1.04.2019, Berlin: Ein selbstgemaltes Schild mit der Aufschrift «Markthalle für Alle!» ist an einem Fenster neben einem Aldi-Logo angebracht. Der Aldi in der Markthalle Neun in Kreuzberg soll weichen. Die Anwohner setzen sich unerwartet für seinen Verbleib ein.
Böser Ausbeuter oder Retter der Armen? An der Aldi-Filiale in Kreuzberg scheiden sich die Geister / picture alliance

Gentrifizierung in Berlin - Besser-Esser oder Schicki-Mickies?

Ausgerechnet im linksgrünen Berlin-Kreuzberg demonstrieren Anwohner für den Erhalt einer Aldi-Filiale. Die steht in einer Halle, in der es hauptsächlich teure Bio-Produkte zu kaufen gibt. Hipster und Wurstesser stehen sich unversöhnlich gegenüber. Was ist da los?

Antje Hildebrandt

Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Bio-Soja-Reisdrinks gibt es diese Woche im Aldi in Kreuzberg im Sonderangebot. Ein echtes Schnäppchen. Nur 1,49 Euro pro Liter. Beate, 70,  schiebt den Einkaufswagen achselzuckend weiter. Bio ist nicht so ihr Ding. Aber den Beelitzer Spargel, den packt sie ein. Den gibt es auch vor der Tür des Discounters, am Stand eines Brandenburger Bauern, frisch und nur ein paar Cent teurer. Aber dort, in der Halle um die Aldi-Filiale, sagt Beate, „kaufen nur Schicki-Mickies“.

Die Aldi-Filiale wirkt wie ein gläserner Tresor, der sich in der Markthalle 9 verbirgt, die sich wie eine spätgotische Kathedrale über den Wrangelkiez in Berlin-Kreuzberg erhebt. Eigentlich ist das Motto der Markthalle Neun „Halle für Alle“. Auf einem großen Banner steht „gutes Essen für alle.“ Aber stimmt das? Es sind hauptsächlich exquisite Produkte, die es hier zu kaufen gibt. Mit nachgewiesener Qualität und nachgewiesener Nachhaltigkeit. Der Aldi ist das einzige Angebot im niedrigen Preissegment. Aber auch diese Filiale unterscheidet sich von einer in, sagen wir, Herne-West. Das ahnt man spätestens, wenn man die vielen Produkte für Vegetarierer sieht und den  Aushang liest, den der Filialleiter vor ein paar Tagen aufgehängt hat: „Aldi bleibt!“ Um das Billigparadies ist ein Streit entbrannt: Vegetarier gegen Wurstesser, Hipster gegen Hartz IV-Empfänger, Ur-Kreuzberger gegen Dazugezogene. Wer zu welchem Lager gehört, ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Der Riss geht quer durch den Kiez.

Riss durch den Kiez

Vordergründig geht es um die Ernährung und einen bewussten Konsum, aber dahinter steckt die Frage, die derzeit auch Menschen im Rest der Republik bewegt. Sind die Käufer von Bio-Produkten die besseren Menschen, wenn sie es sich leisten können, Produkte frisch vom Erzeuger zu kaufen, 100 Prozent „fair trade“? Woher nehmen die Gralshüter der grünen Ideologie das Recht, anderen vorzuschreiben, wie sie zu leben haben? Im Aldi in der Markthalle 9 prallen die Gegensätze aufeinander. Sein Mietvertrag sollte eigentlich zum 31. Juli auslaufen. So sah es der Mietvertrag vor, den die Betreiber der Markthalle 9 mit dem Discounter abgeschlossen hatten. Drei Männer, die das architektonische Kleinod 2011 für 1,15 Millionen Euro vom Land Berlin gekauft haben. Doch dagegen rührte sich Protest. Ein Witz, denkt man. Schließlich sind wir in Kreuzberg, dort, wo Berlin grüner ist, als die Polizei erlaubt.

