Letzte Generation - Der Schlaf der Selbstgerechten

Tragen die Aktivisten von „Letzte Generation“ Schuld am Tod der 44-jährigen Radfahrerin, die wegen einer Straßenblockade zu spät medizinisch versorgt wurde? Würden die Klimaaktivisten jenen hohen ethischen Maßstab an sich selbst anlegen, mit dem sie das Handeln ihrer ach so verurteilenswerten Mitwelt an den Pranger stellen, müssten sie zumindest eine Mitverantwortung eingestehen.

Protest der Letzten Generation in München / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Was immer man tut, es hat Konsequenzen. Auf A folgt B, und nicht nur im Kinderbuch lässt sich spätestens ab Punkt C vorausschauend reimen: „Wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe!“ Dabei wäre eine derartige Erzeugung von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen auch gar nicht weiter schlimm, hätten wir als Menschheit nicht längst jenen Punkt überschritten, von dem aus die Folgen unseres Handelns nicht mehr recht überblickt werden können.

Es waren dankenswerterweise Denker der politischen Linken, ja sogar oftmals der frühen ökologischen Bewegungen, die darauf hingewiesen haben, dass spätestens mit der Moderne die Ära im Zeichen der Nächstenliebe ein für alle Mal an ihr Ende gekommen ist. Denn wer ist schon mein Nächster, wenn selbiger mittlerweile tausende Kilometer weit weg in einem New Yorker Homeoffice sitzen, ich ihm aber dennoch öffentlich und in Echtzeit via Zoom-Meeting auf die Füße treten kann?

Es muss somit gar nicht erst der berühmte „Rote Knopf“ sein, mit dem ich von irgendwo aus den Engel des Abgrunds via Fernzündung aktiviere, um noch einmal über die alte Einsicht des Philosophen Günther Anders nachzudenken, nach der wir ach so antiquierten Menschen längst mehr herstellen als uns vorstellen können.

Eine moralisch unübersichtliche Situation

Eine Ethik für die technologische Zivilisation, vielleicht auch nur ein Handbuch für das angemessene Verhalten im Straßenverkehr, ist also oft schon dann vonnöten, wenn man nur mal kurz zum Vollzug seiner gewöhnlichen Alltagsgeschäfte vor die Türe tritt, und aus irgendeiner Verwicklung heraus – aus einem Zufall vielleicht oder einer blöden Verschränkung von kleinsten Teilchen – nimmt das Leben mit einem Mal einen äußerst tragischen Verlauf.

Angenommen etwa, Sie hätten sich mitten im Zeitalter der Beschleunigung aufgemacht, um sich an einem Montagmorgen im späten Oktober auf die Berliner Stadtautobahn A100 zu kleben und einige Kilometer weiter südlich auf der vielbefahrenen Berliner Bundesallee wird zeitgleich eine 44-jährige Radfahrerin von einem Betonmischer überrollt, die dann drei Tage später ihren Verletzungen im Krankenhaus erliegt … 

 

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Natürlich könnten Sie in einer solch moralisch unübersichtlichen Situation zunächst einmal auf Abwehr schalten. Sie könnten auch, wie jetzt die Aktivisten der „Letzten Generation“, laut lamentieren; sogar Pressemitteilungen wären möglich, in denen recht selbstgerecht darauf hingewiesen würde, dass der Unfall ja mehrere Kilometer vom Aktionsort entfernt stattgefunden habe, ja, dass man die Polizei sogar über die Aktion informiert und um eine Umleitung von Einsatzfahrzeugen gebeten habe.

Menschlich wäre ein solches Vorgehen ganz sicher verständlich. Aber hilft es auch, um am Ende auch dem zu entkommen, was der Philosoph Hans Jonas einst in weiser Voraussicht auf die moralische Simplizität der Generationen nach ihm die „Fernstenliebe“ genannt hat?

Die schlechteste Prognose ist die beste

Für Jonas, ein unter jungen Klimaaktivisten wohl leider nicht mehr gelesener Autor der frühen ökologischen Bewegung, wäre die Sache nämlich ziemlich klar: Das Zeitalter der Technik – und eine Autobahn ist eine verdammt technische Sache – verfügt über andere Handlungsreichweiten als etwa die Zeit am Beginn der frühen Moderne. Wer unter einem derart komplexen Himmel und zudem inmitten einer pulsierenden Großstadt wichtige Verkehrsachsen blockiert und hinterher mit kullernden Rehaugen behauptet, er trüge nicht auch die Verantwortung für den daraus entstehenden Verkehrsstau in den angrenzenden Wohngebieten, der denkt in etwa ähnlich unterkomplex, wie jemand, der in einem Lamborghini mit V12-Motor und sechseinhalb Liter Hubraum um die Häuser düst und lammfromm behauptet, er habe keinerlei Anteil am Klimawandel. 

Der schlechten Prognose den Vorrang zu geben gegenüber der guten, ist verantwortungsbewusstes Handeln, so Jonas vor über 40 Jahren in seinem Klassiker „Das Prinzip Verantwortung“. Davon auszugehen, dass möglicherweise Menschen zu Schaden kommen, wenn ich als Ausdruck von Protest oder zivilem Ungehorsam eine Autobahn blockiere, wäre eine derart schlechte Prognose im Sinne von Jonas. Leider aber ist die schlechteste Prognose wieder mal wahrgeworden. Das Spezialfahrzeug, das am Montag ausgerückt war, um die Radfahrerin aus ihrer Notlage zu befreien, kam aufgrund des Staus auf der A100 zu spät an den Unfallort. Heute ist die 44-jährige Frau ihren schweren Verletzungen erlegen. 

Tragen die Aktivisten von „Letzte Generation“ somit Schuld an dem tragischen Tod im Straßenverkehr? Im juristischen Sinne vermutlich nicht. Würden die Klimaaktivisten indes jenen hohen ethischen Maßstab an sich selbst anlegen, mit dem sie das Handeln ihrer ach so verurteilenswerten Mitwelt an den Pranger stellen, sie trügen im Sinne von Hans Jonas ganz sicher eine Mitverantwortung.

Doch anstatt einmal in Ruhe über den schönen Begriff der „Fernstenliebe“ nachzudenken, übt sich die „Letzte Generation“, kaum dass die Agenturen heute Morgen den Tod der Radfahrerin vermeldet haben, in Selbstgerechtigkeit. Man tue das „einzig moralisch Richtige“, hieß es recht unüberlegt in einer Pressemeldung. 

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