Kanzlerkandidatur für die Union - Wer wird Kanzler?

Die Junge Union hat beantragt, dass der Kanzlerkandidat oder die Kandidatin von der Partei per Urwahl gewählt wird. Findet sie damit beim Bundesparteitag der CDU eine Mehrheit, wird es eng für AKK. Erwartet wird ein Showdown zwischen ihr und Friedrich Merz. Drei weitere Konkurrenten haben sich in Stellung gebracht. Die aktuelle Cicero-Titelgeschichte

Erschienen in Ausgabe
Ist Annegret Kramp-Karrenbauer die geeignete Kanzlerkandidatin der Union? / Illustrationen: Marco Wagner
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Auf ein Kölsch mit Armin Laschet in einem Traditionslokal in der Kölner Innenstadt. Der Wirt, jahrzehntelanges CDU-Mitglied, kommt voller Kölner Jovialität an den Tisch und nimmt, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen hin oder her, kein Blatt vor den Mund: „Und ham se sich die Rede von Kramp-Karrenbauer angeschaut? Man merkt, dass se angeschossen is. Dat is ne anständige Frau, aber Kanzlerin, nee. Kanzler müssen nicht nur intelligent sein, se müssen auch Charisma haben. Dat hat se nich.“ „Typisch Kölner“, sagt Laschet lachend, beißt vom Mettbrötchen ab und nimmt einen kräftigen Schluck Kölsch.

Die Parteiführung von CDU und CSU will erst in einem Jahr klären, wen sie ins Rennen um das Kanzleramt schickt. Aber je mehr man sich in der Unionshierarchie nach unten durchfragt, desto unverblümter werden die Antworten. Die Partei verlangt nach Persönlichkeiten, die führen.

Anfängliche Überzeugung

Doch was ist aus Annegret Kramp-Karrenbauer geworden, die sich vor einem knappen Jahr im offen geführten Kampf um den CDU-Vorsitz gegen Friedrich Merz und Jens Spahn wenn auch knapp, aber doch durchsetzen konnte?

Ihr Start war nicht schlecht: Noch auf dem Parteitag in Hamburg ernannte sie mit Paul Ziemiak einen ausgewiesenen Merkel-Kritiker zum Generalsekretär. Und mit den sogenannten „Werkstattgesprächen“ zur Migrationspolitik versuchte sie, sich selbst von ihrer Förderin zu distanzieren und damit den Verdacht loszuwerden, eine Merkel 2.0 zu werden. Im März beeindruckte sie in Brüssel, als sie in der EVP-Fraktion direkt nach Viktor Orbán das Wort ergriff und die Reihen in der Frage der Suspendierung von dessen Fidesz-Partei mit einer engagierten Rede aus dem Stegreif geschlossen hielt.

Von einer Panne zur nächsten

Dann aber stolperte sie von Monat zu Monat. Zuerst schockierte AKK Teile des ihr wohlgesonnenen Parteiflügels mit einem politisch unkorrekten Karnevalsauftritt im heimischen Saarland, als sie sich über die Genderfrage („Männer, die noch nicht wissen, ob sie noch stehen dürfen beim Pinkeln oder schon sitzen müssen“) mokierte. Vor der Sachsenwahl ver­graulte sie den rechten Parteiflügel mit einem Interview, in dem sie einen Parteiausschluss von Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen ins Spiel brachte. Der programmatische Neuanfang in der CDU ließ derweil auf sich warten, und die Serie an durchwachsenen Ergebnissen setzte sich mit den Wahlen zum EU-Parlament, in Brandenburg, Sachsen und Thüringen fort. Auch deshalb, weil hoch oben weiter Angela Merkel präsidiert und durch ihre Präsenz einen echten Neuanfang verhindert.

Im Juli stolperte AKK ins Amt der Verteidigungsministerin. Wollte sie so Profil gewinnen? Bislang klappt das eher nicht: Beim Antrittsbesuch in Washington Ende September traf sie sich lediglich mit dem amerikanischen Verteidigungsminister. Mit leeren Händen fuhr sie hin, mit leeren Händen kam sie zurück.