Vor ein paar Jahren liefen Anwohner noch Sturm, als ein paar hundert Meter weiter der Kapitalismus in Gestalt der merikanischen Burger-Kette McDonald's in den Wahlkreis des Ur-Grünen Hans-Christian Ströbele einbrach. Jetzt machen sich einige von ihnen dafür stark, dass die einzige Aldi-Filiale im Kiez bleibt. Ausgerechnet Aldi. Über 4000 Filialen in Deutschland. Ein tougher Player im gnadenlosen Wettbewerb der Billigheimer, bekannt dafür, dass er seine Mitarbeiter unter Druck setzt und Lieferanten knebelt. Warum fliegen so einem plötzlich die Herzen zu?

„Wo soll ich denn hin?“

Beate seufzt. Sie mischt zwar nicht mit in der Initiative „Aldi bleibt!“, aber sie sagt, auch ihr sei ein Stein vom Herzen gefallen, als sich jetzt Kreuzbergs Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) in den Streit einschaltete und verkündete, Aldi werde vorerst bleiben. Nach den Sommerferien werde sie Betreiber und Anwohner an einen Tisch holen und versuchen, eine Lösung zu finden.

Beate, gelernte Schneiderin, hat 30 Jahre lang bei der Post gearbeitet, „aber nur stundenweise, wegen der Kinder.“ Heute lebt sie am Existenzminimum, von der Grundrente. Sie sagt, was viele Anwohner sagen, die schon lange hier leben. Dass sie ihren Kiez kaum noch wiedererkenne. Die Alten gingen, weil sie sich die Miete nicht mehr leisten könnten. Die Jungen  kämen – und mit ihnen die Touristen und die teuren Restaurants. Beate sagt, sie wisse nicht, wann sie zuletzt ausgegangen sei. Ihre Stammkneipe um die Ecke habe jetzt auch geschlossen. Sie ist eigentlich nicht der Typ, der jammert. Aber jetzt bricht es doch aus ihr heraus. Sie sagt: „Wo soll ich denn hingehen, wenn der Aldi auch noch dichtmacht?“ Klar, es gibt noch einen Lidl, aber der ist einen Kilometer weit weg, und Beate ist nicht mehr gut zu Fuß.

40 Prozent der Kinder leben von Hartz IV

Das Schreckgespenst der Gentrifizierung, es hat den Kiez umgekrempelt. In kaum einer  anderen Gegend in Berlin sind die Mieten in den vergangenen Jahren so gestiegen wie hier. Die Schere zwischen Arm und Reich, sie geht immer weiter auseinander. 40 Prozent der Kinder im Kiez leben von Hartz IV. Jeder Vierte ist auf staatliche Transferleistungen angewiesen.

Florian Niedermeier, 51, kennt diese Zahlen. Ein bayrischer Lebemann, das Gesicht von der Sonne gebräunt, einer, der gerne kocht und isst. Er ist einer der drei Besitzer der Halle, Investor und Betreiber. Er hat einen Laden für Lebensmittel betrieben, bevor er sich mit zwei befreundeten Kollegen den Traum von einer eigenen Markthalle erfüllte. Er sagt, Discounter gäbe es in Berlin schon genug. Nur noch drei Prozent der Lebensmittel würden frisch verkauft. Gurken aus Holland, im Gewächshaus geerntet und in Folien eingeschweißt beim Aldi verkauft – zu Preisen, mit denen regionale Erzeuger nicht mithalten könnten.

Niedermeier träumt von einer Ernährungswende. Er will den Verkauf von Obst und Gemüse aus Brandenburg fördern. Er will ein Bewusstsein dafür schaffen, dass gesundes Essen seinen Preis kostet. Für den Dried Aged Beef Burger aus der Kultschlachterei „Kumpel & Keule“ in der Markthalle 9 müssen Kunden acht Euro berappen. Dass sich Rentner oder Hartz IV-Empfänger das nicht leisten können, sei ihm bewusst, sagt er. „Wir stecken total in der Zwickmühle.“  

Arm und reich, schwarz und weiß

Nun könnte man einwenden, Niedermeier & Co. müssten sich darüber nicht den Kopf zerbrechen. Die Markthalle 9 gehöre ihnen. Über 400 Arbeitsplätze seien in ihrem Umfeld entstanden. Die Welt zu retten, sei nicht ihre Aufgabe. Sie sind schließlich nicht Robin Hood. Aber so leicht liegen die Dinge in Kreuzberg nicht. Die Halle ist unter der Woche fast immer leer. Nur an den beiden Markttagen am Freitag und Samstag schieben sich Menschenmassen an den Ständen vorbei  – und am „Street Food Thursday“, wenn die Touristen kommen. Das Geschäft könnte besser laufen, räumt Niedermeier mit Blick auf den Aldi ein. Die Filiale brummt. Sie gilt als Goldgrube. 2000 Kunden gehen hier täglich ein- und aus. Niedermeier spricht von einer „Konkurrenz“. Anstelle des Lebensmittel-Discounters soll eine Filiale der Drogerie-Kette dm einziehen. „Das ist auch ein Discounter“.

