Moralisierung und Politisierung der Justiz - Nicht mehr recht, nur noch billig

Der Staat misstraut mehr und mehr seinen Bürgern. Moral und Emotionen gewinnen in der Gesellschaft die Oberhand. Doch das gefährdet die Grundlagen unseres Rechtsstaats und überfordert das Justizsystem.

Auf Kern­aufgaben wie den Schutz vor Kriminalität beschränkt sich der Staat schon längst nicht mehr / Nikita Teryoshin
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Jens Gnisa ist Direktor des Amtsgerichts Bielefeld. Er war bis 2019 Vorsitzender des Deutschen Richterbunds.

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Wenn von der Krise unseres Rechtssystems die Rede ist, dann wird oft über zu lange Verfahren, zu lasche Urteile oder verstaubte Gerichtssäle gesprochen. Doch das sind nur vordergründige Probleme. Die Krise geht viel tiefer und ist besorgniserregend, sie rührt an die Grundfesten unseres Gemeinwesens, sie betrifft die Politik und jeden einzelnen Bürger. In drei Dimensionen zeigen sich die Probleme: Unsere Justiz wird vergiftet durch schleichende Politisierung, gefährliche Moralisierung und falsche Emotionalisierung. Ihre stabilisierende Funktion kann sie so nicht dauerhaft wahrnehmen. 

Die Protestaktionen der „Letzten Generation“ sind ein gutes Beispiel. Sie haben eine große öffentliche Wirkung, sie sorgen für Wut und Ärger bei einzelnen Autofahrern, sie lösen mediale Berichterstattung aus, sie erhitzen die politischen Diskurse. Und sie beschäftigen die Justiz. Und hier zeigt sich, in welche Krise unser Rechtssystem geraten ist. 

Die Axt am Fundament unseres Rechts

Denn was tun diese Aktivisten, wenn sie Straßen blockieren, den Flugverkehr lahmlegen oder Geschäftsräume mit oranger Farbe demolieren? Begehen sie Straftaten oder etwa berechtigte politische Aktionen? Längst ist die Justiz in die Klemme dieser öffentlichen Debatte geraten. Die einen versuchen Druck aufzubauen, um mehr Härte von den Gerichten zu verlangen. Die anderen stellen demgegenüber die Justiz als willfährigen verlängerten Arm der Politik dar. So geschehen, nachdem einige Staatsanwaltschaften für die „Letzte Generation“ den Anfangsverdacht einer kriminellen Vereinigung bejaht hatten und Hausdurchsuchungen durchgeführt wurden

Diese aktivistische Gruppierung arbeitet ganz bewusst mit der Denkfigur des zivilen Ungehorsams, der im Sinn eines höheren Zieles – dem Klimaschutz – notwendig sei. Diese Argumentation findet sogar Verständnis wie jüngst auf dem Evangelischen Kirchentag in Nürnberg. Dabei wird allerdings übergangen, dass für die Definition, welche Ziele mit welchen Mitteln zu erreichen sind, in unserem demokratischen Rechtsstaat verbindlich nur Regierung und Parlamente zuständig sind. Dorthin gehört die politische Debatte, nicht in die Gerichtssäle. Gerichte sollen nicht besonders hart oder besonders milde urteilen, sondern schlicht neutral dem Gesetz verpflichtet, „blind“, wie es das alte Bild der Justitia veranschaulicht.

In der Debatte um die „Letzte Generation“ wird ein Unterschied aufgemacht zwischen legal und legitim. Man könnte das vielleicht übersetzen mit: zwar verboten, aber irgendwie richtig. Doch damit legen wir die Axt an unsere fundamentale Auffassung von der allgemeinen Geltung des Rechts, die mindestens zur Aufklärung, vielleicht 2000 Jahre bis zum römischen Recht zurückreicht. Den Gegensatz von Legitimität und Legalität zu beschwören, bedeutet nichts anderes, als dass Moral über Recht gestellt und dadurch das Justizsystem politisiert wird. Ausgehend von diesem politisch aufgeladenen Klima können Richter und Staatsanwälte gar nicht mehr wirklich befrieden, denn jede Seite wird die Entscheidungen sofort in ihrem Sinn interpretieren. 