Die einzige wirklich positive Schlagzeile, die AKK in diesem Spätsommer produzierte, ist jene Ehrung, die ihr im September in Cottbus zuteil wird: Sie ist nun Sonderbotschafterin des Bundes Deutscher Karneval – der Saarländische Rundfunk berichtete. Im September gaben 66 Prozent der Deutschen laut einer Umfrage von Infratest dimap an, unzufrieden mit der Arbeit von AKK zu sein – ihr schlechtester jemals gemessener Wert.

Wie soll sie ein Land führen?

Der CDU-Vorsitzenden fehle das Kanzlerformat, hört man aus allen Ecken der Partei, auch von früheren Unterstützern. Wo zeigt sie persönlich den Mut, den sie in ihrer Rede auf dem Parteitag im Dezember vorigen Jahres beschworen hatte? Warum stellte sie sich im Sommer nicht vor Carsten Linnemann, stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion, als über ihn ein Shitstorm hinwegfegte. Dabei hatte der nur gefordert, dass Kinder ausreichende Deutschkenntnisse vorweisen müssten, um eingeschult zu werden. AKK jedoch schwieg. Kramp-Karrenbauer führt die CDU nicht – wie soll sie ein Land führen?

Allerdings könnte es ein Fehler sein, sie bereits abzuschreiben. Denn dass sie nicht zu der Sorte Politiker gehört, die schnell die Nerven verlieren, hat sie in ihrer Laufbahn vielfach unter Beweis gestellt. Zum Beispiel, als sie 2012 wegen einer dysfunktionalen Landes-FDP die von ihr geführte Jamaika-Koalition im Saarland aufkündigte, eine Neuwahl riskierte – und daraus gestärkt hervorging. Auch ihre Entscheidung, den bequemen Ministerpräsidentenposten im Saarland aufzugeben, um im Februar 2018 CDU-Generalsekretärin zu werden, spricht für Wagemut, den man bei Friedrich Merz vergeblich sucht. Und dann noch ihr überraschender Sprung ins Verteidigungsministerium: Da wird ihr jedenfalls niemand vorwerfen können, sie wolle im Schlafwagen an die Macht kommen. Auch dass sie sich binnen kurzer Zeit Respekt und Anerkennung in der Bundeswehr und in der Ministerialbürokratie erworben hat, spricht für die 57-Jährige.

Blitzableiter für Merkel

Natürlich beobachtet man auch im AKK-Lager die jüngsten Entwicklungen nicht ungerührt. Zwar wird dort darauf verwiesen, dass mit der Europawahl und der Wahl in Sachsen die gefährlichsten Klippen hinter ihr lägen. Doch müsse Kramp-Karrenbauer früher oder später tatsächlich ihr Negativ-Image loswerden, das sich besonders in den Medien verfestigt habe. Die CDU-Vorsitzende sei derzeit ein Blitzableiter für alle unzufriedenen Parteifunktionäre, die ihren Frust an der sakrosankten Bundeskanzlerin nicht auslassen wollten.

Aber ein konkreter Plan, um AKK wieder in ein günstiges Fahrwasser zu bringen, existiert offenbar nicht. Ihre Leute scheinen eher darauf zu setzen, dass sich Kramp-Karrenbauers Beliebtheitswerte durch politische Leistung und Authentizität mit der Zeit konsolidieren. Man erwartet einen starken Auftritt beim Bundesparteitag Ende November in Leipzig. Zum eigentlichen Showdown komme es aber erst im Jahr darauf, wenn ihre Wiederwahl als Parteichefin ansteht. Dann wolle man doch mal sehen, wer sich bis dahin offen aus der Deckung wage, heißt es. Gemeint sind jene, die derzeit lustvoll dabei zusehen, wie ihre Parteichefin sich abstrampelt.

Wer sich derzeit am sichtbarsten in Stellung bringt, ist einer, für den die nächste Bundestagswahl die letzte Chance ist. Er will Revanche nehmen an Angela Merkel, die ihm zweimal die Zukunft verbaut hat.

