezogenen oder hier Geborenen, jene mit und jene ohne Migrationshintergrund. Klar in der Sache. Die Gedanken abgewogen. Die Worte bedacht. Hier bricht nichts aus einem „Rechten“ heraus, der einem kruden Welt- und Menschenbild folgt.

Ist das die Freiheit?

Hier spricht ein Mann, der im Leben steht, Steuern an seinen Staat zahlt. Er identifiziert sich mit Deutschland, ohne Nationalist zu sein, und macht sich in unruhiger Zeit die Sorgen um die Zukunft des Landes, die so viele teilen.

„Das bleibt aber unter uns“, bittet er mich, als wir uns verabschieden. Man werde heute ja so schnell abgestempelt, wenn man etwa den massenhaften Missbrauch der Sozialsysteme kritisiere, während die Schulen vergammeln. Bildung. Bildung. Bildung. Das ist sein Mantra. Seit zwei Jahren findet er keinen ausbildungsfähigen Jugendlichen. Herkunft oder Glaubensbekenntnis spielen für ihn keine Rolle. Auf dem Bau zählen Verlässlichkeit, Teamfähigkeit, Können und Motivation. So spricht kein Nazi und dennoch:

Nur hinter vorgehaltener Hand. Ist das die Freiheit, die die DDR-Bürger 1989 meinten, als sie gegen das SED-Regime aufstanden?

„Freiwilliger“ Kampf gegen Intoleranz

Ich denke an die mir aus früherer Tätigkeit gut bekannte Mitarbeiterin bei einer in Bonn verbliebenen Bundesbehörde, die sich aus Angst vor der – wie sie es nennt – sozialen Kontrolle am Arbeitsplatz unfreiwillig in einer „freiwilligen“ Initiative im Kampf gegen Rassismus und Intoleranz engagiert. Vorsorglich „links“ sprechen und handeln, damit man nicht als „rechts“ verdächtigt wird. Ein Einzelfall?

Ich denke an die Abende mit einem in der Öffentlichkeit stehenden Freund, der die Kritik „an den Zuständen da draußen“ (er meint den ganz normalen Alltag in seiner Stadt) aus Angst um seine Kinder neuerdings sehr drastisch formuliert. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, da waren für ihn Sommermärchen 2006 und Willkommenskultur 2015 noch die Leuchttürme des neuen Deutschlands. Etliche geplatzte Illusionen später vergleicht er die Rolle der AfD mit der der Grünen in der Bonner Republik Anfang der achtziger Jahre; für ihn die Hefe im Teig des politisch Eingefahrenen. Ob er das öffentlich sagen würde? Niemals!

Die gesellschaftliche Ächtung

Die veröffentlichte Meinung ist gnadenlos. Verstöße gegen die einzig akzeptierten Sprachregelungen werden nicht geduldet. Die gesellschaftliche Ächtung ist das final vollstreckte Urteil im Namen derer, die ohne jegliche Legitimation nur laut genug trommeln. Und so versendet er die dem Comment seiner Branche geschuldeten Textbausteine pflichtgemäßen Applaus des Studiopublikums generierend bei Markus Lanz und in den entsprechenden Formaten.

Seine Meinung aber sagt er nach einem Shitstorm, unter dem die ganze Familie gelitten hat, nur noch in dem geschützten Raum enger Freundschaft. Offene Worte auch bei ihm nur noch hinter vorgehaltener Hand.

Kultivierte Unwissenheit

Und um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Nein, wählen würde er die Igitt-Partei niemals. Seine Zweitstimme gehört gewöhnlich der FDP und ist gelegentlich Grün. Aus tiefer Überzeugung ist er so weltoffen und tolerant, wie die es vorgeben zu sein, die ihre schrecklich biedere Intellektualität in den In-Kneipen mit den Nazis-werden-hier-nicht-bedient-Aufklebern am Prenzlauer Berg, in Mitte oder X-Berg und Friedrichshain zelebrieren. Kollektive Onanie im soziokulturellen Biotop der hippen Hauptstadt.

Wo Wissen helfen könnte, vorverurteilende Reflexe zu vermeiden, wird Unwissenheit kultiviert, und so erreicht das Erregungsbarometer auf der nach oben offenen Beleidigt-sein-Skala stets neue Absurditätsrekorde. Der kategorische Imperativ neospießiger Shitstormmoral widert mich an. Dem von Ideologen und Finanzpolitikern in unsäglicher Allianz amputierten Rechtsstaat begegne ich gelegentlich mit verstörender Distanz; umso mehr bewundere ich die, die in Polizei und Justiz unverdrossen ihren Dienst tun.

