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() Marianne Birthler
Marianne Birthler: „Vor dem Verzeihen steht die Wahrheit“

Am 14. März übergibt die Bundesbeauftragte der Stasiunterlagenbehörde Marianne Birthler ihr Amt an ihren Nachfolger Roland Jahn. Autor Ulrich Schwarz wirft einen Blick zurück auf das bewegte Leben einer Frau in einem hochsensiblen Amt.

Die Szene im Deutschen Bundestag hat Seltenheitswert: Als am 28. Januar die Neuwahl des Beauftragten für die Stasiunterlagen anstand, dankte Parlamentspräsident Norbert Lammert zunächst spontan der bisherigen Chefin der Behörde, Marianne Birthler, für zehn Jahre Aufklärungsarbeit. Die Abgeordneten aller Fraktionen erhoben sich ebenso spontan und spendeten lang anhaltenden Beifall. Nur die Vertreter der Linken blieben demonstrativ sitzen. Den Altkadern der PDS ist die bisherige Leiterin der Behörde besonders verhasst. Denn Birthler hat ihren Star Gregor Gysi, alter SED-Adel und eine Art Guttenberg der Linken, immer wieder mit seinen Stasi-Verwicklungen konfrontiert. Das nervte. Zehn Jahre Aufarbeitung der DDR da, wo diese Vergangenheit am düstersten ist. Sie habe den Job gerne gemacht, sagt Birthler. Die Stasiunterlagen-Behörde ist für sie ein Erbe der friedlichen Revolution von 1989, das es zu pflegen und zu bewahren gilt – auch über das Jahr 2019 hinaus, in dem die Behörde – vermutlich – abgewickelt wird und die 111 Kilometer Akten, die sie verwaltet, ins Bundesarchiv überstellt werden. Birthler sieht sich nicht als Stasi-Jägerin. Die Enttarnung von ehemaligen Spitzeln und Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit ist eher ein Nebeneffekt ihrer Arbeit. In deren Mittelpunkt stehen vielmehr die Opfer der Diktatur, denen sie und ihre rund 1600 von ursprünglich 3200 Mitarbeiter helfen sollen, sich ihres Lebens und ihrer Verfolgung im SED-Regime zu vergewissern. Birthler: „Vor dem Verzeihen steht die Wahrheit.“ „Abschiede fallen schwer“, sagt die 63jährige. Sie habe „schöne und gute Erfahrungen“ gemacht, etwa die Diskussionen mit jungen Menschen. Und stolz ist sie auf die zahlreichen Publikationen ihrer Mitarbeiter zur Aufarbeitung der SED–Diktatur. Marianne Birthler stammt aus einer Ost-Berliner sozialdemokratischen Familie. Sie arbeitete nach dem Abitur zunächst im DDR–Außenhandel, absolvierte ein passendes Fernstudium, machte eine mehrjährige Familienpause und wechselte dann in ein völlig anderes Metier: Ab 1982 arbeitete die Mutter dreier Töchter als Katechetin in der evangelischen Jugendarbeit in Ost-Berlin. Der Wechsel war zugleich eine politische Zäsur: Birthler schloss sich der in den 80er Jahren im Umfeld der Kirche anwachsenden Friedens- und Bürgerrechtsbewegung an. Mit der Szene von damals ist sie bis heute vernetzt. „Sie hat nicht vergessen, wo sie herkommt“, sagt der ehemalige Bürgerrechtler Ralf Hirsch. Nach der friedlichen Revolution von 1989 war die weitere politische Karriere vorgegeben: Im März 1989 wird sie Abgeordnete für Bündnis 90/Grüne in der ersten (und letzten) freigewählten Volkskammer, 1990 Ministerin für Bildung, Jugend und Sport in Brandenburg. Doch zwei Jahre später wirft sie hin wegen der Stasi-Verstrickungen des Ministerpräsidenten Manfred Stolpe. Es folgen Jahre in der zweiten Reihe. Birthler arbeitet in Bonn und später in Berlin für die Grünen-Fraktion, nebenher lässt sie sich zur Organisationsberaterin ausbilden. Eine Ausbildung, die