Angriff ohne Rücksicht auf Verluste

Friedrich Merz steht Mitte Oktober auf der Bühne der Messehalle Saarbrücken, zwei Meter groß, schlank und aufrecht, und badet in Applaus. Auf dem „Deutschlandtag“ der Jungen Union (JU) wird Merz von einem nach Neuanfang lechzenden Parteinachwuchs frenetisch bejubelt. „Oh, wie ist das schööööön“, schallt es minutenlang durch die Halle, und ausgerechnet die JUler aus dem Bundesland Schleswig-Holstein, wo die CDU eher links dreht, haben die Lobgesänge angestimmt.

17 Jahre ist es her, da verdrängte Merkel ihn handstreichartig von der Spitze der CDU/CSU-Fraktion, zwei Jahre später zog sich Merz verbittert zurück und ging lieber in die Wirtschaft, als Merkel zu dienen. 2018 meldete er sich zurück, und scheiterte wieder – diesmal denkbar knapp an der Kandidatin, die von Merkel favorisiert wurde.

Doch der heute 63 Jahre alte Merz spürt die Schwäche von AKK, und je schwächer sie agiert, desto aktiver wird er. Seit Juni ist er Vizepräsident des Wirtschaftsrats der CDU. Kaum ein Tag vergeht, an dem er nicht öffentlichkeitswirksam twittert. Drei Mitarbeiter kümmern sich um seinen medialen Auftritt, zwei davon nur um die sozialen Netzwerke. Auch wenn er seine öffentlichen Auftritte spärlich sät – er scheint omnipräsent: Merz kommentiert Greta Thunbergs Rede vor der UN („Sie ist krank“), Steuererhöhungen („Schnaps­idee“) und den Sieg von Sebastian Kurz in Österreich: „Es hat sich einmal mehr gezeigt: Mit klarem Profil kann eine bürgerliche Partei auch wieder Mehrheiten gewinnen.“ Bild und Welt setzen auf Merz und bieten ihm die nötige Bühne. Egal, wo Friedrich Merz auftritt: Mit klaren Äußerungen, die AKK so schwerfallen, erntet er Applaus. Der Sauerländer hat den Vorteil, dass er von außen angreifen kann, ohne Rücksicht auf Ministerämter. Er ist der Kandidat gegen das Partei-Establishment, der die Merkel-Mischpoke aufmischt – Projektionsfläche für Christdemokraten, die wieder wissen wollen, wofür diese Partei steht. In gewisser Weise ist Merz für die CDU heute das, was Trump 2016 für die Republikaner in Amerika war.

Die größte Chance und das größte Risiko

In einer von Cicero in Auftrag gegebenen Umfrage führt Merz bei der Frage, wer der nächste Kanzlerkandidat der CDU werden soll, meilenweit vor der Konkurrenz – ganz egal, ob man CDU-Mitglieder oder alle Bürger fragt. Von allen möglichen Kandidaten ist er derjenige, der am deutlichsten für ein Ende der Ära Merkel, des lauwarmen, links-mittigen Kompromissbreis steht. Aber reicht das, um Kanzler zu werden? Und will Merz überhaupt?

„Und wenn Sie wollen, dass ich dabei bin, dann bin ich dabei“, hat er seinen Fans bei der Jungen Union zugerufen. Aber als was? Eines wird klar, wenn man sich in seinem Umfeld umhört: Merz will sich so wichtigmachen, dass man an ihm nicht mehr vorbeikommt, wenn die CDU die nächste Bundesregierung stellt. Aber Kanzlerkandidat? Die Medien und seine politischen Gegner würden ihn peinlich genau unter die Lupe nehmen. Sein Job beim Finanzinvestor Blackrock, sein Lebensstil mit Privatflugzeug, ja auch seine mangelnde Erfahrung als Staatsmann – er hat nie ein öffentliches Amt bekleidet – könnten ihn ins Stolpern bringen, wenn er offen antritt gegen einen Robert Habeck. Diese Situation fürchten führende Politiker in der CDU. „Er ist unsere größte Chance und unser größtes Risiko“, sagt einer von ihnen.