Kann die Politik es nicht besser?

Politik war mein Beruf und ist unverändert meine Leidenschaft. Und gerade deshalb: Kann unsere politische Klasse es nicht besser; gibt es keine Besseren?

Ein Robert Habeck macht noch keinen Sommer. Der Frontmann der Grünen ist die Ausnahme; die Apparatschiks vom Politikertyp Altmaier noch immer die Regel. Ein seltenes Exemplar auch Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer, der regelmäßig beweist, dass Amt und Intelligenz des Amtsinhabers sich nicht ausschließen müssen; jüngstes Beispiel die Enteignungsdebatte um Artikel 15 GG: Während sich die Dogmatiker beider Seiten auf ideologischer Metaebene ineinander verhaken, löst Palmer mit dem Erlass von Baugeboten die Probleme vor Ort – um nur Tage später mit provozierenden Tweets auf Twitter gleich wieder die Gralswächter linksalternativen Urschleims auf den Plan zu rufen.

Geh doch zur AfD schreien sie ihm hassverzerrt entgegen. Ist das die „Rückkehr der aufgeklärten Zivilisation zur Barbarei in der Wirklichkeit“? Adorno rotiert im Grab.

Institutionalisierte Planlosigkeit

Es mag taktisch kalkulierte Provokation der schmerzhaft chronisch unter dem Radar medialer Beachtung tieffliegenden Partei gewesen sein, als FDP-Chef Christian Lindner den Greta-Hype um die schulschwänzende Schwedin kritisierte. Angesichts der Komplexität der Fragen forderte er lieber auf wissenschaftliche Expertise als Fundament für Entscheidungen verantwortlicher Politik zu setzen, statt Sturm und Drang einer ernsthaft klimabewegten Freitagsjugend primär umfrageorientiert in politischen Aktionismus zu transformieren – wie es die Kanzlerin schon nach Fukushima gemacht hat. Kein Atom. Weg mit der Kohle. Dafür Wind und möglichst viel Sonne. Das der Plan der jetzt mal wieder Klimakanzlerin.

Wie aber steht es wirklich um die ehrgeizige Energiewende? Institutionalisierte Planlosigkeit als Folge populärer (populistischer?) Politik will organisiert sein, und so hat die Kanzlerin die Quadratur des Kreises in die Hände eines eigens dafür installierten Klimakabinetts als Teilmenge ihrer Regierungsmannschaft delegiert. Wer nicht weiter weiß, gründet einen Arbeitskreis.

Suspekt sind mir die Politiker, die Primat der Politik mit Unfehlbarkeit verwechseln. Angst machen mir aber auch die unter den Demonstranten, die mit Absolutheitsanspruch auftreten.

Freiheit bedeutet auch Verantwortung

Im Europawahlkampf 2019, der nach den Vorstellungen der Chefstrategen wohl aller Parteien mit routinierter Langeweile über die Zielgerade gebracht werden sollte, hat der Youtuber Rezo mit dem legendären „Zerstörung-der-CDU“-Video ordentlich recherchiert, intelligent argumentierend, unterhaltsam polemisierend und inhaltlich fordernd den Parteien den Spiegel ihres Scheiterns vorgehalten. An der Willensbildung der Jugend wirken sie mit monothematisch bedingter Ausnahme der Grünen jedenfalls nicht mehr mit. Dennoch: Die nach dem Wahlsonntag unter dem Stichwort „Meinungsmache“ einsetzende Debatte über Wirkung und Gefahren der sozialen Medien hat nicht nur mit Blick auf den twitternden Donald Trump und seine präsidialen Fake News eine Berechtigung.

Über den Transfer im Analogen bewährter Regeln der Fairness ins Digitale wenigstens nachzudenken, ist nicht per se ein Angriff auf die Meinungsfreiheit. Selbstverpflichtung ist keine Zensur und Freiheit kein Freibrief. Bloggende Influencer, die mit einer nicht selten sechs bis siebenstelligen Followergemeinde Einfluss qua Reichweite haben, daran zu erinnern, dass Freiheit auch Verantwortung bedeutet, ist kein Skandal; das Gegenteil wäre es. Denn: Rezo ist die Ausnahme.