Der Missbrauch des Gerichtssaals

Eine Moralisierung und damit die Politisierung des Rechts und dem folgend des Justizsystems ist schon länger zu beobachten. Angefangen von einer Kanzlerin, die es für unmöglich hielt, Grenzen zu schützen und damit verfassungsrechtlich verbürgte Staatlichkeit preisgab, bis hin zur Drogenpolitik, die nicht mehr den Anspruch hat, dem Legalitätsprinzip entsprechend jede Straftat zu verfolgen, sondern sich teils auf einen Beobachtungsstatus zurückzieht. All dies hat auch mit moralischen Effekten zu tun, die das Recht überlagern: In beiden genannten Beispielen war es das Bedürfnis, helfen zu wollen und menschlich zu handeln. 

Straftäter, die höhere Ziele verfolgen möchten, wehren sich denn auch immer wieder mit dem Argument, sie würden „kriminalisiert“. Der Fall der vom Oberlandesgericht Dresden verurteilten Lina E. ist dafür ein weiteres Beispiel, in dem genau dieses Argument gebracht und sogar von der Verteidigung als Narrativ im Prozess dargestellt wurde. Das moralische Ziel „Kampf gegen rechts“ soll plötzlich den klaren Rechtsbefehl, andere Menschen nicht zu verletzen, überlagern. Dabei werden die staatlichen Institutionen bewusst delegitimiert: Diesen Kampf gegen rechts führten Polizei und Justiz eben nicht ausreichend, sodass – gewissermaßen im Rahmen der Selbsthilfe – gehandelt werden müsse. 

Verboten und doch richtig? Die Aktionen der „Letzten Generation“ zermürben
die Grundsätze unseres Rechtssystems / Rafael Heygster

Ähnlich argumentieren Rechtsradikale, nur die Ziele sind andere, der Weg ganz ähnlich. Der Gerichtssaal wird so als verlängerter Arm des politischen Meinungskampfs missbraucht. Das Recht wird weiter aufgeweicht, wenn etwa behauptet wird, bestimmte Gesetze seien von einer starken Lobby diktiert oder unter dem Einfluss von NGOs gefasst worden. Dies alles ist für ein auf Neutralität fußendes Gerichtswesen pures Gift. In einem Rechtsstaat können rein moralische Aspekte im Gerichtssaal keine Relevanz haben.

Der Gedanke des Grundgesetzes

Eine weitere Kräfteverschiebung ist zu beobachten, die auf eine drastische Änderung der Rechtskultur durch eine falsche Politisierung hinausläuft. Auf der einen Seite haben wir die Vorstellung von einem Rechtsgefüge, das die Freiheit schützende Garantie des Staates ausdrückt. Und auf der anderen Seite die Steuerungsfunktion von Gesetzen zur Umsetzung eines politischen Willens, also die Vorstellung, dass Gesetze den Zugriff des Staates ermöglichen und regeln. 

Zwei klare Beispiele belegen das wachsende Übergewicht der zweiten Vorstellung: die Gesetzgebung während der Corona-Zeit und die Heizungspläne der Ampelregierung. Die Bürger werden in beiden Debatten eher als Gefahr für ein übergeordnetes Ziel angesehen, deren Verhalten in den Griff gebracht werden muss. 

 

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Das Bild unseres Grundgesetzes, ausgehend von der Philosophie Kants, Fichtes und Hegels, ist ein ganz anderes. War der Mensch noch im 18. Jahrhundert Teil einer göttlichen Weltordnung, in der er selbst nur wenig steuern konnte, wurde in der Philosophie der Aufklärung der freie Wille des einzelnen Menschen entdeckt und auf dieser Basis zum grundlegenden Prinzip unserer Rechtsordnung gemacht. Diesen freien Willen galt es in der geschaffenen liberalen Rechtsordnung vor einem übergriffigen Staat zu schützen. 

Der gängelnde und gleichgültige Rechtsstaat

Schon durch die in der Vergangenheit zu beobachtende Rechtsverdichtung wurde dieser Freiheitsraum allerdings immer mehr eingeschränkt, was in der Corona-Zeit eine für die Bundesrepublik einmalige Ausprägung erfuhr. Kleinteiligst wurde etwa geregelt, wer mit welchem Verwandtschaftsgrad wann wen besuchen durfte. Das war das Gegenteil der unserem Grundgesetz zugrunde liegenden Idee des eigenverantwortlich handelnden Bürgers. 

Wer glaubte, dass es sich dabei um eine einmalige Ausnahmeerscheinung in Ansehung einer Pandemie gehandelt hätte, sieht sich enttäuscht. Der Staat scheint gelernt zu haben und verfolgt die Dinge wie nach einer Blaupause bis ins Kleinste regelnd nun auch bei anderen Themen. So wurde bei der Heizungsfrage das Handeln der Bürger, denen in der Tendenz Uneinsichtigkeit unterstellt wird, als Gefahr für das übergeordnete Ziel „Klima“ ausgemacht. Ich fürchte, es wird so weitergehen. 