Aus christsozialer Sicht ist hier noch alles in Ordnung

Seine Unterstützer aber glauben, dass gerade dieser streitbare und -lustige Merz im möglichen Zweikampf gegen einen grünen Kandidaten das perfekte Gegenmodell ist. Anzug und Krawatte gegen Wuschelfrisur und Dreitagebart. So wie Habeck die Sehnsüchte der einen nach einem gut gelaunten, moralischen und grünen Deutschland verkörpert, weckt Merz bei anderen die Sehnsucht nach einem Land, in dem Fleiß vor Feiern steht.

Im Süden der Republik sitzt einer bereit, der Feiern und Fleiß verbindet. Für den es immer aufwärtsging, und der mit seinen 52 Jahren womöglich noch nicht am Ende seiner Karriereleiter angekommen ist. Aber von allen möglichen Kandidaten verbirgt er seinen Drang ins Kanzleramt besser als alle anderen. Dafür gibt es gute Gründe.

Ein sonniger Herbsttag in München. Vom Maximilianeum, Sitz des bayerischen Landtags, blickt man über die Isar auf die beiden Türme der Frauenkirche. In der Ferne sind die nördlichen Ausläufer der Alpen auszumachen. Außer, dass die Hauptstadt des Freistaats von einem sozialdemokratischen Bürgermeister regiert wird, ist die Welt aus christsozialer Sicht hier noch in Ordnung.

Besser abwarten und schweigen

Gerade hat Markus Söder im Landtag ein ehrgeiziges Programm verkündet, mit dem er Bayern fit für das nächste Jahrzehnt machen will: Zwei Milliarden in vier Jahren für Künstliche Intelligenz und Digitalisierung verspricht er. Die kann er sich leisten, ohne neue Schulden aufzunehmen. Die Angriffe von den Grünen wischen er und seine Koalitionspartner von den Freien Wählern mit links weg, die von den AfDlern, in Bayern besonders radikal und in sich zerstritten, sowieso.

Wer ihn da so sieht im bayerischen Landtag, wie er sich immer wieder an den Bonbons bedient, die auf dem Tisch hinter seiner Regierungsbank liegen, der will ihm glauben, was er im Brustton der Überzeugung später unter vier Augen sagt: „Ich hab meinen Traumjob gefunden.“ Der gebürtige Franke will hier bleiben und die CSU bis zur nächsten Bayernwahl 2023 zu alter Stärke zurückführen. Aber was, wenn die Union am Ende auf ihn zukommt? Die Antwort ist ein södersches Pokerface. Über drei Jahrzehnte in der Politik haben ihn inzwischen gelehrt, dass es in mancher Situation besser ist, zu schweigen und abzuwarten.

Im Unterschied zu Friedrich Merz hat Söder jahrzehntelange Regierungserfahrung. In Nürnberg geboren, wurde er mit 27 Jahren in den Landtag gewählt, festigte seine Positionen in der Partei als Vorsitzender der Jungen Union. Von 2007 an bewies er als bayerischer Minister für Umwelt und später für Finanzen, dass der Vorwurf des „Dampfplauderers“ falsch ist: Söder ist in den Themen „drin“. Und man könne sich auf sein Wort verlassen, sagt ein bayerischer Landrat. Außerdem kümmere er sich um die Partei bis hin zum Kreisvorsitzenden, wie es einst Helmut Kohl tat. Per SMS sei Söder auch als Ministerpräsident noch erreichbar.

Die Rampensau Söder

Auf dem Weg an die Landesspitze stand ihm am Ende nur Horst Seehofer im Weg. Der gab nach monatelangem Machtkampf klein bei, Söder wurde 2017 Spitzenkandidat, 2018 bayerischer Ministerpräsident und 2019 Vorsitzender der CSU. Auch in der bayerischen Landesgruppe im Bundestag ist er jetzt der starke Mann. Seehofer dagegen, so heißt es in der CSU, „wohnt im Ministerium“.

