Experten halten Herbst-Maßnahmen nicht für notwendig - Corona ohne Ende(mie): Deutschland in der Dauerschleife?

Aus epidemiologischer Sicht ist die Schwelle zur Endemie längst überschritten, daran müssen sich die Maßnahmen anpassen, sagt Klaus Stöhr im Gespräch mit „Cicero“. Auch der Leiter der Infektionsepidemiologie am RKI, Osamah Hamouda, unterstützt einen Strategiewechsel, wie ihn die baden-württembergischen Gesundheitsämter bereits Ende März forderten. Nur Karl Lauterbach bleibt auf Krisen-Kurs. Die Gründe, die das Bundesgesundheitsministerium dafür angibt, hält Stöhr für rein politisch.

Osamah Hamouda vom Robert-Koch-Institut unterstützt einen Strategiewechsel in der Pandemiepolitik / dpa
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Philipp Fess hat Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften studiert und arbeitet als Journalist in Karlsruhe.

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In unserem Nachbarland Dänemark gilt Covid seit September 2021 nicht mehr als „gesellschaftskritische Krankheit“. Schweden hat im April 2022 eine ähnliche Entscheidung getroffen. Auch Spanien plant, Corona künftig „wie eine Grippe zu behandeln“. Einschränkende Maßnahmen seien aufgrund der (Hinter-)Grundimmunität der Bevölkerung – ob durch Impfung oder Infektion – sowie die Ankunft der milderen Omikron-Variante „sinnlos“ geworden, sagen Ärzteverbände. Und nicht nur die europäischen Länder sprechen vom Übergang in die endemische Phase, auch Thailand will ihn zum Beispiel noch in diesem Monat beschließen.
 
„Wer jetzt den Menschen vorgaukelt, Corona sei Geschichte, wird das im Herbst bitter bereuen“, warnt indes der deutsche Bundesgesundheitsminister. Karl Lauterbach ist weiter in Alarmbereitschaft, und steht damit ganz im Einklang mit den Forderungen nach einer global verbindlichen Pandemie-Präventions-Politik. Schon im Mai 2021 erklärte Angela Merkel in (unbewusster?) Anlehnung an Sepp Herberger: „Nach der Pandemie ist vor der Pandemie.“ Die zuletzt ins Blickfeld geratenen Affenpocken haben offenbar nicht das Zeug zur nächsten Katastrophe. Aber was die Corona-Krise angeht, so steht tatsächlich zu befürchten, dass „die Zahlen“ zum Ende des Jahres wieder steigen. Doch unabhängig davon, ob die verwendeten Indikatoren überhaupt als Gradmesser der Bedrohung taugen, haben auch einige Fachleute in Deutschland bereits (vergeblich) versucht, die endemische Phase einzuläuten.   

Einer von ihnen ist Peter Friebel. Der Leiter des Gesundheitsamts Karlsruhe zählt zu den Mitunterzeichnern des „Positionspapier[s] der Baden-Württembergischen Gesundheitsämter zum Strategiewechsel zum Übergang Pandemie – Endemie“, das am 22. März im Namen von 31 der 34 Gesundheitsämter im Land veröffentlicht wurde. Im Positionspapier fordern die Behörden nicht nur, wie von Landkreistagspräsident Joachim Walter im Cicero-Interview erklärt, die Abschaffung der anlasslosen Testpflicht und das Ende der Isolationspflicht, sondern legen auch den „Umgang mit Covid wie mit anderen Infektionskrankheiten“ nahe: „Zuhause bleibt nur, wer erkrankt ist“, heißt es dort.