Sicher, schon seit jeher hat das Recht in einem Staat auch Ordnungs- und Regelungscharakter. Dies muss jedoch zu den gewährten Freiheiten in einem ausgewogenen Verhältnis stehen, was gerade kippt. Während sich viele Bürger gegängelt fühlen, erleben sie andererseits, dass der Staat seinem Sicherheitsversprechen kaum noch gewachsen ist. Trotz aller Pläne der EU ist es noch ein steiniger Weg, bis die Grenzen wieder geschützt sind; Straßenkämpfe rivalisierender Clans bekommt der Staat nur mit größter Mühe in den Griff, und die „Letzte Generation“ macht munter weiter. Die Sicherheitsorgane wirken teils überfordert.

Das Corona-Gerechtigkeits-Problem

Das Misstrauen des Staates seinen Bürgern gegenüber führt in der Tendenz zu überbordendem Recht. Mehr Tempo-30-Zonen zum besseren Schutz des Klimas, Regelungen zur Kaminnutzung gegen Feinstaub, detaillierte Vorschriften, welches Pflanzenschutzmittel Landwirte ausbringen dürfen, ja sogar selbst gezüchtetes Gemüse darf in Altenheimen nicht ohne Weiteres auf den Tisch kommen. Selbstverständlich fast alles bußgeldbewehrt und damit von der Justiz im Amtsermittlungsgrundsatz aufzuarbeiten. 

Wie sehr der Staat seinen Bürgern mittlerweile misstraut, wird auch bei der Korrektur von eindeutig als falsch erkannten Gesetzen deutlich. Offen gab Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) im Februar zu, dass Kontaktbeschränkungen bei Spaziergängen an der frischen Luft etwa in Form von Maskentragen oder dem Abriegeln von Kinderspielplätzen falsch gewesen seien. So wohltuend diese Selbstkritik war, sie ist zu kurz gedacht. Denn die Richterschaft muss derzeit noch zu Tausenden gerade solche Verfahren bearbeiten, in denen es zu Bußgeldern gekommen ist. 

Kampf gegen den Staat: Linksextremisten
protestieren in Leipzig gegen Gerichtsurteile / dpa

Was sollen wir jetzt den Beschuldigten im Gerichtssaal sagen? Das Gesetz galt, also sind Sie zu Recht bestraft worden? Wird das die Bürger überzeugen, wenn es nun inhaltlich als falsch erkannt wurde? Stellt man das Verfahren aber ein, hat man das nächste Gerechtigkeitsproblem, und zwar gegenüber den Menschen, die keinen Einspruch eingelegt haben. 

Das Recht wird zu komplex

In dieser Situation sollte die Politik über eine Amnestie nachdenken. Das geschieht aber schon deshalb nicht, weil man offenbar die Befürchtung hat, man würde dann nachträglich den „Corona­-Leugnern“ recht geben. Dabei wäre eine Amnestie ein starkes Zeichen für Versöhnung und ein erster Schritt wieder in Richtung mehr gesellschaftlichen Zusammenhalts. 

So werden die Stricke vom Recht immer enger gezogen. Viele Bürger und Unternehmen kommen sich durch das verdichtete Recht mittlerweile vor wie Gulliver am Strand. Die Folge: Enttäuschung, Erlahmung von Eigeninitiative, Zerstörung von Unternehmergeist. Und es kommt eben auch zur Überforderung der Justiz, die der Vielzahl von Vorschriften nur noch hinterherhetzt. Internationale Effekte treiben die Regelungsdichte weiter voran.

Man schaue nur in unser Bürgerliches Gesetzbuch, in dem ausgehend von der EU kleinteilig die verschiedensten Vertragssituationen geregelt und dadurch Grundprinzipien verschüttet werden. Selbst die meisten Juristen kennen sich nicht mehr im Kaufrecht aus. Wie sollen die Bürger den Überblick behalten? In dem Roland-Rechtsreport, der die Einstellungen zur Justiz abgefragt hat, beklagen 61 Prozent der Bürger zu komplizierte Gesetze und 77 Prozent zu lange Verfahrensdauern.

