Krise der Ampel-Koalition - Die FDP muss – anders als 1982 – ohne Netz turnen

Beim Ausstieg aus der Ampel und möglichen Neuwahlen müsste die FDP heute fürchten, anschließend an der Fünfprozenthürde zu scheitern. Das war beim Bruch der sozialliberalen Koalition im Jahr 1982 noch anders.

Kann nicht einfach „den Lambsdorff machen“: Finanzminister Christian Lindner / dpa
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Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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Die Ampel blinkt wild durcheinander. Sie ganz abzustellen, erscheint manchen Politikern und Beobachtern naheliegend. Ein oft gehörter Ratschlag: Die FDP solle den Stecker ziehen, schon um sich selbst zu retten. Christian Lindner, so meinen es um die FDP besorgte Kommentatoren, solle doch ein „Lambsdorff-Papier“ schreiben, eine Aufzählung all dessen, was sich wirtschafts-, finanz- und sozialpolitisch ändern müsste, um die Wirtschaft wieder auf den Wachstumspfad zurückzubringen. 

Das „Lambsdorff-Papier“ war mit ein Grund, dass vor 41 Jahren die sozialliberale Koalition zerbrach. Denn was der damalige FDP-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff damals in seinem „Konzept für eine Politik zur „Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ zusammengetragen hatte, war in den Augen von Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) und seiner Partei der reinste Sprengstoff für das bereits angeschlagene SPD/FDP-Bündnis.

Klaus Bölling, Schmidts Regierungssprecher und enger Vertrauter, nennt es in seinem Buch „Die letzten 30 Tage des Kanzlers Helmut Schmidt“ ein „Krawallpapier“. Der Kanzler und seine engsten Mitarbeiter seien sich am 10. September 1982 einig gewesen: „Es ist eine ökonomische und politische Kampfansage an die Sozialdemokratie.“ 

Die SPD sprach nach der Abwahl von Schmidt schnell von Verrat

Die Vorschläge des „Marktgrafen“ waren der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Innerlich zerbrochen war Rot-Gelb schon vorher. Ein paar Tage später traten die FDP-Bundesminister von ihren Ämtern zurück und kamen so einem Rauswurf durch den Kanzler zuvor. Am 1. Oktober wählten CDU/CSU und FDP Helmut Kohl im Wege eines konstruktiven Misstrauensvotums zum Kanzler. Es war der Beginn einer 16-jährigen schwarz-gelben Ära.

Was damals geschah, kann freilich keine aktuelle Blaupause sein. Denn Union und FDP verfügten im Bundestag über eine komfortable Mehrheit. Die FDP musste also nicht befürchten, dass der Koalitionsbruch unmittelbar zu Neuwahlen führen würde und sie an der Fünfprozenthürde scheitern könnte. Die Union als mit Abstand stärkste Fraktion hatte nämlich nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie die FDP bei einem Koalitionsbruch mit offenen Armen als Koalitionspartner empfangen würde.

 

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Die SPD sprach nach der Abwahl von Schmidt schnell von Verrat. Zweifellos hatte Helmut Kohl als Oppositionsführer stets einen guten Draht zu Hans-Dietrich Genscher, dem FDP-Vorsitzenden und Außenminister. Im ersten Band seiner „Erinnerungen“ betont Kohl, er habe während der sich zuspitzenden Krise der sozialliberalen Koalition im Sommer 1982 bewusst nur „ganz wenige persönliche Gespräche“ mit Genscher geführt. Kohl hat Genscher, wie er schreibt, aber gesagt: „Im Übrigen musst du wissen, dass du nicht ohne Netz turnst.“ Das sei „die einzige Vorabsprache auf eine mögliche Koalition“ gewesen. 

Ob es tatsächlich nicht viel konkretere Abmachungen für den Fall des Koalitionsbruchs gegeben hat? Jedenfalls hatte die FDP 1982 eine konkrete, rechnerische Machtperspektive beim Verlassen der Koalition. Genau das haben die Freien Demokraten heute nicht. Schon deshalb kann Lindner nicht einfach „den Lambsdorff machen“, wie ihm zurzeit empfohlen wird.

Lambsdorffs Forderungen setzte ausgerechnet Rot-Grün mit der „Agenda 2010“ durch

Das Lambsdorff-Papier war sicherlich nicht das vom kleineren Partner eingereichte „Scheidungspapier“. Zweifellos hat es die Trennung jedoch beschleunigt. Allerdings haben Lambsdorffs Vorstellungen einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftspolitik das Handeln der Regerungen Kohl/Genscher und Kohl/Kinkel nicht allzu nachhaltig beeinflusst. 

Seine Kernpunkte waren in den Augen der Sozialdemokraten zweifellos neoliberales Teufelszeug: „Begrenzung des Arbeitslosengeldes auf maximal 1 Jahr“, „Strengere Regelung für die Zumutbarkeit einer dem Hilfesuchenden möglichen Arbeit“ bei Gewährung von Sozialhilfe, oder „Anhebung der Altersgrenze“ in der Rentenversicherung“.

Davon konnte die FDP mit dem neuen Koalitionspartner CDU/CSU nicht viel verwirklichen. Das verhinderten schon Arbeitsminister Norbert Blüm und der damals noch starke Arbeitnehmerflügel der Union, die „Herz-Jesu-Marxisten“. Zudem legte Kohl großen Wert darauf, die CDU nicht als eiskalte Partei der Profitmaximierer erscheinen zu lassen. Ironie der Geschichte: Lambsdorffs Forderungen setzte ausgerechnet Rot-Grün unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) gute zwei Jahrzehnte später im Rahmen der „Agenda 2010“ durch. Die Rente mit 67 war wiederum das Werk von Franz Müntefering (SPD) in der Großen Koalition.  

Ja, es gibt durchaus Parallelen zwischen der Lage der zerstrittenen Koalitionspartner im Jahr 1982 und der aktuellen Situation. Natürlich könnte Christian Lindner aufschreiben, wie das Land seine Wachstumsschwäche und seine finanziellen Engpässe überwinden könnte. Nur müsste er – anders als Genscher und Lambsdorff – „ohne Netz turnen“.

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