Renommierte Experten stellen sich hinter Strategiewechsel

Wie Friebel gegenüber Cicero betont, war das Positionspapier kein politisches Statement, sondern eher ein Akt der Verzweiflung angesichts der Masse von Meldungen positiver Tests, die die Gesundheitsämter von ihrer eigentlichen Arbeit abgehalten haben: die in einer Pandemie normalerweise unentbehrlichen (fall-)spezifischen Untersuchung des Ausbruchs- und Infektionsgeschehens – „vor allem in den vulnerablen Umfeldern wie Pflegeheimen“. Hinzu komme, dass die Inzidenzwerte nichts mehr aussagen, seit sich nur noch ein Bruchteil der Menschen testen lasse. „So werden für die Massentestungen Unsummen an Geld verschleudert, das anderswo dringend benötigt wird.“  

Friebel wundert sich, warum Lauterbach keine Schritte einleitet, um auf (Stichproben-)„Surveillance“ (etwa nach dem bewährten Prinzip der Sentinel-Praxen) umzustellen, wie es bei anderen Atemwegserkrankungen Routine ist (und wie es etwa die Thesenpapier-Gruppe um den Gesundheitsökonomen Matthias Schrappe seit längerem fordert). „Es macht derzeit keinen Sinn mehr, auf jeden Einzelfall zu starren“, erklärt der Karlsruher Gesundheitsamtsleiter. „Das Virus breitet sich so schnell aus, dass wir ohnehin nur noch einen Bruchteil erfassen können. Wir bewegen uns oder sind schon in der endemischen Situation. Sars-CoV-2 etabliert sich jetzt hier.“

Anfang April hatte das Sozialministerium Baden-Württemberg (SMBW) ein Expertenhearing zum Positionspapier organisiert, an dem neben den Virologen Hans-Georg Kräusslich (Uniklinik Heidelberg) und Daniela Huzly (Uniklinik Freiburg) sowie dem Leiter der Abteilung für Infektionsepidemiologie am RKI, Osamah Hamouda, unter anderen auch Vertreter der Kassenärztlichen Vereinigung, der Ärztekammer und der Krankenhausgesellschaft Baden-Württemberg teilnahmen. „Das Expertenhearing hat die Aussagen im Positionspapier einhellig unterstützt“, sagt Friebel. „In den Medien gab es darüber kein Echo.“ Eine offizielle Stellungnahme des BMG sei nicht bekannt.

Während das SMBW diesen Zuspruch auf Nachfrage bestätigt und hervorhebt, dass „die Notwendigkeit der Weiterentwicklung auch bundesweit gesehen“ wird, schreibt das BMG dazu lediglich: „Die Empfehlungen des RKI zum Kontaktpersonenmanagement wurden Anfang Mai durch Empfehlungen ‚des Bundes‘ zur Isolation und Quarantäne ersetzt.“ Gemeint ist die fünftägige Verkürzung der Isolationspflicht. „Das ist aber nicht das, was wir gefordert haben“, sagt Friebel. Das Papier stellte vielmehr die grundlegende Frage nach einer „Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzugs bei der [derzeit weiterhin] mäßigen Belastung der Kliniken“. Dass die Quarantänemaßnahmen nicht mehr zu rechtfertigen seien, bestätigte beim Expertenhearing auch der Medizinethiker Georg Marckmann von der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Derweil nannte Karl Lauterbach die Aufhebung der Isolationspflicht in seiner vielbeachteten Kehrtwende bei Markus Lanz ein „falsches psychologisches Signal“, sprach von einem „symbolischen Schaden“. Der wog offenbar auch schwerer, als die Sorge vor einem Personalausfall durch symptomlose Getestete, der die Wirtschaft (nur) Geld, in den knapp besetzten Kliniken aber womöglich Leben hätte kosten können.   

Würde also auch die Wiedereinführung von Maßnahmen im Herbst, wie sie der Bundesgesundheitsminister für nötig hält, den Forderungen aus Baden-Württemberg widersprechen? „Ja“, so Friebel, „der Strategiewechsel würde ja eben das Ende solcher durchgreifenden Einschränkungen bedeuten.“ Das gelte selbst im Hinblick auf eine Impfpflicht, sagt der Leiter des Karlsruher Gesundheitsamts, der sich als „Fan“ des Christian-Drosten-Podcasts bezeichnet und trotz des fehlenden Fremdschutzes an der Impfung sowie an der Maskenpflicht als den wirksamsten Mitteln der Pandemiebekämpfung festhält.