Wenn Wut zur Kategorie wird

Doch neben Moralisierung und Politisierung gibt es noch eine Dimension der Krise, die diesmal vonseiten der Bürger selbst ausgeht: die zunehmende Emotionalisierung. Als Amtsgerichtsdirektor kenne ich mich mit Konflikten aus. Diese zu schlichten oder Unrecht zu bestrafen, ist meine Aufgabe. Doch über die Jahrzehnte, die ich meinem Beruf nun nachgehe, beobachte ich schleichend diese Veränderung auch in der Mentalität der Menschen. 

Inzwischen erhalte ich regelmäßig Zuschriften enttäuschter Bürger über einzelne Entscheidungen, die mit den Sätzen enden: „Ich bin darüber sehr wütend, bitte handeln Sie.“ Plötzlich sind es Wut und Enttäuschung, Beleidigung und Empörung, denen eine rechtliche Relevanz zukommen soll. Die juristische Welt ist eine andere. Hier gelten Emotionen noch immer als störend, den Blick auf ein vernünftiges Ergebnis verstellend. 

Der Historiker Yuval Harari hat dies in seinem Buch „Homo Deus“ beschrieben. Der Humanismus habe uns beigebracht, dass etwas nur dann schlecht sein könne, wenn es dafür sorgt, dass jemand sich schlecht fühlt. Ein Mensch könne demnach nur dann glücklich sein, wenn er mit seinen Gefühlen im Einklang stehen würde. Diese Verabsolutierung des Gefühls erstrecke sich auch auf gesellschaftliche und politische Prozesse. 

Weg vom Recht, hin zum Gefühl

Die gesamte Ausbildung der Juristen ist darauf ausgerichtet, möglichst emotionsfrei zu entscheiden. Doch das scheint von gestern – mit fatalen Folgen. Zunächst ist die Akzeptanz von Gerichtsentscheidungen, die eben nicht den Erwartungen entsprechen, gesunken. Lösen sie Enttäuschung aus, dann hat das Gericht eben die Dinge nicht verstanden, der Anwalt hat falsch vorgetragen oder die Richter waren befangen. Sie suchen dann im Netz nach Verbündeten und werden dort garantiert fündig, bestärken sich gegenseitig in ihren Meinungen. 

Auf gesellschaftlicher Ebene befinden wir uns im Zustand der Daueraufregung. Weder politische noch juristische Entscheidungen vermögen noch zu befrieden. Dabei sind sie auf Akzeptanz des unterlegenen Teiles angelegt. Wenn die innere Gefühlswelt aber mit der Entscheidung nicht einverstanden ist und sie als ungerecht empfunden wird, fügt man sich nicht mehr, sondern macht nun weiter über Kampagnen oder Bürgerinitiativen im politischen Raum oder indem man eine strukturelle Unterlegenheit im Gerichtssaal behauptet. 

Als Beispiel können hier Umgangs- und Sorgerechtsverfahren genannt werden. Vätervereinigungen haben sich gegründet, die eine solche strukturelle Benachteiligung der Väter behaupten. In Mediationsausbildungen lernt man nun als Richter damit umzugehen und seinerseits in Ich-Botschaften zu sprechen, also auf der Gefühlsebene. Auch der Gesetzgeber selbst stellt um. Weg vom liberalen Rechtsstaat, hin zu einem Staat, der die Gefühlswelt der Bürger ins Zentrum der Politik stellt. 

Die Krux der „Wohlfühlgesetze“

Die Mehrheit seiner Bürger verliert der Staat dabei aus dem Blick und konzentriert sich auf Minderheiten, denen er sich als Schutzmacht zur Seite stellt. Struktureller Rassismus wird in der Gesellschaft ausgemacht – das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz geschaffen und immer weiter ausgefeilt. So musste beispielsweise die Deutsche Bahn einer nichtbinären Trans*person aus Berlin nach einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt eine Entschädigung von 1000 Euro wegen Diskriminierung bei der Online-Registrierung zahlen. Es gab keine passende Form, in der sie angesprochen wurde. 

Menschen, die mit ihrem Geschlechtseintrag nicht zufrieden sind, können diesen bald problemlos wechseln. Nicht einmal, sondern jährlich, also nahezu schrankenlos. Anders als in der Schweiz ist nicht mal bei Missbrauchsverdacht eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen. 