Das Besondere an Söder ist seine Wandlungsfähigkeit, die er nicht nur mit seinen extravaganten Karnevalskostümen unter Beweis stellt: Shrek, Punker, Marilyn Monroe, Edmund Stoiber – die Rampensau Söder liebt solche Auftritte. Aber die Wandlungsfähigkeit gilt auch für das Politische: Nach Amtsantritt im vorigen Jahr setzte Söder öffentlichkeitswirksam konservative Akzente. Qua Regierungsbeschluss ließ er in allen Dienstgebäuden des Freistaats Kruzifixe anbringen. Nach Kräften schuf er Distanz zur Großen Koalition und der Bundes-CDU. Im Streit um die Migrationspolitik entzweiten sich im Sommer 2018 beinahe die Schwesterparteien CSU und CDU. Die Bayernwahl gewann er so – wenn auch weit entfernt von der absoluten Mehrheit.

Schwarz und Grün, des basst scho

Seither scheint Söder Kreide zu frühstücken; gleichzeitig ergrünte er. Ein Grund dafür war ein Volksbegehren zum Artenschutz, das 1,7 Millionen Bayern unterschrieben. Die Umwelt­aktivisten trieben Söder vor sich her, am Ende musste die Landesregierung ein entsprechendes Gesetz annehmen. Auch unter dem Eindruck von „Fridays for Future“ wurde der Franke zum pragmatischen Energiewender. In fünf Jahren will er in Bayern 30 Millionen Bäume pflanzen. Und er schließt sich mit seinem baden-württembergischen Amtskollegen Winfried Kretschmann von den Grünen zusammen: Im Juli trafen sich Schwaben und Bayern am Bodensee zur gemeinsamen Kabinettssitzung. Mehr Harmonie war nie. Kretschmann und Söder sind jetzt per Du. Und von Söder heißt es, er halte die Grünen in Baden-Württemberg für die bessere CDU. Der Franke lässt damit die „Südschiene“ wieder aufleben. Und zeigt auch für die Bundesebene: Schwarz und Grün, des basst scho.

Söders Ergrünen macht ihn bundesweit beliebt, auch die Bayern mögen ihn wie nie zuvor. Doch die CSU schneidet in jüngsten Umfragen mit 36 Prozent schlechter ab als bei der Landtagswahl 2018. Seine Leute schieben es auf den Bundestrend, aber ist er vielleicht auch der Stammwählerschaft zu grün geworden?

Ein „Glücksfall der Geschichte“

In der CSU selbst ist Söder unangefochten: Der Parteitag im Oktober gerät zum Triumphzug, mit 91,3 Prozent der Stimmen wird er als Vorsitzender wiedergewählt. Zwar muss er bei der von ihm propagierten Frauenquote eine Niederlage einstecken, doch anders als die CDU ist die bayerische Schwesterpartei heute nach Jahren des Streites geeint. Selbstbewusst tritt Söder im Koalitionsausschuss in Berlin auf, selbstbewusst wird er auch in der K-Frage mitreden können.

Daran hat auch sein politischer Ziehvater keine Zweifel. Edmund Stoiber kommt in den Besprechungsraum seiner Kanzlei in der Münchner Wagmüllerstraße, gedanklich noch bei der 70-Jahr-Feier der CSU-Landesgruppe am Vorabend in Berlin. Er schwelgt in dem, was er einen „Glücksfall der Geschichte“ nennt: dass die CSU sich vor fast einem Dreivierteljahrhundert diese Eigenständigkeit erschaffen und bis heute erhalten hat.

Bewährungsprobe ist die Landtagswahl 2023

„Glücksfall der Geschichte“, das ist ein gutes Stichwort, Herr Stoiber: Kann dieser Glücksfall der Geschichte auch bedeuten, dass die CSU wieder einmal nicht nur ein Wörtchen mitredet bei der Frage der Kanzlerkandidatur, sondern mehr noch – die Kanzlerkandidatur für sich beansprucht?