Die Forderungen des Positionspapiers stehen allerdings unter einem großen Vorbehalt, wie nicht nur Peter Friebel und das SMBW, sondern auch der Ärzteverband Öffentlicher Gesundheitsdienst Baden-Württemberg (ÖGD-BW) mehrfach betonen: „Das Papier bezieht sich nur auf den aktuellen Zeitraum, in dem Omikron die vorherrschende Variante ist“, sagt ÖGD-BW-Vorsitzende Brigitte Joggerst, die das Gesundheitsamt Pforzheim/Enzkreis leitet. Zwar gingen viele Experten davon aus, dass neue Virusvarianten tendenziell weniger aggressiv seien, gleichzeitig spreche sich etwa die von Joggerst sehr geschätzte Virologin Sandra Ciesek ebenfalls gegen eine (zu) frühe Aufhebung der Isolation aus. „Ich kann nicht sagen, wie das gegeneinander aufgewogen werden soll“, so Joggerst.

Aber was, wenn im Herbst doch die Killer-Variante kommt? 

Sind die Forderungen des Positionspapiers angesichts einer neuen, bedrohlicheren – oder, wie Karl Lauterbach kürzlich formulierte – „Killer“-Variante also verfrüht und damit falsch? Nein, sagt der Epidemiologe Klaus Stöhr, der schon seit Anfang 2021 gemeinsam mit der Arbeitsgruppe um den Medizinstatistiker Gerd Antes, den Virologen Jonas Schmidt-Chanasit und den Gesundheitsexperten Matthias Schrappe eine langfristige, evidenzbasierte Strategie zur Pandemiebekämpfung und -überwindung fordert: „Wir können die permanente globale und verstärkt saisonale Viruszirkulation nicht mehr wesentlich reduzieren. Die bisherigen Maßnahmen – also Abstand, Quarantäne, Isolation, Kontaktnachverfolgung etc. – werden jetzt an der Virenverbreitung und Einzelinfektion nichts mehr ändern.“ Deshalb brauche es nun den Schritt vom „Containment“ hin zur Eindämmung individueller Erkrankungen. „Das geht durch Impfen, Medikamente und ein gutes Gesundheitswesen sowie den Schutz Vulnerabler in Krankenhäusern oder Pflegeheimen“, so Stöhr, „aber es gibt keine Notwendigkeit mehr für flächendeckende Maßnahmen. Wir sind der Endemie näher als der Pandemie.“

Nach epidemiologischer Definition sei eine pandemische Situation vorbei, wenn die Auswirkungen eines neuartigen Erregers mit denen anderer Atemwegsinfektionen vergleichbar seien. „Diesen Punkt erreichen wir gerade“, sagt Stöhr. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO), deren globales Influenzaprogramm der Virologe von 2001 bis 2006 leitete, beendete die Schweinegrippe 2009 übrigens genau mit dieser Begründung: „Die Influenza-Ausbrüche zeigen eine Intensität ähnlich derjenigen von saisonalen Epidemien“, hieß es damals. Aber was, wenn – anders als damals – doch noch die Killer-Variante kommt?
 
„Natürlich wird es neue Varianten geben“, sagt Stöhr. Diese würden aber nicht zu solch schweren Ausbrüchen führen, wie es sie zu Beginn gegeben habe: „Wegen vieler natürlicher Infektionen und den Impfungen kann man von einer hohen Populationsimmunität ausgehen.“ Deshalb sei damit zu rechnen, dass die Infektionen auch in Zukunft milder verlaufen. Und es wird zwar weiterhin neue Varianten geben, wahrscheinlich jedoch in längeren Abständen: „Wenn sich jedes Jahr nur 10 Prozent der Menschen neu infizieren, gibt es weniger Viren, die sich replizieren können“, erklärt Stöhr. Auch bei der Schweinegrippe war die mehrheitlich durch Infektion erreichte hohe „population immunity“ ein entscheidendes Kriterium zur Beendigung der Pandemie. (Heute werden dafür Studien verlangt, an denen offenbar kein großes Interesse besteht.) Ein weiteres ist die Überlastung des Gesundheitssystems, die spätestens seit Omikron ebenfalls nicht mehr zu verzeichnen ist.  