Auch das Namensrecht soll sehr weitgehend liberalisiert werden. Es ist der typische Fall eines gut gemeinten „Wohlfühlgesetzes“, das es allen recht machen will. Um möglichst das Selbstbestimmungsrecht der Menschen nicht einzuschränken, wird die Bildung von Doppelnamen sehr weitgehend zugelassen. Das ist aber nur eine Scheinlösung, denn das Ergebnis des Wohlfühlens gilt nur für eine Generation. Da Mehrfachnamen – glücklicherweise – vermieden werden sollen, wird die kommende, Doppelnamen führende Generation auf Namensbestandteile verzichten müssen. Dann werden wir es erneut mit Prozessen zu tun bekommen, in denen dies als Ungerechtigkeit angegriffen werden wird. Auch diese nahezu letzte Schranke des Namensrechts wird fallen. 

Das Recht als Interessenvertretung

Wie schreibt Harari weiter: „Mit jedem Jahr, das vergeht, nimmt unsere Toleranz gegenüber unangenehmen Empfindungen ab.“ Das ist eine fatale Botschaft für Gerichte, deren Kernaufgabe es ja eben ist, solche unangenehmen Entscheidungen zu treffen. Andererseits empfinden sehr viele Bürger dies alles wiederum als Auflösungserscheinung unserer Rechtsordnung, die sich nicht auf die Kern­aufgaben wie etwa Schutz vor Kriminalität konzentriere. Die zur Umsetzung berufenen Gerichte werden dafür – wie in dem benannten Bahn-Fall – verantwortlich gemacht und in sozialen Netzwerken mit Häme überzogen.

Im Ergebnis verschiebt sich die Konfliktlösung im Zivilrecht weg vom konsequenten Recht hin zur weicheren Billigkeit, deren Lösungen flexibler auf die menschlichen Bedürfnisse einzugehen vermögen. Auch nach meiner langjährigen Erfahrung als Richter hat das Recht an Boden verloren. War es früher das zentrale Instrument, um Gerechtigkeit herzustellen, so geht es heute weniger um Gerechtigkeit als um die Durchsetzung von Interessen – und hier sind etwa außergerichtliche Streitbeilegungsinstrumente oder Kulanzregelungen oft effektiver.

Zwischen diesem ausufernden Wohlfahrtsstaat und der allgemeinen Emotionalisierung unserer Gesellschaft gibt es einen Zusammenhang. In einem liberalen Rechtsstaat ist es das Ziel des Staates, reale Gefahren von den Bürgern abzuwehren. Diese bewertet er nach Wahrscheinlichkeitsgrad und Bedeutung des gefährdeten Rechtsguts. Der Staat muss abwägen.

Im Zeitalter der Moral

Es gilt der Dreiklang: Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit. Dieses Modell existiert noch, wird aber immer mehr von dem emotionalen Modell überlagert, das nicht Freiheit, sondern ein Einschreiten des Staates fordert. Die Gefahren werden immer weniger objektiv eingeordnet, weil das Gefühl bedient werden muss. In diesem System ist es logisch, dass das stärkste Gefühl die Oberhand gewinnt: Angst. Bürger reagieren mehr als früher auf Gefahren verstärkt mit Angst, die dann häufig nur Maximalforderungen bei der Absicherung kennt. Angst vor dem Kipppunkt beim Klima, Angst vor einer Corona-­Infektion, vor Altersarmut oder zivilrechtlicher Haftung führen teils zu bizarren Folgen und wiederum mehr Bürokratie. 

Mit der Schwächung des Rechtssystems gerät die Justiz aus dem Blickfeld der Politik und Gesellschaft, die nur noch Einzelfälle skandalisiert, aber die großen Linien nicht erkennt. Was ist also zu tun? Die gesellschaftlichen Voraussetzungen, von denen das Recht abhängig ist, haben sich geändert. Wir leben im Zeitalter der Moral, der Gefühle und Emotionen. Das Recht mit seinem Anspruch, strikt sachorientiert zu entscheiden, gerät unter diesen Voraussetzungen unter Druck. Dessen Sachwalter, die Justiz, wird durch die Politisierung der Verfahren ihrerseits oft in die politischen Auseinandersetzungen hineingezogen und zur Zielscheibe. Während ich diese Zeilen schreibe, kündigt ein empörter Bürger an, mich jetzt „zu Hause zu besuchen“.

Politik reagiert auf diese Veränderungen, um Zustimmungswerte nicht zu gefährden. Nicht der freie Bürger, der eigenverantwortlich handelt, ist das Wertemodell. Der Staat richtet vielmehr sein Handeln an höheren Zielen wie Klima, Pandemie oder der Menschlichkeit aus. Die Bürger, denen tendenziell egoistische Motive unterstellt werden, können da nur stören. Ihnen wird grundsätzlich misstraut. Der Staat versucht, sie enger rechtlich zu steuern.