Stoiber verengt seine Augen hinter seiner randlosen Brille zu Sehschlitzen und fixiert sein Gegenüber. „Wissen Sie“, sagt er, „mit Söder ist das so.“ Dann beginnt ein langer Exkurs, von Söders brillanter Regierungserklärung zurück zu Franz Josef Strauß, in dessen Tradition diese Regierungserklärung in seinen Augen stand. Aber jeder noch so mäandernde Fluss biegt irgendwann wieder ein in den Hauptstrom, und so sagt Stoiber, nachdem er eine Linie von Strauß über Stoiber zu Söder gezogen hat: „Er hat den Anspruch, in Deutschland etwas zu bewegen.“ Aber seine große Bewährungsprobe sei die Landtagswahl 2023. Also keine bevorstehende Wiederholung des „Wolfratshausener Frühstücks“, bei dem Angela Merkel im Jahr 2002 zugunsten Stoibers auf eine Kanzlerkandidatur verzichtete? Die Antwort kommt wie ein Schuss aus der Pistole: „Nein, das sehe ich aufgrund seiner deutlichen Aussagen zu Bayern nicht.“

Aber kann Söder wirklich noch warten? Seit Willy Brandt gilt in Deutschland die Regel: Kanzler wird man zwischen 50 und 60. Und wer nach Merkel ins Kanzleramt einzieht, wird es so bald nicht wieder hergeben. Andererseits: Auch Merz ist heute schon 63. Aber man merkt es ihm nicht an.

Hier lebt Multikulti hoch

Mit 58 ist Armin Laschet im besten Alter. Er war Außenpolitiker im Bundestag und im Europaparlament, dann der erste Integrationsminister in einem Bundesland. Der Aachener hat zudem politischen Rückenwind: 2016 wählte ihn seine nordrhein-westfälische CDU mit 97 Prozent der Stimmen zum Spitzenkandidaten, 2017 führte er sie zum Sieg bei der Landtagswahl und mit der FDP an die Regierung. Er hat einen Landesverband hinter sich, der ein Drittel aller CDU-Mitglieder stellt, ist als Mitglied des Präsidiums bestens vernetzt. Und selbst der Bayer Söder sagt, man pflege seit letztem Jahr ein „sehr herzliches Verhältnis“.

An diesem Tag im Oktober, während draußen der Marathon durch die Straßen lärmt, hält Laschet im Kölner Schauspielhaus eine Laudatio auf Ahmad Mansour, einen arabischen Israeli, der in Deutschland mit scharfen Thesen zur Integration Aufsehen erregt. Seit vier Jahren steht er unter Polizeischutz, weil Islamisten ihn bedrohen. An diesem Tag aber bekommt er einen vom früheren Innenminister Gerhart Baum und dessen Frau gestifteten Preis verliehen. Das linksliberale Bürgertum hat sich versammelt, eine kurdisch-persisch-deutsche Musikgruppe aus dem Rheinland spielt fröhliche Weisen. Hier lebt Multikulti noch.

Laschet lobt Mansour für dessen ungeschminkte Sicht auf die Radikalisierung, ob bei Neonazis oder Islamisten. „Vor zehn, 15 Jahren, da war man entweder für oder gegen die Ausländer“, sagt er, aber die Wirklichkeit sei vielfältiger. Vor zehn, 15 Jahren – da spricht Laschet über seine Zeit als Integrationsminister in NRW. Aus dieser Zeit stammt sein Spitzname „Türken-Armin“. Seit der Flüchtlingskrise und ihren Verwerfungen blickt er realistischer auf die Integration. Aber eine Bringschuld der Migranten, so wie Mansour sie fordert? „So weit würde ich nicht gehen“, sagt Laschet in seiner Laudatio. „Auch die aufnehmende Gesellschaft hat eine Menge beizutragen.“

„Im Osten nicht vermittelbar“

Auf dem Deutschlandtag der Jungen Union hat der Parteinachwuchs mehr gute Laune von der CDU gefordert. Wenn das einer einlösen kann, dann Laschet, gerade im Vergleich zu Merz: rheinische Frohnatur gegen den Oberlehrer aus dem Sauerland. Sein Gesicht strahlt Freundlichkeit aus, herzlich lachen kann er auch. Aber kann er auch harte Kante zeigen? Dafür, dass sein Ruf in NRW sich in dieser Frage ändert, ist eher Innenminister Herbert Reul verantwortlich, der öffentlichkeitswirksam die Clan-Kriminalität bekämpft.