sie ab 2000 gut gebrauchen kann. Denn im Herbst 2000 wählt sie der Bundestag mit großer Mehrheit zur Nachfolgerin des Stasi-Aufklärers Joachim Gauck, 2006 wird sie vom Parlament für weitere fünf Jahre bestätigt. Doch Birthler hat an die letzten zehn Jahre nicht nur positive Erinnerungen: Immer wieder gab es Querelen mit Politikern über die Arbeit der ihrer Behörde. In Erinnerung ist – neben den Auseinandersetzungen mit Gregor Gysi – vor allem Birthlers Streit mit Helmut Kohl. Die neue Behördenchefin wollte die Stasi-Akten über den CDU-Politiker öffentlich zugänglich machen. Ihr Argument: Wenn die Opfer der Stasi-Praktiken Personen der Zeitgeschichte, Politiker oder Amtsträger seien, habe die Öffentlichkeit ein Recht auf Aufklärung, sofern die Stasi-Aufzeichnungen mit der politischen Funktion der Betroffenen zusammenhingen. Kohl wehrte sich und bekam vor Gericht teilweise recht. Ins Gerede geriet die Birthler-Behörde auch immer mal wieder durch Pannen. Etwa, als sie den längst bekannten Schießbefehl für DDR-Grenzer als sensationelle Neuigkeit verkaufte. Birthler räumt solche Fehler ein, verweist auf die Schwerfälligkeit ihrer Behörde und auf mangelnde Kommunikation in ihrem Hause. Die aber sei inzwischen erheblich besser geworden. Für eine häufig vorgebrachte Kritik hat sie auch in der Sache volles Verständnis: Die 52 ehemaligen hauptamtlichen Stasi-Leute, die von Joachim Gauck eingestellt worden sind und bis heute in der Behörde arbeiten, hätte sie nicht geholt, auch wenn Anfang der 90er Jahre sachkundige Experten gebraucht wurden, um sich im Dschungel der Stasi-Akten überhaupt zurechtzufinden: „Das war ein Fehler“. Der aber ist aus arbeitsrechtlichen Gründen nicht gänzlich zu beheben. Immerhin, so Birthler, sind 41 der 52 Ex-Stasiisten nur als Wachpersonal beschäftigt, nur 11 haben Zugang zu den Akten. Menschen, die Marianne Birthler kennen, finden die Kritik an ihrer Amtsführung ungerecht. Franziska Augstein sagt über Birthler in der „Süddeutschen Zeitung“, sie sie eine warmherzige und umgängliche Person. Marianne Birthler versucht, so geradlinig und gerecht wie möglich ihren Weg durch das deutsche Gestrüpp von Bürokratie, Falschheit, Verpflichtungen und Ideologien zu finden.“ Und Katja Havemann, die Witwe des Regimekritikers Robert Havemann, lobt: „Marianne war immer eine, die furchtlos vor den Mächtigen bleibt.“ Sie selbst sagt es bescheidener: „Im Amt ist mir vieles zugute gekommen, was ich in meinem früheren Leben gemacht habe.“ Bislang ist der Run der Wissbegierigen auf die Akten ungebrochen. Mehr als 87000 Anträge auf persönliche Akteneinsicht gingen 2010 ein. Insgesamt haben seit Öffnung der Akten mehr als 1,7 Millionen Menschen ihre Unterlagen gelesen. Die Zahlen, glaubt nicht nur Birthler, rechtfertigen allemal die rund 100 Millionen Euro, die die Behörde pro Jahr kostet – und sie sprechen dafür, die Institution auch über 2019 hinaus zu erhalten. Für sie selbst beginnt am 14. März ein Leben nach den Akten. Dann übergibt sie ihr Amt an ihren Nachfolger. Was sie danach machen wird, weiß sie noch nicht. „Mal sehen, was kommt.“ In die Tagespolitik will sie nicht zurück. „Das ist keine Option, über die ich nachdenke.“ Für den Ruhestand indes ist sie zu jung, auch ihre Memoiren können warten. Zu tun gibt es für eine Frau wie Marianne Birthler in diesem Land noch genug.

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