Gesundheitsministerium verweist auf die WHO

Und doch kommt das seit 2020 alle drei Monate zusammentretende „International Health Regulations (2005) Emergency Committee“ der WHO bei seiner letzten Sitzung im April 2022 zu einem anderen Schluss: „[D]ie Welt verzeichnet derzeit die niedrigste Zahl gemeldeter Todesfälle seit zwei Jahren.“ Aber: „Das unvorhersehbare Verhalten des Sars-CoV-2-Virus und die unzureichenden nationalen Maßnahmen tragen jedoch dazu bei, dass die Pandemie weltweit weiter anhält.“ Auf diese Einschätzung der WHO beruft sich auch das deutsche Gesundheitsministerium bei der Nachfrage, wann denn auch hierzulande die endemische Phase erreicht sei: „Die Pandemie ist ein globales Geschehen, sie wurde von der WHO ausgerufen und die WHO wird diese zu gegebener Zeit für beendet erklären.“ Das sei nichts weiter als eine faule Ausrede, sagt Stöhr.

Denn die Hoheit über das Pandemiemanagement, so der ehemalige WHO-Funktionär, liege schließlich immer noch bei den einzelnen Staaten. Das sei auch sinnvoll, denn das Infektionsgeschehen entwickle sich regional (und jahreszeitlich) unterschiedlich, was sich aktuell in der (noch) höheren Inzidenz in den Ländern der südlichen Hemisphäre widerspiegle. Außerdem, so Stöhr: „Bei 3G und 2G hat man die WHO auch nicht gefragt.“ In Deutschland brauche man eher einen Sündenbock, weil man seine Hysterie nicht ablegen möchte, ist er überzeugt. „Epidemiologisch sind wir aus der Pandemie weitgehend raus, aber die Politik suggeriert auf emotionaler Ebene das Gegenteil.“

Auch Stöhr weiß, dass im Herbst die Atemwegserkrankungen wieder zunehmen und somit auch die Corona-Zahlen wieder steigen werden. Wegen der mangelnden natürlichen Immunität in Ländern mit sehr konservativen Maßnahmen, wie zum Beispiel Deutschland, werden auch noch sehr viele schwere Verläufe dabei sein, vermutet er. Aber gegenwärtig gehe es eher in Richtung „Sommertief“: „Ich hoffe, man wird im Herbst beziehungsweise Winter die Kommunikation der Evidenz annähern und den Menschen nicht wieder Angst einjagen“, so der Epidemiologe. „Diese große Schere zwischen der realen Situation und dem emotionalen Status der Menschen kann man nur durch vernünftige Krisenkommunikation schließen.“ Die Endemie beginne nicht zuletzt in den Köpfen der Menschen. Darauf hatte auch schon ein leitender Redakteur des British Medical Journal, Peter Doshi, in einem Essay hingewiesen.

Impfung gilt immer noch als letzter Ausweg

Das Bundesgesundheitsministerium weist darauf hin, dass zwar für Risikogruppen mehr Therapieoptionen zur Verfügung stehen, und hält es für notwendig, die medizinische Versorgung „grundsätzlich darauf ein[zu]richte[n], mit saisonalen Schwankungen in der Zahl schwerer akuter Atemwegsinfektionen besser umzugehen“, dennoch wird die Schließung von Impfschutzlücken als die geeignetste Möglichkeit angesehen, künftige Todesfälle zu vermeiden. Denn, so das BMG, „insbesondere ungeimpfte oder unvollständig geimpfte Personen [sind] auch bei der Omikron-Variante stärker von schweren Erkrankungen und Hospitalisierungen betroffen“. Der Bitte um entsprechende Belege für diese Aussage, die angesichts der immer wieder nach unten korrigierten Impfeffektivität durchaus Zweifel wecken kann, ist das Gesundheitsministerium bis zum Erscheinen dieses Artikels nicht nachgekommen.

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