Und doch deuten im Moment alle Zeichen auf den Aachener. Zieht AKK zurück, dürfte Laschet erste Wahl der CDU-Führung sein, egal wie die Umfragewerte für Merz sind. Auch deshalb, weil er weder Merkel noch AKK jemals öffentlich in den Rücken gefallen ist.

Aber zieht ein Armin Laschet als Kanzlerkandidat nach anderthalb Jahrzehnten Angela Merkel? Auch wenn sein Umfeld von einem „Aha-Effekt“ außerhalb von NRW berichtet, der all jene ergreife, die ihn als Türken-Armin abgestempelt hatten und ihn nun reden hören: „Im Osten nicht vermittelbar“, lautet das harsche Urteil aus eher konservativen CDU-Kreisen. Die Cicero-Umfrage bestätigt das: Unter den vorgeschlagenen Kandidaten wünschen sich Laschet im Osten nur 5 Prozent der Menschen, im Westen immerhin 14. In den neuen Bundesländern könnte der Rheinländer nur punkten, wenn er auf Bundesebene jene Strategie wiederholt, mit der er die Wahlen in NRW gewann.

Ein wahrer Teamplayer

Laschet ist ein versierter Teamplayer – das hat er Merz voraus. Hendrik Wüst, einer seiner lautesten Kritiker von der konservativen CDU-Flanke, ist jetzt Verkehrsminister. Auch der Parteilinke Karl-Josef Laumann hat einen Ministerposten (Arbeit, Gesundheit und Soziales) bekommen. Wolfgang Bosbach, Hardliner und erbitterter Merkel-Gegner in der Flüchtlingskrise, unterstützte Laschet im Wahlkampf und bekam den Posten des Innenministers nur nicht, weil er selbst zurückzog. Dafür leitet er nun eine Regierungskommission, die ein neues Sicherheitskonzept für NRW erarbeitet. Und sogar für Merz fand Laschet ein Plätzchen: Er ist seit Anfang 2018 „Beauftragter für die Folgen des Brexit und die transatlantischen Beziehungen“. Auch wenn die SPD in NRW ihn als „Totalausfall“ bezeichnet – für Merz war das der Anfang seiner Rückkehr in die Politik.

Ein Wirtschaftsminister Merz im Kabinett Laschet? Durchaus vorstellbar. Und auch das erfolgreiche schwarz-gelbe Bündnis in NRW, heute bundesweit einzigartig, lässt manchen Christdemokraten, der an die guten alten Kohl-Zeiten denkt, feuchte Augen bekommen – selbst wenn die Umfragen auf Bundesebene derzeit nicht die geringste Hoffnung auf diese Konstellation zulassen.

Spahn, der Macher

Und dann wäre da noch der Joker, der mit seinen 39 Jahren als Einziger eine gewisse Ähnlichkeit zum österreichischen Kanzler und politischen Wunderkind Sebastian Kurz aufweist, der es aber nicht so eilig hat wie die anderen: Jens Spahn, seit 2002 im Bundestag und seit vorigem Jahr Gesundheitsminister, gleicht dieser Tage einer fleißigen Arbeitsbiene. Ob als Minister in Krankenhäusern und Pflegeheimen, auf Gesundheitskongressen oder als Regierungsmitglied auf der Frankfurter Buchmesse zur Frage eines „modernen Patriotismus“. Besondere Meriten verdient sich Spahn mit seinen unzähligen Wahlkampfterminen, die er in diesem Jahr in Sachsen, Brandenburg und Thüringen absolviert, und sei es nur vor 50 Zuhörern. Die Ostdeutschen danken es ihm: Dort hätten ihn unter den vorgeschlagenen Kandidaten gerne 22 Prozent, im Westen sind es nur 10.