Das gähnend langsame Recht

Ohne dass dies angesprochen wird, ist dies alles eine Änderung der Staatsphilosophie – weg vom liberalen Rechtsstaat, der Freiräume für Bürger schafft, in denen sie eigenverantwortlich handeln können, hin zum Wohlfahrtsstaat, der diese Freiräume als Gefahr für seine Ziele, eine bessere Welt zu schaffen, ansieht. Die Gesellschaft muss sich entscheiden, ob sie diesen Richtungswechsel will. Dazu muss endlich eine transparente rechtspolitische Diskussion geführt werden. 

Die Justiz ihrerseits muss grundlegende Schwachstellen analysieren. Zentral zu nennen ist das Strafrecht, bei dem gerichtliche Entscheidungen besonders massiv kritisiert werden. Als einer der Gründe für Verschleißerscheinungen kann das Revisionsrecht gegen Strafurteile des Landgerichts ausgemacht werden. Hier stimmt etwas im Kern nicht mehr. Und das hat Auswirkungen, denn 77 Prozent der Bürger halten die Verfahrensdauern zu Recht für viel zu lang. Gegen Strafurteile des Landgerichts ist nur die Revision zulässig; es gibt keine zweite Tatsacheninstanz. Das Urteil ist demnach aufzuheben, wenn nur ein einziger Rechtsfehler vorliegt, auf dem es beruht.

Der Bundesgerichtshof ist zwar mit Urteilsaufhebungen sehr zurückhaltend – die Aufhebungsquote liegt unter 20 Prozent. Trotzdem prägt das Prinzip Fehlervermeidung die Gerichtsverfahren. Dies führt zu längeren und komplizierteren Verfahren. Die Verteidigung ihrerseits versucht sehr häufig nicht im Verfahren Fehler zu verhindern, sondern sie sogar zu provozieren, um die Revision vorzubereiten. Anstatt das Rechtsmittelsystem zu überdenken, soll nun das gesamte landgerichtliche Strafverfahren aufgezeichnet werden, was die Dinge weiter komplizieren wird. Es wird hier in Mosaiksteinen gedacht, nicht in ganzen Bildern. Hier besteht dringender Reformbedarf im Rechtsmittelrecht.

Es gibt keine Alternative zum liberalen Rechtsstaat

Die Justiz könnte auch wieder an Boden gewinnen, wenn die Strafe vermehrt auf dem Fuße folgen würde. Hier bietet die Strafprozessordnung mit dem beschleunigten Verfahren ein Instrument, das etwa bei angekündigten Straftaten wie denen der „Letzten Generation“, rivalisierender Fangruppen im Fußball oder Clankonflikten eingesetzt werden könnte. Gegen Kriminalität von Ausländern wäre es auch ein scharfes Schwert, als Nebenfolge zur Strafe den Verfall aller Aufenthaltstitel anordnen zu können. 

Auch technisch muss die Justiz endlich in die Lage versetzt werden, schnellere Prozesse durch moderne Technik führen zu können. So könnten mit der Einführung der elektronischen Akte etwa Gericht und Staatsanwaltschaft gleichzeitig in den Akten arbeiten, und der Verteidigung könnte parallel Akteneinsicht gewährt werden. Doch es hakt wieder. Damit alle Länder auf den gleichen Standard kommen, bräuchte die Justiz einen Digitalpakt, der vom Bund mit rund einer Milliarde Euro ausgestattet wird, doch man spart wieder. So werden wir das Wettrennen um das Vertrauen der Bürger verlieren. Im Zivilrecht werden Billigkeitsentscheidungen Recht verdrängen; im Strafrecht Kriminelle weiter auf eine Justiz im Schlafwagen setzen. 

Ich bin der festen Überzeugung: Zum liberalen Rechtsstaat gibt es keine Alternative. Moral und Emotionen können keine befriedigenden Entscheidungsmaßstäbe bilden. Dies spüren die Bürger und machen sich große Sorgen über den gesellschaftlichen Zusammenhalt in einem Staat, der Auflösungserscheinungen zeigt und in Parallelgesellschaften zerfasert. Die Lösung liegt in der Stärkung unseres Rechts als einzig verbliebenem starkem Bindeglied. Dazu brauchen wir jetzt für die Ausstattung der Justiz, aber vor allem in den Köpfen einen Aufbruch.

 

Dieser Text stammt aus der September-Ausgabe von Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

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