Er sagt, als Besitzer könnte er die Proteste der Anwohner eigentlich ignorieren. Aber so ticke er nicht. Er lebe gerne im Kiez. Hier gäbe es noch etwas, das man Solidarität nennt. Sie sei Teil der Kreuzberger DNA . Deutsch, multi-kulti, arm, reich, schwarz, weiß. Alles kein Problem. Aber diese Solidarität, und jetzt wird seine Stimme doch lauter, dürfe doch aber nicht an der Aldi-Kasse aufhören.

Okay, aber ist es politisch korrekt, einkommensschwache Bürger auszusperren? Er sagt: „Die können doch zu Lidl gehen.“

Hohe Kiezorientierung

Tatsächlich? Glaubt man Andreas Wildfang, macht es sich Niedermeier da ein bisschen leicht. Wildfang lebt seit den achtziger Jahren hier. Vater einer erwachsenen Tochter, Vegetarier, Aldi-Stammkunde. Der Unternehmer gehört zum aktiven Kern der Initiative „Kiezmarkthalle“. Er sagt, die Markthalle 9 hätte eigentlich 1,8 Millionen gekostet, als der rot-rote Senat sie 2011 verscherbelt hätte, um seine leere Kasse zu füllen. Niedermeier & Co. hätten sie nur unter gewissen Auflagen zu einem Vorzugspreis bekommen, weil ihr Konzept den Senat überzeugt habe. Weg von den Discountern, die die Halle bis dahin dominiert hätten, hin zu regionalen Anbietern von frischen Lebensmitteln.

Die 464 Quadratmeter Verkaufsfläche für einen Discounter sei davon aber im Kaufvertrag ausgenommen gewesen. So steht es in einer Antwort des Senats auf die Anfrage zweier Abgeordneten der Partei Die Linke vom 27. März 2019, die dem Cicero vorliegt. Darin heißt es auch, die Betreiber hätten für ihr Konzept auch „aufgrund der hohen Kiezorientierung“ den Zuschlag bekommen.

In Kreuzberg laufen die Uhren rückwärts

Doch was heißt das: eine hohe Kiezorientierung? Wer bestimmt überhaupt, wer „der Kiez“ ist? Sind es Vegetarier wie Wildfang, der sagt, ernährungstechnisch sei die Markthalle 9 in der Steinzeit steckengeblieben: „Nur  Käse, Fleisch, und Bier“? Sind es Besser-Esser wie Niedermeier, die nur die auf ihre Ernährungswende mitnehmen wollen, die es sich leisten können? Oder sind es Menschen wie Beate, die schon immer in Kreuzberg gelebt haben?

Die Initiative „Kiezmarkthalle“ glaubt, einen Weg gefunden zu haben, damit alle drei unter der Kuppel der gotischen Kathedrale Frieden schließen können. „Der Staat muss die Halle zurückkaufen.“ In Kreuzberg ticken die Uhren tatsächlich anders. Sie laufen rückwärts.

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Christa Wallau | Fr., 14. Juni 2019 - 11:32

zeigen sich hier exemplarisch die wachsenden Spannungen zwischen Armen und Reichen.
Die "Buntheit" von Kreuzberg, dieses speziellen Viertels in Berlin, besteht nicht nur darin, daß verschiedenste Ethnien hier wohnen, sondern auch Menschen mit sehr unterschiedlichen Einkommen.
Von Solidarität kann dann eben natürlich irgendwann gar keine Rede mehr sein!
Wie denn auch?
Da prallen Welten aufeinander.
Ich möchte mir nicht vorstellen, in einem solchen
Milieu auf Dauer leben zu müssen. Ich käme mir fremd vor im eigenen Land.