Mehr Rezo!

Denen die rote Karte zu zeigen, die Meinungsfreiheit sagen und Meinungsmache meinen, ist zwingend! Die an ihre Verantwortung zu erinnern, die mit Meinungsmacht Meinung machen, ist gleichwohl geboten. Die Fähigkeit, sich im Informationsdschungel eine eigene Meinung bilden zu können, um eigenverantwortliche Entscheidungen treffen zu können, ist eine im analogen Leben unverzichtbare Kernkompetenz.

Wer denen in der digitalen Scheinwelt auf den Leim geht, die als Stilikonen auf den Sockel gehoben werden, obwohl sie am Ende doch nur alimentierte Werbepuppen sind, wird kaum in der Lage sein, sich in anderen Fragen eine eigene Meinung zu erarbeiten und diese auch gegen Widerstände argumentativ zu vertreten. Wenn gepostete Oberflächlichkeit Orientierung gibt und reine Optik Maßstäbe setzt, ist das Feld bestellt, auf dem Unsägliches gedeihen kann. Was, wenn politische Simplifizierer das intellektuelle Vakuum nutzen? Das schönste Gesicht macht keine krude Botschaft erträglicher. Blogger stehen in der Verantwortung, eine Meinung zu liefern, wenn sie vorgeben, eine zu haben. Noch aber erinnert die Performance der Masse der Beauty- und Lifestyleinfluencer eher an die Geschichte von dem Kaiser und seinen neuen Kleidern. Mehr Rezo!

Ergebnisoffene Debatte – nur eine Illusion?

Die intellektuell redliche Debatte. Der dialektische Diskurs. Transparent. Ergebnisoffen. Undogmatisch. Einzig der Wertekanon des Grundgesetzes bildet Basis und markiert Rahmen für das Ringen der Parteien um Zustimmung, die, weil prozedurale Transparenz argumentative Stringenz verlangt, dann auch wieder unterscheidbar werden. Nur eine Illusion?

Den einen fehlt die Statur, gegen die eigene Partei(führung) und /oder die veröffentlichte Meinung Position zu beziehen. Der parteiinterne Dauerkampf um Wahlkreis beziehungsweise Listenplatz zwecks Erhalt parlamentarischer Alimentation limitiert die Freiheit der Gewissensentscheidung. Den anderen fehlt der Intellekt, um in freier Rede konstruktiv zu streiten; Sprechzettel-Vorleser im Duell mit Sprechzettel-Ableser statt Wort und Widerwort. Nicht wenigen mangelt es an Statur und Intellekt. Die Selektionsprozesse der Parteien dominieren eben andere Kriterien als Qualifikation und Können. Am Ende ist Proporz wichtiger als Kompetenz.

Zukunftsgestaltung nur noch simuliert

Die als „etabliert“ bezeichneten Parteien unterscheidet vielfach nur noch das Marketing. Machtvergessenheit und Machtversessenheit hatte der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker dem politischen Personal bescheinigt. Der Befund hat nichts an Aktualität verloren, und so justiert die Elite lediglich die Stellschrauben einer in die Jahre gekommenen Ordnung. Dabei kann das System schon lange nicht mehr halten, was seine Repräsentanten unverdrossen versprechen. Die Verwaltung der Gegenwart bindet die politischen Kräfte offenbar so, dass Zukunftsgestaltung allenfalls noch simuliert wird.

Der große Wurf fällt regelmäßig der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner zum Opfer. Die das politische Tagesgeschäft dominierende Streit(un)kultur reduziert Debatte dabei regelmäßig schon am Anfang auf das mutmaßliche Ende eines vertagenden Formelkompromisses nach als ergebnisoffener Diskussion verklärten Austausches von Schlagworten, der keinen Platz lässt für eine Reflexion konkurrierender Positionen. Für eine angeblich aufgeklärte Gesellschaft unwürdige Rituale bedeuten damit letztlich den Verzicht auf die Option, bessere Lösungen zu finden.

Kann/darf sich Deutschland das leisten?


Dies ist ein Auszug aus dem Buch von Stefan Grüll: Rechts. Links. Mitte. Was bin ich und wovon wie viel: Gedanken eines zweifelnden Liberalen

 

 

 

 

 

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