Spahn hatte bis zum Finale um den Parteivorsitz im Dezember 2018 gegenüber Merkels Politik kein Blatt vor den Mund genommen. Doch seit seiner Niederlage gegen Merz und AKK im Kampf um den Parteivorsitz und dem Eintritt in die Regierung scheint der Mann aus dem Münsterland geläutert. Öffentliche „Nackenschläge“ innerhalb der Partei brächten nichts, gibt er auf dem Deutschlandtag dem Parteinachwuchs zu bedenken, stattdessen müsse man Verantwortung übernehmen. Von der Jungen Union bekommt er dafür kaum Applaus. Vielleicht ist es die falsche Botschaft zur falschen Zeit am falschen Ort. Aber es zeichnet ihn in diesem Moment aus, dass er nicht den leichten Weg wählt. Die anderen schimpfen unter Applaus über das verkommene Berlin, Spahn referiert über Masernimpfung. Spahn, der Macher. Aber Spahn, der Kanzlerkandidat?

Aller Chuzpe zum Trotz

In der Disziplin Mut sucht der 39-Jährige CDU-weit seinesgleichen: Gegen den Willen Merkels erkämpfte er sich 2014 einen Platz im CDU-Präsidium. In dieser Position bot er als Einziger der Kanzlerin die Stirn in der Flüchtlingspolitik. Und wieder gegen den klaren Willen Merkels setzte er auf dem Parteitag 2016 einen Beschluss zur Verschärfung der Doppelpassregelung durch.

Aber aller Chuzpe zum Trotz: Geht man davon aus, dass die CDU an Merz nicht vorbeikommt – würde sich der Sauerländer dem Jung­spund Spahn im Kanzleramt unterordnen? Und dann ist da noch Spahns Homosexualität: Ob man es wahrhaben will oder nicht – in der CDU und ihrer klassischen Wählerschaft ist das noch immer ein Thema. Bei der nicht-klassischen Wählerschaft wäre es ein Pluspunkt. Gut möglich, dass die Union die Entscheidung über die K-Frage weit schneller treffen muss, als sie es gerne hätte.

Dünnes Eis

Die Chancen, dass die Sozialdemokraten auf ihrem Parteitag im Dezember, bei dem die beiden neuen Vorsitzenden offiziell gekürt werden, der Großen Koalition ein Ende setzen, stehen momentan fifty-fifty: Nur ein Sieg des Bewerberduos aus Vizekanzler Olaf Scholz und Klara Geywitz würde die Regierung mit ziemlicher Sicherheit retten. Die anderen Kandidaten schwanken. Würden die neu ernannten SPD-Chefs die Groko im Streit um die Bedarfsprüfung bei der Grundrente an die Wand fahren, der Beifall der Parteibasis wäre ihnen sicher.

In dieser Schwebesituation wird Annegret Kramp-Karrenbauer am 22. November in Leipzig den CDU-Parteitag eröffnen. Und alle werden sie da sein: Laschet, Spahn, Söder, Merz – und natürlich Merkel. Das Eis, auf dem AKK geht, ist dünn. Aber wird sich jemand nach vorne trauen, die offene Konfrontation suchen? Schwer vorstellbar in einer Partei, der allein schon das Wort „Rebellion“ zuwider ist. Eher möglich sind gezielte Nadelstiche, etwa bei der Abstimmung über eine Urwahl zur Kanzlerkandidatur. Den Antrag hatte die Junge Union gegen den ausdrücklichen Willen der Parteivorsitzenden beschlossen.

Leipzig wird in jedem Fall eine Vorentscheidung bringen: Gewinnt AKK mit einer gekonnten Rede frühere Unterstützer zurück? Dann ist das Rennen wieder offen. Aber was, wenn Merz einen starken Auftritt hinlegt, direkt nach ihrer Rede in der sogenannten „Aussprache“ – und wenn die Reaktion des Publikums ähnlich enthu­siastisch ist wie beim Deutschlandtag in Saarbrücken? Dann verlässt AKK den Parteitag im gleichen Zustand, wie sie ankam. Wie hatte der Kölner Wirt es gesagt? „Angeschossen.“

Mitarbeit Christoph Schwennicke

Dieser Text ist in der November-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

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